Minenfelder der Information
Informationen sind eine mächtige Waffe. Das zeigt sich aktuell im Ukraine-Krieg. Fake News und Propaganda verbreiten sich wie ein Lauffeuer und haben echte Gewalt zur Folge. Fachleute erklären, was sich hinter dem Informationschaos verbirgt und wie man die Fakten sprechen lassen kann.
Wochen vor dem eigentlichen Krieg begann die Informationsschlacht: Das russische Staatsfernsehen behauptete, die ukrainischen Streitkräfte würden in den abtrünnigen Regionen Donezk und Luhansk einen Völkermord begehen. Um die Ukraine als Aggressor darzustellen, wurden gefälschte Videos von angeblichen Opfern in den sozialen Medien verbreitet.
Als dann die ersten Raketen einschlugen, lief die Desinformationskampagne auf Hochtouren. Pro-russische Konten streuten Falschmeldungen via die App TelegramExterner Link, etwa dass Präsident Selenski bereits aus dem Land geflohen sei. Und zehn Tage nach Kriegsbeginn verabschiedete der Kreml ein Gesetz über «Fake News», das Journalist:innen dazu zwingt, sich an staatliche Vorgaben zu halten.
«Die Taktik ist klar: Es soll eine Atmosphäre des Chaos und der Verwirrung geschaffen werden», sagt Emma Baumhofer, Digitalexpertin beim Friedensförderungs-Institut SwisspeaceExterner Link.
Propaganda ist ein wichtiges Element der Kriegsführung. Denn im Krieg geht es nicht nur darum, Schlachten zu gewinnen, sondern auch die Köpfe und Herzen der Menschen zu erobern. Und dank sozialer Medien, Internet und Smartphones können Kriegsparteien heute relativ einfach, schnell und mit grosser Reichweite Infos streuen.
«Indem sich Fehlinformationen rasch online verbreiten und danach ihren Weg in die Offline-Welt finden, entsteht ein komplexes Informationsumfeld», sagt Baumhofer. Dadurch sei es schwierig, Fakten von Fiktion zu unterscheiden.
Verschärfung der Krisen
Nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine setzt Propaganda ein. So nannten Beamte viel höhere Zahlen von gefallenen russischen Soldaten als die US-Geheimdienste oder der Kreml. Und sie führten angebliche Kriegsgefangene medienwirksam der Öffentlichkeit vorExterner Link.
Mehr
Newsletter
In jedem Krieg würden die Akteure ihre eigenen Erfolge hervorheben, um die Truppen zu motivieren, sagt Julia Hofstetter von der Schweizer Denkfabrik ForausExterner Link.
«In vielen Konflikten wird digitale Desinformation eingesetzt, um die eigene Bevölkerung zu mobilisieren, den Feind zu destabilisieren oder den Friedensprozess zu stören», sagt Hofstetter, die sich auf die Cyber-Dimension von Konflikten sowie die digitale Friedensförderung spezialisiert hat.
In einigen Fällen beteiligen sich auch Zivilpersonen, nichtstaatliche Akteure und sogar andere Regierungen am Informationskrieg. In der Ukraine veröffentlichten Bürgerinnen und Bürger Videos in den sozialen Medien, in denen mutmassliche Kriegsgefangene zu sehen waren. Freiwillige Hacker griffen russische Regierungswebseiten an, um der Propagandamaschine des Landes zu schaden.
Zudem sei bemerkenswert, ergänzt Baumhofer, dass die USA vor der Invasion eigene Geheimdienst-Informationen veröffentlichten, um die Wirkung der russischen Propaganda zu untergraben.
Die Einmischung in Konflikte im Ausland ist auch für Russland nichts Neues. Seit Jahren setze die Grossmacht Desinformations-Strategien an, um sich Vorteile in anderen Staaten zu verschaffen, sagt Baumhofer.
Ein Beispiel dafür sei die Zentralafrikanische Republik (ZAR). Forschende des United States Institute of Peace stellten festExterner Link, dass die Zunahme von Gewalt im Land nach den umstrittenen Wahlen im Jahr 2020 auf Fake News zurückzuführen war. Diese Desinformations-Kampagne sei «vermutlich aus Russland und Frankreich» gesteuert worden.
Russland wolle seinen Einfluss im Land vergrössern, sagt Nicolas Boissez, Kommunikationschef der Schweizer Nichtregierungs-Organisation Fondation Hirondelle. 2021 eskalierten die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen. Fake News seien in der angespannten Lage zu einem zentralen Faktor geworden, so Boissez.
Mit Fakten zurückschlagen
Die Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger in der Zentralafrikanischen Republik seien erheblich: Fake News verschärften die Sicherheitskrise und schwächten die Arbeit der Akteure, die sich für Frieden einsetzen, teilte die Fondation Hirondelle mitExterner Link.
Die in Lausanne ansässige NGO unterstützt seit über 25 Jahren unabhängige Medien und bildet Journalist:innen in Krisenregionen aus. Boissez ist überzeugt, dass faktenbasierter Journalismus zum Frieden beitragen kann. Ihre Arbeit in der Zentralafrikanischen Republik zeigt auch, das gegen Desinformation etwas unternommen werden kann.
«Der Kern unserer Arbeit ist es, die Menschen mit verständlichen Fakten zu versorgen», sagt Boissez. «Wir konzentrieren uns auf hilfreiche Informationen zu alltäglichen Problemen und Sorgen. So schaffen wir eine Vertrauensbasis.»
Vor zwei Jahren startete die NGO gemeinsam mit dem von ihr gegründeten Radio Ndeke LukaExterner Link (RNL) eine Kampagne zur Bekämpfung von Fake News. Eine Abteilung des Medienunternehmens kümmert sich seither nur um die Überprüfung von Fakten. Die Ergebnisse werden sowohl auf RNL als auch auf Partnersendern, im Internet und in den sozialen Medien ausgestrahlt. Inzwischen gilt der Sender als beliebtestes Medium des Landes.
Auch im Ukraine-Krieg spielt die Überprüfung von Informationen eine wichtige Rolle. Noch vor Beginn des russischen Einfalls entlarvten Journalist:innen und zivilgesellschaftliche Organisationen wie Bellingcat mit Hilfe von Open-Source-Online-Intelligence-Tools (OSINT) Bilder und Videos, die angebliche ukrainische Aggressionen zeigten. Auch der ukrainische Präsident veröffentlichte Videos, in denen er russische Behauptungen widerlegte.
«Um Fake News wirksam zu bekämpfen, ist aber mehr als Faktenkontrolle und Unterstützung unabhängiger Medien nötig», sagt Baumhofer. «Wir müssen ihnen den Nährboden entziehen.»
In der Zentralafrikanischen Republik lud die Fondation Hirondelle Meinungsführende wie Kunstschaffende zu öffentlichen Veranstaltungen ein, um das Bewusstsein für «Fake News» zu schärfen und zu zeigen, wie Menschen vermeiden können, selbst zu Agent:innen von Fehlinformationen zu werden.
Laut Glossar des gemeinnützigen Netzwerks First DraftExterner Link ist Desinformation eine Falschinformation, die absichtlich erstellt oder verbreitet wird, um Schaden anzurichten.
Fehlinformationen hingegen seien falsche Informationen, die versehentlich von Personen weitergegeben werden. Hier bestehe grundsätzlich keine Absicht, Schaden anzurichten.
Hofstetter und Baumhofer betonen die Wichtigkeit von Bildung, gerade im Bereich moderne Technologien und Digitalität. In Russland, wo der Kreml den Zugang zu Twitter und Facebook eingeschränkt hat, nutzen Hunderttausende von Menschen ein VPNExterner Link (virtuelles privates Netzwerk), um sich mit unabhängigen Informationen zu versorgen. «Die meisten Menschen wissen aber nicht, dass es so etwas gibt und wie es funktioniert», bedauert Baumhofer.
Druck auf Tech-Unternehmen
Soziale Medien wie Twitter und Facebook müssten zudem stärker in die Pflicht genommen werden, da sie bei der Verbreitung von «Fake News» eine grosse Rolle spielten. Im Ukraine-Krieg seien die Moderatorinnen und Moderatoren solcher Plattformen in höchster Alarmbereitschaft, sagt Hofstetter. Sie vermutet, dass dies mit dem grossen Interesse der Öffentlichkeit zusammenhängt.
Google, Twitter und Facebook sperrten die russischen Staatssender Russia Today und Sputnik kurz nach Beginn der Invasion. Die Sender dürfen nun auch in der EU ihre Inhalte nicht mehr ausstrahlen. Zudem sperrten oder löschten Twitter und Facebook viele Konten wegen Verstössen gegen die NutzungsbedingungenExterner Link.
«Dass die grossen Technologie-Konzerne so schnell reagierten, ist neu», sagt Hofstetter. Bisher hätten sie wenig getan, um während Konflikten Hassreden und Desinformation zu unterbinden. Der Ort des Geschehens spiele oft eine grosse Rolle: Wenn es kein grosser Zielmarkt sei, zögerten die Firmen, Ressourcen für die Überwachung von Inhalten zur Verfügung zu stellen.
In den schlimmsten Fällen führte die mangelnde Reaktion der Tech-Firmen zu tödlicher Gewalt. So stellte ein unabhängiger Bericht festExterner Link, dass Facebook ein perfekter Nährboden für die Verfolgungswelle gegen die Rohingya in Myanmar schuf: Hassreden gegen die Gemeinschaft konnten sich unkontrolliert auf der Plattform ausbreiten und hatten reale Gewalt zur Folge.
«Solche Plattformen tragen aufgrund ihres Aufbaus wirklich zu Konflikten bei», so Baumhofer. «Sie neigen dazu, ungeheuerliches Verhalten und Wut zu belohnen, denn das ist es, was die meiste Aufmerksamkeit erregt.»
Die Nutzung digitaler Technologien zur Friedensförderung ist laut Julia Hofstetter von der Schweizer Denkfabrik Foraus ein aufkeimendes Feld: Zivilgesellschaftliche Gruppen nutzen Open-Source-Intelligence (OSINT), um Desinformationen zu entlarven, während Mediatorinnen und Mediatoren auf Crowdsourcing-Plattformen setzen, um die Friedensförderung inklusiver zu gestalten.
Das grösste Potenzial liege jedoch in der Befähigung von Gemeinschaften, indem Menschen mehr Möglichkeit erhalten, sich zu organisieren, Kriegsverbrechen zu dokumentieren und ihre Geschichten mit der internationalen Gemeinschaft zu teilen.
Gemäss Forschenden, welche die Verbrechen im Syrienkrieg aufarbeitenExterner Link, existiert inzwischen die Technologie, mit der von Nutzenden generiertes Material überprüft und für die künftige Verfolgung von Kriegsverbrechen archiviert werden kann.
Sie schlägt vor, dass professionelle Mediatoren mit den Plattformen zusammenarbeiten, «um sie zu friedlicheren Orten für Diskussionen zu machen». Die Websites müssten grundlegend verändert werden, so dass etwa Gemeinsamkeiten zwischen den Nutzenden stärker hervorgehoben werden als Unterschiede.
«Im Endeffekt müssen wir den Druck auf die Tech-Unternehmen aufrechterhalten», so Baumhofer. «Der Krieg in der Ukraine nicht das erste Mal, dass sie mit Desinformation in Kriegszeiten konfrontiert werden. Sie sollten inzwischen wissen, wie es läuft.»
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch