Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

10 Tabus rund um die Geburt, Teil 1

Eine Frau beim Gebären
Die schwedische Fotografin Moa Karlberg hat die Gesichter von Frauen beim Gebären fotografiert und daraus eine Bilderserie gemacht. Moa Karlberg

Über manche Dinge rund um die Geburt eines Kindes spricht man in der Schweiz kaum, es sind gesellschaftliche Tabus. Wir haben in Gesprächen mit Müttern, Vätern, Hebammen, Doulas und Ärzten heikle Themen gesammelt.

Mit diesen Personen haben wir gesprochen

Tabu Nr. 1: Die Geburt kann traumatischExterner Link sein

Eine Mutter schlägt die Hände vors Gesicht
Birgit Lang

Weil eine Geburt angeblich die natürlichste Sache der Welt ist, wird in der Schweiz ungern darüber gesprochen, dass zahlreiche Frauen unter dem Geburtserlebnis leiden und ein Trauma davontragenExterner Link. Im englischsprachigen Raum ist das Thema bereits bekannterExterner Link.

«Ebenfalls tabuisiert ist, dass die Geburt auch für den Vater traumatisierendExterner Link sein kann», sagt Oona CanonicaExterner Link, Co-Präsidentin des Schweizer Doula-VerbandesExterner Link. Auch die Hebamme Dayo Oliver sagt: «Es wird von Männern erwartet, dass sie das einfach schlucken.» Dabei könne eine Geburt auch für den Mann der Horror sein, zum Beispiel wenn das Personal die Frau auf dem Schragen rennend davonschiebt und dem Vater bloss noch zurufen kann «Jetzt geht es um Leben und Tod!» Manche Männer sind auch traumatisiert wegen des Blutes, der Verletzungen und dem Anblick der leidenden FrauExterner Link

Laut Nicolas ZoggExterner Link, Leiter Politik und Medien vom Dachverband der Schweizer Männer- und VäterorganisationenExterner Link, bereiten sich Männer zu wenig auf die Geburt vor und seien dann nicht selten traumatisiert. «Die wenigsten sprechen über eine schlimme Geburt», sagt Zogg. «Auch aus Loyalität gegenüber der Frau, denn sie wollen den gemeinsamen Freunden nichts Intimes von ihr preisgeben.»

Tabu Nr. 2: Postnatale Depressionen bei Vätern

Während das Phänomen bei Müttern noch halbwegs bekannt und akzeptiert ist, sind postnatale Depressionen bei Vätern in der Schweiz ein Tabu. Laut Zogg gibt man Vätern im Unterschied zu Müttern zu wenig Zeit, die Geburt zu verarbeiten und sich auf die neue Situation mit dem Kind einzustellen: «Frauen haben einen Mutterschaftsurlaub, Männer bekommen in der Schweiz einen Tag frei. Das reicht im besten Fall gerade für die Geburt. Aber am nächsten Tag ist der Vater bereits wieder im Alltag.»

Canonica, die auch Geburtsverarbeitungskurse anbietet, erzählt von einer Frau, die für ihren Mann angerufen hat, weil dieser nach der Geburt schlimme Albträume hatte. «Männer trauen sich nicht, über das Trauma zu sprechen. Sie wollen stark sein», sagt Canonica.

Tabu Nr. 3: Manche Frauen empfinden die Geburt ähnlich wie eine VergewaltigungExterner Link und tatsächlich wird in der Geburtshilfe teilweise GewaltExterner Link angewendet

Stellen Sie sich vor, Sie liegen mit gespreizten Beinen und entblösstem Intimbereich vor einer Gruppe von fremden Leuten, die Ihnen zwischen die Beine starren, den Finger in Ihre Scheide stecken oder sogar mit harten Gegenständen in Sie eindringen. Kurz: Es ist nachvollziehbar, dass manche Frauen eine Geburt ähnlich erleben wie eine Vergewaltigung.

«Man vergisst, dass jede dritte Frau in ihrem Leben sexuelle Übergriffe erlebt hat und eine solche Situation heikel für sie ist», sagt Monika Di Benedetto von Roses Revolution Schweiz, einer Bewegung, die auf Gewalt in der Geburtshilfe aufmerksam machen will. Gewalt kann verschiedene Formen annehmen: Ein Arzt setzt ohne Vorwarnung einen Dammschnitt, einer vor Schmerzen schreienden Gebärenden wird die PDA verweigert, eine Hebamme legt sich auf den Bauch einer Schwangeren und versucht mit Gewalt das Kind nach unten zu drücken… und vieles mehr.

«Es ist an der Zeit, das Tabu Gewalt in der GeburtshilfeExterner Link zu brechen», sagt auch Canonica. Sie erzählt von einer Frau, deren Fruchtblase drei Wochen vor Termin geöffnet wurde, bloss weil der behandelnde Arzt in die Ferien reisen wollte. Laut Di Benedetto machen Hebammen oder Ärzte bei der Geburt oft unüberlegt angstmachende Bemerkungen, im Stil von: «Wenn Sie sich jetzt nicht anstrengen, stirbt Ihr Kind.»

Auch Väter werden laut Zogg von Ärzten und Hebammen teilweise blöd hingestellt. «Ich habe von Männern gehört, die zu Gunsten der Frau intervenieren wollten, beispielsweise auf ihren Wunsch nach Schmerzmitteln hingewiesen haben, und von den Hebammen abgeschmettert wurden.» Oder der Spruch: «Jetzt gehen Sie raus, Sie werden sowieso nur ohnmächtig.»

Tabu Nr. 4: Dem Kind oder der Mutter kann bei der Geburt etwas passieren

«Dass bei einer Geburt etwas schieflaufen kann, ist ein Tabu», sagt Monika WickiExterner Link, Zürcher Kantonsrätin und Präsidentin der IG nachhaltige GeburtshilfeExterner Link. Die Medizin vermittelt zwar ein Gefühl von Sicherheit. Aber: «Auch in Spitälern kommen Kinder oder Mütter zu Schaden», so Wicki. Dass die Geburt ein riskanter Vorgang ist, verdrängen viele Schweizer und Schweizerinnen. Fakt ist aber: Auch mit bester medizinischer Versorgung kann es vorkommen, dass ein Kind oder eine Mutter stirbt.

Tabu Nr. 5: Die Geburt kann ästhetische, sexuelle und funktionelle Folgen haben

Eine Frau mit Baby trägt Inkontinenzwindeln
Birgit Lang

«Kinder bekommen hinterlässt Spuren am Körper einer Frau», sagt Gynäkologe Roland Zimmermann. «Und es sind nicht nur Schwangerschaftsstreifen.» Das gehe von überdehnten Bauchdecken, einem überdehnten Beckenboden bis hin zu Blasenschwäche.

Es wird in der Schweiz kaum offen darüber gesprochen, dass eine Geburt bei sehr vielen Frauen vorübergehend zu InkontinenzExterner Link führt. «30 Prozent der Frauen sind nach der Geburt inkontinent», sagt Oliver. Das bessere sich aber mit der Zeit. «Männer reden häufig auch aus Respekt vor der Frau nicht darüber, dass ihre Partnerin nach der Geburt inkontinent ist», ergänzt Zogg.

Auch dass ein Kaiserschnitt bei manchen Frauen eine wulstige HautfalteExterner Link über der Narbe (von manchen Frauen als «HängebauchExterner Link» oder «FettschürzeExterner Link» bezeichnet) hinterlässt, ist kaum ein Thema. Bei manchen Frauen sind nach einer vaginalen Geburt die inneren Schamlippen grösser, der Damm tiefer oder der Scheideneingang weniger verdeckt. Das führt dazu, dass die Frauen sagen, ihre Scheide sehe nicht mehr gleich aus wie früher, der Intimbereich sehe «offener» aus. Die Scheide wird teilweise als weiter empfunden, weil der Beckenboden erschlafftExterner Link ist, weshalb manche Frauen (und deren Partner) Geschlechtsverkehr als weniger stimulierendExterner Link erleben (Lost Penis SyndromExterner Link). Doch gesprochen wird darüber höchstens in Foren oder unter engsten Freundinnen.

«Es gibt Gynäkologen, die den Frauen einen Kaiserschnitt empfehlen, damit der Tonus der Vagina erhalten bleibt», erzählt Oliver. Sprich: Die Vagina soll straff und eng bleiben. «Es gibt sogar die schweinische Praxis des so genannten ExtrastichesExterner Link«, sagt Oliver. Das heisst: Die Ärzte nähen die Frau nach einem Dammschnitt extra eng zu, damit der Sex besser ist. Doch ausser Schmerzen bringe das nicht viel, so Oliver, denn die Scheide werde nicht als Ganzes verengt. «Da spricht man nicht darüber, obwohl es relativ viele Ärzte machen, vor allem Ärzte der alten Schule», sagt Oliver.

Dem widerspricht Zimmermann ein Stück weit: Er und seine Kollegen brächten den Nachwuchsärzten bei, die Naht nicht zu fest anzuziehen. Er kenne auch niemanden, der zum Zeitpunkt der Geburt eine Vaginalstraffung durchführen würde. «Aber es ist schon so, dass der Durchtritt eines kräftigen Kindes durch die Geburtswege zu einer Ausdehnung bzw. Überdehnung der Vagina führt. Die Folgen davon kennen wir zur Genüge.» Deshalb floriere auch das Geschäft der Intimchirurgen, die meist Jahre nach der Geburt mit chirurgischen Eingriffen versuchten, die frühere Enge der Vagina zu rekonstruieren.

Tatsächlich gibt es besser geeignete OperationenExterner Link und BehandlungenExterner Link als den «letzten Stich», die unter dem Begriff «Vagina-VerjüngungExterner Link» oder «Vaginalstraffung» zusammengefasst werden. Wenn in den Schweizer Medien die Rede davon ist, dann allerdings meist kritischExterner Link.

Tabu Nr. 6: Manche Männer erleben ihre Frauen bei der Geburt als entstellt

«Viele Männer berichten, dass sie ihre Partnerin während der Geburt recht entstellt finden», sagt Zogg. «Es ist nicht mehr dieses schöne, zierliche, sexuell attraktive Wesen, das sie einmal geheiratet haben.» Eine Geburt sei ein archaischer Prozess, erklärt Zogg. «Wenn die Frau schreit vor Schmerzen, den Stuhlgang nicht kontrollieren kann, Blut fliesst, dann empfinden manche Männer das als erschreckend, eklig und entwürdigend für ihre Frau.»

Tabu Nr. 7: Manche Männer finden ihre Partnerin nach Schwangerschaft und Geburt nicht mehr attraktiv – oder umgekehrt

«Wie ein Körper nach der Geburt aussieht, ist ein Tabu», sagt Oliver. Laut Zogg kann es vorkommen, dass Männer nach dem Geburtserlebnis oder aufgrund der körperlichen Veränderungen durch Schwangerschaft und Geburt erst wieder lernen müssen, ihre Partnerin attraktiv zu finden. Das zu sagen, trauten sich die wenigsten – sie wollen ihre Frau nicht verletzen. «Manche werden mit der eigenen Oberflächlichkeit konfrontiert», erklärt Zogg. «Wie fest stört es mich, dass sie Schwangerschaftsstreifen hat, der Bauch schwabbelt und die Brust nach dem Stillen nicht mehr gleich aussieht? Es ist nicht mehr wie früher, und das ist ein Tabu, da spricht man nicht drüber, weder mit Freunden noch mit der Partnerin.»

Dass es umgekehrt auch vorkommt, dass eine Frau nach der Geburt des Kindes ihren Partner nicht mehr attraktiv findet oder ihn nicht mehr liebt, kann man ebenfalls bloss auf Foren nachlesen.

Tabu Nr. 8: Sex nach der Geburt

Schweizer und Schweizerinnen gelten allgemein eher als verklemmt, was sexuelle Themen anbelangt. Über Sex nach der Geburt wird erst recht nicht offen gesprochen.

Zogg bestätigt, dass Schweizer und Schweizerinnen generell nicht gross über Sexualität sprechen und sehr zurückhaltend bei dem Thema sind. «Väter sprechen höchstens mit den besten Freunden über die Folgen einer Geburt auf die Sexualität», sagt Zogg. «Die Hemmschwelle ist sehr hoch.» 

«Viele Frauen halten dem Mann zuliebe hin, haben selbst nach der Geburt aber eigentlich kein Bedürfnis nach Sex, weil das Stillen die Libido runterfährt», sagt Oliver.

Es kann vorkommen, dass eine PDA zu wenigExterner Link oder nur auf der einen Seite wirktExterner Link. Und zwar auch bei einem Kaiserschnitt. Auf Foren berichten Frauen, die Ärzte hätten ihnen nicht geglaubt und die Operation einfach fortgesetzt. Eine Mutter, die ihr Kind vaginal geboren hat, erzählt swissinfo.ch: «Bei mir hat die PDA nur einseitig gewirkt, was ich auch gesagt habe. Aber niemand hat reagiert, obwohl ich höllische Schmerzen hatte.»

Zimmermann erklärt, dass der PDA-Katheter quasi «blind» durch die Haut vorgeschoben werden müsse: «Manchmal kommt die Katheterspitze nicht in der Mitte, sondern einseitig rechts oder links zu liegen. Damit verteilt sich das Anästhetikum auch nicht optimal auf beide Seiten.» Wenn die Geburt schon weit fortgeschritten sei, könne man den Katheter nicht immer neu platzieren. Das Problem der ungenügenden Betäubung tritt seiner Erfahrung nach in 2-10% aller PDAs auf. «Weil in so vielen Fällen die PDA einseitig liegt, verwenden wir für Plankaiserschnitte, wenn immer möglich die Spinalanästhesie, womit wir einseitige Schmerzausschaltung fast immer vermeiden können.» Wenn schon eine PDA liege und dann später ein Kaiserschnitt notwendig werde, sei es wichtig, dass sich sowohl der Anästhesist als auch der Operateur über eine hinreichende Schmerzstillung vergewisserten. «Heikel kann es dann werden, wenn Schmerzen erst dann auftreten, wenn die Gebärmutter eröffnet und versucht wird, das Kind herauszuholen», sagt Zimmermann. Solche Situationen seien glücklicherweise selten, könnten aber nie ganz vermieden werden. «Der schnellste Ausweg wäre dann eine Vollnarkose, was aber zu Verzögerung bei der Kindsentwicklung führt und auch für die Frau nicht gefahrenlos ist.»

Tabu Nr. 10: Manche Väter wollen bei der Geburt nicht dabei sein – oder Mütter wollen sie nicht dabeihaben

Laut Zogg wollen die meisten Väter bei der Geburt dabei sein, das sei zur Norm geworden. «Das macht es schwierig, Bedenken zu äussern – von beiden Seiten, der Mutter und dem Vater.» Auch Canonica meint: «Es gehört sich in der Schweiz, dass der Mann mitgeht. Manche Männer trauen sich nicht, zu sagen, dass ihnen dabei nicht wohl ist.» Es brauche in der heutigen Zeit enorm viel Mut hinzustehen und zu sagen: «Ich will nicht dabei sein.»

Oliver erzählt, dass sich sogar sehr traditionelle muslimische Familien dem Druck der Schweizer Norm anpassen, so dass der Vater meist an die Geburt mitkommt. «In diesen Kulturen wäre die Frau aber häufig besser unterstützt, wenn eine weibliche Verwandte mitkäme.» Diese Männer seien sehr verloren im Gebärsaal.

Auch tabu ist laut Zogg, dass manche Frauen den Kindsvater bei der Geburt nicht dabeihaben wollen – nicht zuletzt, weil sie nicht in einer als entwürdigend erlebten Situation von ihm gesehen werden wollen. «Es gibt grosse Hemmungen, das auszusprechen.» Kaum jemand komme in der Schweiz auf die Idee, eine Freundin, Schwester oder die Mutter statt des Partners an die Geburt mitzunehmen.

Kontaktieren Sie die Autorin @SibillaBondolfi auf FacebookExterner Link oder TwitterExterner Link.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft