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Fällt das Auto in Schweizer Städten in Ungnade?

Auto-arme Siedlung "Giesserei Winterthur": Den Bewohnern und Besuchern der 150 Wohnungen und 12 gewerblichen und kulturellen Einrichtungen stehen nur 49 Parkplätze zur Verfügung. Jürg Altwegg/Giesserei Winterthur

Der internationale Autosalon in Genf ist jedes Jahr ein enormer Publikumserfolg. Doch diese Begeisterung überdeckt eine andere Realität: In den grossen Städten des Landes nimmt der Autobesitz ab, und Überbauungen ohne Parkplätze erhalten Rückenwind.

Rund 700’000 Besuchende werden am 85. Genfer Autosalon noch bis Ende Woche erwartet. Für Fans von lauten Motoren und schöner Mechanik ist die Veranstaltung jeweils das Ereignis des Jahres.

Doch seit 2013 nimmt die Zahl der neu immatrikulierten Autos in der Schweiz abExterner Link. Diese Tendenz ist auch auf dem Occasionsmarkt festzustellen, wenn auch nicht so ausgeprägt.

Personenwagen in der Schweiz

Nach einem Anstieg der Neuimmatrikulationen von Personenwagen bis 2012 auf 328’000 hat diese Zahl 2013 auf 302’000 abgenommen. Dies zeigen Zahlen von «Auto-Schweiz», einem Verband, der 33 offizielle Automobil-Importeure in der Schweiz und in Liechtenstein vertritt.

Die Anzahl Occasionen hat im ersten Trimester 2014 zwar noch zugenommen, ist dann aber zurückgegangen: Die Statistiken der folgenden Trimester verzeichneten deutlich negative Wachstumsraten.

Sinkende Zahlen sind natürlich ungünstig für einen Sektor, der von sich behauptet, «mehr als doppelt so viele Personen wie zum Beispiel die Pharmaindustrie» zu beschäftigen. Der Auto Gewerbe Verband Schweiz (AGVS) präzisiert: «Jeder achte Arbeitsplatz in der Schweiz hängt direkt oder indirekt vom Auto ab.» Die Schwankungen bei den Verkäufen seien allerdings auf die Konjunktur zurückzuführen, so der Verband. Langfristig erwartet er eher eine Stabilisierung.

Laut AGVS waren 2013 in der Schweiz 4,32 Millionen Personenwagen im Verkehr, das heisst, etwas weniger als ein Auto auf zwei Personen. «Damit stellt die Schweiz eines der am stärksten motorisierten Länder Europas dar», und dies trotz eines «überdurchschnittlich gut ausgebauten» öffentlichen Verkehrsnetzes.

Ein europäischer Vergleich von der europäischen Statistik-Behörde Eurostat bestätigt diesen Befund: 2012 belegte die Schweiz bei der Anzahl Fahrzeuge auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner den 6. Rang.

Böse Zungen mögen einwenden, «man tröstet sich, wie man kann». Denn andere Indikatoren sind für das traditionelle Auto weit alarmierender, auch wenn dieses noch nie so wenig kostete. So stagniert in der Schweiz die Anzahl der im Auto gefahrenen Kilometer, während die im öffentlichen Verkehr zurückgelegten Strecken zwischen 1994 und 2010 um 67% zugenommen haben.

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Einer von zwei Haushalten

Kommt dazu, dass heute einer von fünf Haushalten (20,8%) kein Auto oder keines mehr besitzt, Tendenz steigend. In Basel, Bern, Lausanne und Genf hat die Zahl der autolosen Haushalte zwischen 2000 und 2010 um 10% zugenommen. In Basel und Bern übersteigt sie sogar die 50%-Marke.

«Die Stabilität der Autobesitz-Rate auf nationaler Ebene und die Abnahme in den grossen Städten haben verschiedene Gründe», sagt Vincent KaufmannExterner Link, Professor für Stadtsoziologie und Mobilitätsanalyse an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). «Einer davon ist der so genannte ‹Bahn-Effekt› und der Ausbau der Angebote im öffentlichen Verkehr in den städtischen Gebieten.»

Die anderen Gründe sind laut Kaufmann struktureller und demografischer Art. «In den Städten leben immer mehr Menschen allein. Grosse Familien, die noch sehr motorisiert sind, leben immer häufiger in der Peripherie. Ein anderer Faktor ist die Überalterung. Bei Menschen über 80 Jahren nimmt der Autobesitz stark ab.»

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Diese Rate nimmt aber auch bei jungen Menschen ab, logischerweise aber aus anderen Gründen: «Menschen unter 35 träumen nicht mehr von einem Auto», sagt der Soziologe. «Es wurde durch das Internet ersetzt. Für die Jungen sind eher Online-Spiele symbolisch ein Synonym für eine Flucht. Ausserdem wollen sie ständig Textnachrichten schreiben können, was man am Steuer nicht kann.»

Auch hier zeigt ein Blick in die Statistik die Tendenz auf: Der Anteil jener Personen zwischen 18 und 24 Jahren, die einen Fahrausweis besitzen, ist zwischen 1994 und 2010 von 71 auf 59% gefallen.

Samuel Bernhard, Projektleiter der «Plattform autofrei/autoarm WohnenExterner Link«, auf der Beispiele für autofreies Wohnen oder Bauen mit eingeschränkten Parkplatz-Möglichkeiten gezeigt werden, bestätigt diese Tendenz. «Für die Jungen ist das neuste Smartphone-Modell heute wichtiger als das Auto.»

Das Auto sei nicht mehr das Instrument, um «den Status seines Besitzers in der Gesellschaft zu etablieren», sagt der Spezialist, der auch Mitarbeiter des Verkehrs-Clubs der SchweizExterner Link (VCS) ist. «Besonders bei Personen mit guter Ausbildung und hohem Lohn nimmt dieser soziale Druck ab. Stadtbewohner sind pragmatisch, um nicht zu sagen opportunistisch. Sie fragen sich, was praktischer ist. Und das ist häufig der öffentliche Verkehr.»

Veraltete Gesetze

Im Gegensatz zur Abnahme des Autobesitzes in städtischen Haushalten verlangt die Mehrzahl der Schweizer Kantone und Gemeinden, dass Bauherren bei neuen Gebäuden auch Parkplätze erstellen. Diese Regelungen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg erlassen, um ein Chaos im öffentlichen Raum zu verhindern, weil die Anzahl der Autos sehr rasch zunahm.

Heute stört diese Verpflichtung gewisse Investoren, rein aus wirtschaftlichen Gründen. Beim Bau eines Einstellhallen-Parkplatzes müsse «mit Kosten von mindestens 30’000 Franken pro Parkplatz gerechnet werden», heisst es auf der Website der «Plattform autofrei/autoarm Wohnen». «Bei einem absehbaren Leerstand wird dieser Betrag schnell zu einem finanziellen Risiko für die Investoren, bzw. er wird einfach auf die Wohnungsmieten abgewälzt.» Mit der Folge: «Autofreie Mieter und Mieterinnen bezahlen für Mieter mit Auto die von ihnen nicht benutzten Parkplätze mit.»

Teure Parkplätze

Laut der «Plattform autofrei/autoarm Wohnen» zeigte eine Untersuchung von 2010 in Zürich, dass Privatparkplätze in Garagen zwischen 80 und 170 Franken pro Monat kosteten.

Wenn man von Erstellungskosten zwischen 30’000 und 60’000 pro Abstellplatz ausgeht, müssten die monatlichen Mietkosten bei einer Bruttorendite von 6% (inkl. Unterhalt) zwischen 180 und 360 Franken betragen.

«Daraus folgt, dass mit den Mietpreisen die Kosten nicht gedeckt werden können und folglich eine systematische Quersubventionierung von Wohnparkplätzen stattfindet», heisst es auf der Website der Plattform.

Eine Anzahl Kantone und Gemeinden sind daran, ihre Gesetzgebung den neuen Realitäten anzupassen. Nach dem Kanton Bern hat die Stadt Baden (Kanton Aargau) eine überarbeitete Regelung in diesem Sinn umgesetzt. Eine Gesetzesänderung wurde auch in der Stadt Zürich angenommen, der Kanton hat aber die Ampel noch nicht auf Grün geschaltet.

Wenn es gesetzlich möglich sei, hätten Projekte ohne oder mit minimalem Parkplatz-Angebot gute Chancen. «Ich würde sogar sagen, die Anzahl der Projekte ist gegenwärtig am explodieren», sagt Bernhard.

Autobesitz verboten

So wurde etwa m August 2014 im Zentrum der Stadt Zürich ein neuer Gebäudekomplex eröffnet. Wer Mieter werden wollte, musste eine Erklärung unterschreiben, kein Auto zu besitzen.

Doch nicht alle halten sich an diese Regel. In einem ähnlichen Quartier ein Dutzend Kilometer ausserhalb Zürichs wurde letztes Jahr ein Vergehen aufgedeckt: Ein Mieter hatte sein Auto heimlich in der Nachbarschaft parkiert. «Tatsächlich hat diese Person ihren Vertrag schliesslich selbst gekündigt», sagt Bernhard. «Die Bewohner solcher Häuser erhalten jährlich einen Gutschein über 800 Franken für den öffentlichen Verkehr. Doch man muss die Regeln einhalten.»

Neben dieser Anekdote betrachtet Soziologe Kaufmann die Entwicklung mit einer gewissen Skepsis: «Diese grünen Quartiere oder Inseln und diese Genossenschaften sind Nischenmodelle. Ich bin gegen eine Generalisierung, welche die Familien zur Stadt hinauszwingen könnte. Zudem kann zu viel Härte kontraproduktiv sein. Eine gut funktionierende Gesellschaft braucht nicht derart strikte Regeln. Sonst führt das dazu, dass – wie in Genf geschehen – jemandem der Mietvertrag gekündigt wird, nur weil er seine Abfälle schlecht sortiert…»

An eine erneute Zunahme der Anzahl Neuwagen glaubt Kaufmann aber nicht. «Elektro-Autos werden vielleicht die Probleme der Umweltverschmutzung und des Lärms lösen, nicht aber Staus verhindern oder die Sicherheit verbessern», unterstreicht er.

Wie dem auch sei, die beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen von Zürich und Lausanne arbeiten gegenwärtig gemeinsam mit Forschern aus dem Tessin an einem mehrjährigen Projekt namens «Post Car World» («Die Welt nach dem Auto»). Dieses analysiert die Konsequenzen einer Gesellschaft ohne Automobile unter verschiedenen Aspekten, darunter auch wirtschaftliche und soziale. Die Resultate werden mit Spannung erwartet…

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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