10 Tabus rund um die Geburt, Teil 2
Über manche Dinge rund um die Geburt eines Kindes spricht man in der Schweiz kaum, es sind gesellschaftliche Tabus. Wir haben in Gesprächen mit Müttern, Vätern, Hebammen, Doulas und Ärzten heikle Themen gesammelt.
Dieser Text ist Teil einer Serie über das Thema Geburt.
Mit diesen Personen haben wir gesprochen
- Barbara StockerExterner Link, Präsidentin des HebammenverbandsExterner Link.
- Oona CanonicaExterner Link, Co-Präsidentin des Schweizer Doula-VerbandesExterner Link.
- Roland ZimmermannExterner Link, Gynäkologe und Klinikdirektor der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsspitals Zürich.
- Nicolas ZoggExterner Link, Leiter Politik und Medien vom Dachverband der Schweizer Männer- und VäterorganisationenExterner Link und Vater zweier Kinder.
- Monika Di BenedettoExterner Link, Präsidentin von Roses Revolution SchweizExterner Link, einer Bewegung, die auf Gewalt in der Geburtshilfe aufmerksam machen will.
- Dayo OliverExterner Link ist Hebamme am Seespital Horgen.
- Monika WickiExterner Link, Zürcher Kantonsrätin und Präsidentin der IG nachhaltige GeburtshilfeExterner Link (IGNGH).
- Lea KusanoExterner Link, SP-PolitikerinExterner Link und Mutter zweier Kinder.
- Und mit zahlreichen Vätern und Müttern, die anonym bleiben wollen.
Tabu Nr. 11: Kleinere Peinlichkeiten wie Stuhlgang oder Blähungen während der Geburt
Besonders wenn Frauen eine PDA haben, können sie die Muskulatur des Unterkörpers nicht kontrollieren. Damit nicht dauernd Urin entweicht, wird ihnen während der PDA ein Katheter gesetzt. «Mir hat niemand gesagt, dass während der PDA ein Blasenkatheter gesetzt wird, auch die Ärzte sagten dies nicht, bevor die PDA erfolgte. Ich war diesbezüglich sehr überrascht», erzählt eine Mutter.
Auch ohne PDA kann es während des Pressens zu unkontrolliertem Stuhlgang oder Fürzen kommen. Das passiert laut Canonica «hin und wieder» bei Frauen, die vaginal gebären. «Das Problem dabei ist, dass die Frauen sich schämen und Angst haben, ganz loszulassen», so Canonica. Was für die Geburt hinderlich ist: Wenn eine Frau Angst hat oder sich unwohl fühlt, kann das die Wehen hemmen.
«Ich machte mir im Voraus Sorgen, dass ich während der Geburt Stuhlgang haben könnte», bestätigt eine Mutter gegenüber swissinfo.ch. Aber die Angst habe sich als völlig unbegründet herausgestellt. Das Personal geht in der Regel sehr diskret mit dem Thema um und entfernt allfällige Malheurs.
Tabu Nr. 12: Manche Frauen gehen gestärkt aus einer natürlichen Geburt heraus
Laut Lea Kusano, SP-Politikerin aus Bern, ist in der Schweiz die Frage «Wächst man emotional an einer natürlichen Geburt?» tabu. Dass die Frau etwas durchgestanden habe, was ihr als Erfahrung niemand mehr nehmen könne, das werde nicht positiv vermerkt. Kusano fühlte sich nach den Geburten gestärkt: «Danach wusste ich: mich haut nichts mehr so schnell um, ich kann mir vertrauen.»
Die Geburt werde in unserer Kultur eher als Happening wahrgenommen, entsprechend seien die Vorstellungen und Erwartungen. «Dabei wäre die natürliche Geburt eine gute Vorbereitung für das Kinderhaben, denn mit Kindern läuft es selten so wie erwartet», so Kusano. Die Kinder «ds la gah» und die Kontrolle abzugeben gehöre zu den grössten Herausforderungen der Elternschaft. «Um darauf vorbereitet zu sein, ist eine gute Hebamme wichtiger als die Farbe des Gebärzimmers.»
Tatsächlich galt früher das Aushalten des Schmerzes als Bewährungsprobe für den Charakter einer FrauExterner Link. Möglicherweise will man in der Schweiz Frauen heute nicht mehr mit solchen Idealen unter Druck setzen. Denn gesellschaftlicher Druck kann fatal sein: Nachdem in Grossbritannien mehrere Mütter und Babys bei der Geburt gestorben waren, weil Hebammen trotz Komplikationen auf einer natürlichen Geburt beharrt und keinen Arzt beigezogen hatten, revidierte das britische Royal College of Midwives 2017 die Doktrin, wonach eine «normale» Geburt erstrebenswert seiExterner Link.
Tabu Nr. 13: Die vaginale Geburt kann schwere Verletzungen im Intimbereich hinterlassen
Knochenbrüche des Schambeins, Beckenboden-Muskelrisse, Scheidenrisse, Dammrisse oder DammschnitteExterner Link verschiedener Schweregrade (bis hin zum Reissen der Aftermuskulatur), Risse in den Schamlippen und Klitorisrisse – diese Verletzungen kann eine vaginale Geburt verursachen. Gesprochen wird kaum darüber. «Der Dammschnitt wird zwar von Ärzten und Gesundheitsorganisationen verschiedener Nationen kontrovers diskutiert, aber die gebärende Frau wird kaum konsultiert, geschweige denn aufgeklärt», sagt ein Vater. «Oft geschieht der Dammschnitt ohne Einwilligung, die Gebärende hat dann halt mit den Konsequenzen zu leben.»
Tabu Nr. 14: Wunschkaiserschnitt
Dass manche Frauen aus Angst vor Geburtsschmerzen, Geburtsverletzungen, einem Geburtstrauma oder negativen Folgen für das Sexualleben auch ohne medizinische Indikation einen Kaiserschnitt wünschen, ist in der Schweiz ein Tabu. «In meinem Umfeld wird der Wunschkaiserschnitt abgewertet», beobachtet Zogg. «Unter Frauen herrscht ein Leistungsdruck in Richtung natürliche Geburt.»
Noch verpönter ist der «echte» Wunschkaiserschnitt, wenn also eine Frau lediglich aus Gründen der Planbarkeit oder wegen des Geburtshoroskops einen Kaiserschnitt wünscht. «Es ist ein Tabu zu fordern, dass die Familien in solchen Fällen den Kaiserschnitt selber bezahlen sollen», sagt Oliver. «Ich finde es aber nicht richtig, dass die Allgemeinheit das tragen muss. Eine Spontangeburt ist viel billiger.» Sie schlägt vor, wie früher bei der Abtreibung einem Psychologen die Gründe für den Wunsch darlegen zu müssen.
Tabu Nr. 15: Beschneidung von Buben
Expats aus den USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Israel oder SüdkoreaExterner Link mögen erstaunt sein, wenn ihre Söhne in einem Schweizer Spital nicht routinemässig beschnitten werden. Wer explizit danach fragt, stösst nicht selten auf Ablehnung. In der Schweiz – wie in den meisten europäischen Ländern – gilt die Beschneidung grundsätzlich als Körperverletzung. Sie wird nur aus medizinischen oder religiösen Gründen gemacht, nicht aus kulturellen oder hygienischen.
Auch die Zulässigkeit von religiösen Motiven wird zunehmend in Frage gestellt: Eine von einem deutschen Gerichtsurteil ausgelöste Debatte über die Strafbarkeit einer medizinisch nicht indizierten Beschneidung schwappte auch in die SchweizExterner Link über. Während die WHO die Jungenbeschneidung als HIV-PräventionExterner Link propagiert, ist man in der Schweiz also deutlich skeptischer. Laut Zogg wird das Recht von Jungen auf genitale Unversehrtheit aber auch in der Schweiz zu wenig respektiert, meist mit dem Argument der Religionsfreiheit. Zudem werden seiner Meinung nach die negativen Folgen einer ZirkumzisionExterner Link auf die Sexualität zu wenig offen diskutiert.
Tabu Nr. 16: Negative Aspekte des Stillens
Man darf es in der Schweiz fast nicht laut aussprechen oder niederschreiben, aber Ja: Stillen hat auch negative Seiten. Zum Beispiel enthält Muttermilch SchadstoffeExterner Link. Oder: «Niemand sagt dir, dass Stillen am Anfang so weh tut!», sagt eine Mutter. Zudem kann die Mutter während der Stillzeit nicht alle Medikamente einnehmen. Der Vater kann weniger aktiv mithelfen und hat möglicherweise eine weniger enge Bindung zum Kind als ein Fläschchen-Papi. «Ich fühlte mich richtiggehend ausgeschlossen», verrät ein Vater gegenüber swissinfo.ch.
Gleichzeitig kann eine stillende Mutter weniger gut vom Vater entlastet werden, gerade in den Nächten wird sie häufiger geweckt, weil sie die Brust geben muss. Dass Flaschenkinder längere Zeit am Stück schlafen und teilweise deutlich weniger schreien, verraten einem Hebammen höchstens hinter vorgehaltener Hand.
Obwohl Fachleute es abstreiten, hält sich hartnäckig der Mythos, dass Stillen einen Hängebusen verursache. Und vielleicht ist ja doch was dran, da die Brüste nach dem Milcheinschuss noch grösser und schwerer werden als durch die Schwangerschaft.
Dass eine Frau freiwillig ihrem Kind die Brust vorenthält, ist in der Schweiz ein Tabu. Fast alle Frauen (94%) wollen nach der Geburt stillen; und das Stillen wird sogar staatlich gefördert. «Niemand sagt dir, dass es nicht einfach ist, zu stillen», sagt eine Mutter gegenüber swissinfo.ch. «Es heisst immer, jede Frau könne stillen. Aber zu welchem Preis? Darüber spricht niemand.» Ihre Hebamme habe sogar behauptet, dass es in der künstlichen Babymilch süchtig machende Aromen drin habe, um sie trotz entzündeten Brüsten zum Stillen zu motivieren.
Tabu Nr. 17: Langzeitstillen
Zwar soll man in der Schweiz sein Kind stillen, aber bitte nicht zu lang! Wer seinem Kind zwei, drei oder mehr Jahre die Brust gibt, erntet böse Blicke oder muss sich gar den Vorwurf des KindsmissbrauchsExterner Link gefallen lassen. Viele Langzeitstillende geben ihrem Kind daher heimlich die BrustExterner Link.
Tabu Nr. 18: Das «falsche» Familienmodell
Dass beide Eltern nach der Geburt eines Kindes Vollzeit arbeiten, wird in der Schweiz nicht gern gesehen. «Man darf das Kind nicht zu viel fremdbetreuen lassen, sonst heisst es schnell, man habe es nicht gern», sagt Zogg. Dass der Vater nach der Geburt nicht mehr der FamilienernährerExterner Link sein könnte, sei ebenfalls meist tabu. Gemäss Statistiken Externer Linkarbeiten in den meisten Schweizer Familien die Väter Vollzeit und die Mütter Teilzeit.
Laut Zogg gibt es dabei ein weiteres Tabu: Manche Frauen wollen die Familienverantwortung nicht an die Männer abgeben (Maternal GatekeepingExterner Link). «Viele Frauen holen sich viel Identität aus der Mutterrolle», so Zogg. Das führe dazu, dass sie dem Vater an seinem Betreuungstag beispielsweise alles vorbereiteten – von den Windeln über den Znüni bis zur To-Do-Liste. «Für den Vater bleibt da bloss die Rolle eines Familienpraktikanten», so Zogg.
Tabu Nr. 19: Wegen der Migration sind viele Frauen in der Schweiz beschnitten
«Wir treffen in der Geburtshilfe auf relativ viele beschnittene Frauen», sagt Oliver. Das führt zu Konflikten: Sie habe erlebt, wie sich eine Ärztin mit dem Ehemann einer pharaonisch beschnittenen Frau heftig in die Haare geriet, weil sie die Mutter nach der Geburt nicht wieder zunähen wollte. «Die meisten schauen bei dem Thema weg, weil wir das in der Schweiz so schlimm finden», so Oliver. Dabei gebe es die Möglichkeit einer Rekonstruktion: «Frauen können sogar wieder etwas spüren, weil man den Rest der Klitoris rausziehen kann.» Manche Ärzte wollten solche Operationen aber nicht auf Kosten der Allgemeinheit machen.
Tabu Nr. 20: Das Kind zu früh holen, damit die Mutter schlank bleibt und keine Schwangerschaftsstreifen bekommt
Ein Trend unter Models und Schauspielerinnen in den USA ist die Verkürzung der Schwangerschaft aus ästhetischen Gründen: Sechs Wochen vor Termin wird das Kind per Kaiserschnitt geholt, damit die Mutter nicht zu dick wird und keine Schwangerschaftsstreifen bekommt. «Das gibt es bei uns nicht», sagt Oliver. «Ein Arzt dürfte das in der Schweiz nicht tun, er würde sich der Körperverletzung des Kindes strafbar machen.»
Kennen Sie weitere Tabus? Und was ist in Ihren Ländern ein Tabuthema rund um die Geburt eines Kindes? Schreiben Sie uns in den Kommentaren.
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