Job und Kinder: Wieso es für Schweizer Mütter hohe Hürden sind
Ein swissinfo.ch-Leser fragte, ob es zutreffe, dass Schweizer Frauen nicht mehr arbeiten und stattdessen zu Hause bleiben würden, wenn sie Kinder haben. Die Daten zeigen, dass dies heute nicht mehr der Fall ist. Frauen schultern aber noch immer häufig den grössten Anteil der Kinderbetreuung und Hausarbeit und scheiden eher aus dem Berufsleben aus, wenn sie Kinder bekommen.
In den letzten 30 Jahren hat sich viel verändert. 1991 waren rund 40% der MütterExterner Link nicht berufstätig, während heute nur noch ein kleiner Teil der Frauen mit Kindern – etwa eine von fünf – zu Hause bleibt, wie ein Bericht des Bundesamts für Statistik (BfS)Externer Link zeigt.
Die meisten Mütter, insbesondere jene mit einer mittleren oder höheren Ausbildung, kehren nach Angaben des BfS innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt des Kindes ins Berufsleben zurück.
Aber, und das gilt es auch zu sagen: 70%, also über zwei Drittel der Frauen befürchten beim ersten Kind negative Konsequenzen für ihre berufliche Karriere.
Eine deutliche Mehrheit der berufstätigen Mütter in der Schweiz arbeiten jedoch Teilzeit (siehe Infografik unten), während dieser Durchschnitt in der Europäischen Union (EU) bei rund 37%Externer Link liegt.
In der Tat erinnert die heute in der Schweiz verbreitete Aufgabenteilung für Paare mit KindernExterner Link weiterhin auffallend an das traditionelle Familienmodell des berufstätigen Vaters und der Mutter als Hausfrau, das vor einigen Jahrzehnten Standard war.
Obwohl sie heute nicht mehr Alleinverdiener sind, neigen Väter noch immer dazu, Vollzeit zu arbeiten, während Mütter meist eine Teilzeitstelle haben; nur wenige Väter (11%) arbeiten Teilzeit.
Bei Paaren ohne Kinder arbeiten heute beide Teile meist Vollzeit.
Die Daten zeigen etwas Paradoxes: Eine fortschrittliche Gesellschaft mit berufstätigen Frauen, wobei die Mütter unter ihnen aber oft noch immer den grössten Anteil der Hausarbeit und Kinderbetreuung schulternExterner Link, auch wenn sie nur einen Teil ihrer Zeit zu Hause verbringen. ***
In einem Interview mit der Leiterin eines umfassenden ForschungsprojektsExterner Link zum Familienleben in der Schweiz konnte ein Journalist nicht anders, als zu fragenExterner Link: «Dies klingt wie eine Szene aus den 1950er-Jahren… Ist die Schweizer Mutter noch immer am Herd zu finden?» Worauf die Forscherin Clémentine Rossier antwortete: «Auf jeden Fall ist sie weit weniger emanzipiert, als wir glauben möchten.»
Teilzeit-Beschäftigte, Teilzeit-Hausfrauen-Mütter
Für Schweizerinnen und Schweizer und für Ausländerinnen und Ausländer bleibt die Assoziation der Schweiz mit traditionellen Familiensitten nach wie vor schwer zu überwinden. Mehr als ein Drittel der Männer und etwa ein Viertel der Frauen sind der Ansicht, dass Kinder im Vorschulalter leidenExterner Link, wenn die Mutter ausserhalb des Hauses arbeitet, wie Daten des Bundesamts für Statistik zeigen.
Solches Denken kann für Expats, die dem Land in den vergangenen Jahren punkto Vereinbarkeit von Beruf und Familie eher schlechte Noten gaben etwas schockierend sein. In einem Meinungsbeitrag für die englischsprachige Site von swissinfo.ch schrieb ein Vater, der in Zürich lebt, «die grosse Mehrheit der Leute ist überrascht zu hören, dass ich Hausmann bin, erst recht, wenn sie erfahren, dass meine Frau Vollzeit arbeitet».
Die Gründe, weshalb Mütter und Väter in der Schweiz traditionellen Geschlechterrollen verhaftet bleiben, können teilweise auf den historisch liberalen, nicht-interventionistischen Ansatz zurückgeführt werden, den das Land bei der Familienpolitik verfolgt, wo der Staat die Betreuung der Kinder der Privatsphäre überlässt.
«Die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, die zu einer Zeit entstanden, als das Modell des «männlichen Ernährers» die Grundlage für das Familien- und Arbeitsleben bildete, sind in unserer Gesellschaft noch immer stark präsent, und bringen auch immer wieder diese Idee mit sich, dass es Privatsache ist, ob jemand Kinder will oder hat», erklärt Francesco Giudici vom Statistischen Amt des Kantons Tessin.
Die Auswirkungen dieses Ansatzes seien am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft im weiteren Sinn zu spüren, sagt Giudici. So fördert zum Beispiel die Tatsache, dass die aktuelle Gesetzgebung zwar einen Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen, aber nur einen Tag für Väter festlegt; eine ungleiche Verteilung der Kinderbetreuung bei Paaren fast von Anfang an, wie Giudici in einer 2017 veröffentlichten AnalyseExterner Link der Situation berufstätiger Mütter festhielt.
Obschon das Parlament letzten September die Gesetzesgrundlagen für einen Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen verabschiedet hat, glaubt Giudici, dass diese Änderung grossen Einfluss darauf haben werde, wie Männer und Frauen die Berufs- und Familienpflichten untereinander aufteilen werden.
Referendum ergriffen, Abstimmung wenig wahrscheinlich
Doch die «Papi-Zeit» ist noch nicht in trockenen Tüchern: Letzten Freitag hat ein überparteiliches Komitee das Referendum angekündigt. Bringt die rechtsbürgerliche Kleingruppe innert 100 Tagen 50’000 Unterschriften zusammen, stimmt das Volk über das neue Gesetz ab. Ob dies dem vierköpfigen Komitee, das nur über geringe Finanzkraft verfügt, gelingt, wird allerdings bezweifelt.
Derweil brüten links-grüne Kreise bereits über einen Vorschlag, der viel weiter geht: sie fordern die Einführung einer Elternzeit. Väter und Mütter sollen je bis zu 15 Wochen für die Kinderbetreuung erhalten. Darüber hinaus kämen noch zehn Wochen, die von den Eltern flexibel aufgeteilt werden könnten.
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«Selbst wenn ein gleichberechtigter Elternurlaub eingeführt würde, gibt es andere Faktoren, die weiterhin traditionelle Normen und Praktiken der Aufgabenverteilung zwischen Müttern und Vätern beeinflussen könnten», sagt Francesco Giudici.
Einer dieser Faktoren ist die progressive Besteuerung verheirateter Paare, die effektiv dazu führt, dass oft nicht beide Elternteile Vollzeit arbeiten, da ein höheres kombiniertes Einkommen mehr Steuern nach sich zieht.
Und da Frauen noch immer häufig weniger verdienen als Männer, sind sie es, die normalerweise ihr Arbeitspensum reduzieren, oder ihre Stelle gar ganz aufgeben.
Eine prädestinierte Realität
Gemäss der jüngsten Umfrage über Familien in der Schweiz befürchten etwa 70% der jungen Frauen, dass ein Kind sich negativ auf ihre Karriereperspektiven auswirken könnte. Die Forscherin Clémentine Rossier erklärt, das System präge die Erwartungen der Frauen, was die Vereinbarung von Beruf und Familie angehe.
«Sie wählen ‹weibliche› Berufe und weniger gut bezahlte Karrierepfade, zu denen man nach einer Kinderpause einfacher zurückkehren kann», erklärt die Genfer Universitätsprofessorin gegenüber swissinfo.ch. «Und wenn sich dann die Frage stellt, wer Zeit mit den Kindern verbringen soll, ist es immer die Mutter, weil ihre Erwerbskraft tiefer ist und sie auf einen solchen Schritt vorbereitet ist.»
Ein weiterer Aspekt des liberalen Ansatzes in der Familienpolitik ist der Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen, die noch dazu teuer sind.
«Ein grosser Teil der Bevölkerung ist immer noch dagegen, dass kleine Kinder ausserhalb der Familie betreut werden», sagt Rossier. Die Einstellungen würden aber tendenziell positiver, wenn die externe Kinderbetreuung gut etabliert und qualitativ hochwertig sei. Dies sei vor allem in Städten und in der französischsprachigen Schweiz der Fall, erklärt die Professorin für Demographie.
In der Schweiz besuchen heute 30% der Kinder unter drei JahrenExterner Link eine externe Kinderbetreuungsstätte. Sie liegt damit leicht unter dem EU-Durchschnitt von 34%, aber weit hinter Ländern wie Dänemark (70%) oder Schweden (57%). Viele Familien mit Kindern unter 13 Jahren (42% der Haushalte) greifen für die Betreuung stattdessen auf ihr Umfeld zurückExterner Link, zum Beispiel auf Grosseltern oder andere Verwandte.
Das Alter der Kinder zu Hause hat einen entscheidenden Einfluss auf die Berufstätigkeit der Mütter. Jene mit Kindern im Vorschulalter sind etwas weniger oft ausser Haus berufstätig: Etwa drei Viertel der Mütter mit einem Kind unter vier Jahren haben eine Stelle, verglichen mit 85% der Mütter von Teenagern.
Mütter mit jungen Kindern arbeiten meistens Teilzeit und ihr Beschäftigungsgrad ist allgemein tiefer (oft weniger als 50%)Externer Link als bei Frauen mit älteren Kindern.
Giudicis Untersuchungen ergaben auch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau ausser Haus berufstätig ist, sinkt, je mehr Kinder sie hat. Die Kosten für die Kinderbetreuung, die mit jedem Kind steigt, sind ein wahrscheinlicher Faktor für diese Situation.
Auch wenn die Kinder älter werden, müssen berufstätige Eltern weiterhin Lösungen für die Betreuung finden, weil der Schultag kürzer ist als der Arbeitstag und viele Gemeinden keine Schulmahlzeiten anbieten, wie Guidici erklärt.
Schwer zu erreichendes Gleichgewicht
Angesichts dieser sozialen und politischen Strukturen ist es kein Wunder, dass es schwierig ist, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen beruflichen und familiären Pflichten für beide Elternteile zu finden, wie sowohl Rossier als auch Giudici einräumen.
Beruf und Familie in der Schweiz unter einen Hut zu bringen, ist in der Praxis laut Rossier derart schwierig, dass praktisch nur Frauen, die aufgrund eines geringen Haushalteinkommens dazu gezwungen sind, zu Vollzeit neigen. So sind zum Beispiel alleinstehende Mütter öfter berufstätig als Mütter mit einem Lebenspartner im Haushalt, und sie arbeiten auch seltener Teilzeit (siehe obenstehende Grafik).
Im Gegensatz zu Giudici setzt Rossier aber eine gewisse Hoffnung in einem künftigen Vaterschaftsurlaub. Diese frühen Tage im Leben eines Kindes seien langfristig entscheidend und ein grosszügigerer Urlaub würde beiden Elternteilen Zeit geben, mit ihrem Neugeborenen vertraut zu werden und «die neuen Aufgaben gleichmässig aufzuteilen».
«Sonst bleibt es für die Väter etwas Ungewöhnliches, mit einem Baby zusammen zu sein, und die Mütter spezialisieren sich im Gegenzug zu sehr darauf», erklärt Rossier.
Und das sei ein Muster, dass auch mit zunehmendem Alter des Kindes bestehen bleiben könne, fügt sie hinzu.
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(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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