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Flutwelle und Spenden-Tsunami mit unglaublichen Folgen

Die thailändische Insel Ko Phra Thong wurde hart vom Tsunami getroffen. Eine der wichtigsten Siedlungen auf der Insel, das Dorf Pak Chok, wurde vollständig zerstört. Bodhi Garret

Vor 10 Jahren zerstörte ein gewaltiger Tsunami die Küsten am Indischen Ozean. Die Fischer der thailändischen Insel Ko Phra Thong wurden danach nochmals von einer Welle überrollt – der Hilfswelle für den Wiederaufbau der Region. Die Häuser und Schulen, die damals auch mit Schweizer Hilfe gebaut wurden, sind heute grösstenteils verlassen. Eine Reportage von swissinfo.ch.

Jue Koikaew wartet am Hafen. Der Bootsführer winkt uns zu. Wir sollen aufs Boot kommen und aufpassen, nicht auszurutschen. Ein Schild am Steg ermahnt dazu, eine Schwimmweste anzulegen. Einige Fischer ordnen ihre Netze.

Wir legen ab. Langsam bewegen wird uns auf einem Kanal durch einen Mangrovenwald in Richtung Ko Phra Thong. Die Insel in der AndamanenseeExterner Link, rund 150 Kilometer nördlich von Phuket ist für ihre Biodiversität und aussergewöhnliche maritime Fauna als Naturparadies bekannt. Weniger bekannt ist hingegen das Schicksal ihrer 1200 Einwohner.

Die Fischer dieser Insel gehörten zu den ärmsten Opfern des verheerenden Tsunami, der am 26. Dezember 2004 ganz Südostasien und auch Thailand traf. In Thailand starben damals 8200 Personen. Die Hälfte waren Touristen oder ausländische Arbeitskräfte.

Nach einer guten Stunde sind wir an unserem Ziel angekommen. Am Strand erstreckt sich ein Wald aus Kasuarinen und Kokospalmen. Die dichte Vegetation verbirgt eine tragische Vergangenheit. «Hier stand das Dorf Pak Chok», sagt Jue Koikaew. «Nichts ist geblieben.»

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Auf einem Baum überlebt

Pak Chok, als einzige Siedlung der Insel am offenen Meer, wurde durch den damaligen Tsunami vollständig zerstört. 76 Personen starben – ein Viertel der Einwohner. Die Überlebenden sind auf das Festland gezogen, viele leben bis heute mit Angstzuständen. Zur zwei Personen blieben in Pak Chok.

«Unser Haus stand am weitesten landeinwärts. Wir sind hier alleine geblieben. Wir wollten nicht das Land verlassen, auf dem wir mehr als 30 Jahre gelebt haben», sagt Somchan Kongkaew (64), der hier mit seiner Ehefrau Kanittha Saetong geblieben ist.

Im Schatten eines Holzdaches erinnert er sich genau an den fatalen Sonntag vor 10 Jahren. «Es gab einen grossen Knall. Ich dachte, dass zwei Boote aufeinander geprallt wären. Doch dann sah ich das Wasser kommen. Meine Frau und ich sind auf einen Baum geklettert.»

Eine Stunde blieben sie auf dem Baum – unter ihnen ein Trümmerfeld und viele tote Fische. Ihr eigenes Haus stand noch, wenn auch schwer beschädigt. Doch der Rest war verschwunden: Das Boot und die ganze Ausrüstung für die Fischerei.

Somchan Kongkaew und Ehefrau Kanittha Saetong vor ihrem Haus. Die weisse Linie auf der Fassade zeigt den höchsten Wasserstand während des Tsunami an. swissinfo.ch

Von einer thailändischen Wohltätigkeitsorganisation erhielt Somchan Kongkaew ein neues Fischerboot. Das war alles. Dank der Hilfe einiger ausländischer Freiwilliger konnte das Paar das eigene Haus wieder bewohnbar machen.

«Wir mussten bei null anfangen. All die Leute, die nach dem Tsunami kamen, hätten uns eine Ausrüstung zum Fischen oder Werkzeuge für die Landwirtschaft geben können. Stattdessen haben sie Häuser gebaut, die nichts nützen», klagt Somchan Kongkaew.

Ein Geisterdorf

Seine Worte werden verständlich, wenn man einige hundert Meter weiter geht. Fein säuberlich nebeneinander stehen hier Häuser aus Holz und Zement. Der Wind nagt an den Fassaden, und Unkraut spriesst allenthalben. Von Bewohnern keine Spur.

Nur etwa zehn der 150 Häuser von Ban Lion sind bewohnt. swissinfo.ch

Wir sind nun in Ban Lion, einem Dorf, das nach dem Tsunami dank Zuwendungen des Lions Clubs International gebaut wurde. Es wurde geplant, um die Überlebenden von Pak Chok aufzunehmen – in einem geschützten Teil der Insel. Heute ist Ban Lion ein halbverwaister Ort.

Hier hätte jeder gratis ein neues Haus bekommen, erzählt ein Junge vor Ort. «Es reichte aus zu sagen, dass man das eigene Haus im Tsunami verloren hat. Und das machten sogar Personen, die vorher gar nicht auf der Insel wohnten.» Anfänglich hätten in Ban Lion viele Leute gelebt. Doch wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten seien dann viele aufs Festland gezogen.

Im Zentrum dieses Geisterdorfes steht ein langgestrecktes Gebäude. Es ist eine Schule, «gebaut mit Unterstützung des Schweizer Volkes», wie auf einer Wandtafel zu lesen ist. Das Projekt wurde von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), dem Schweizer Ministerium für Entwicklungshilfe, finanziert. Drei Millionen Franken flossen damals nach Thailand, um sich am Wiederaufbau zu beteiligen und die Fischerdörfer wiederherzustellen.

Doch genauso wie die Wohnhäuser sind auch die Schulräume leer. Eine ältere Frau erzählt, dass es kaum noch Kinder gegeben habe und die Schule daher geschlossen wurde. «Ich glaube, die Schule wird nun gelegentlich als Wahllokal genutzt», sagt sie.

Eine Schule, die mit Hilfe von Geldern aus der Schweiz gebaut wurde. swissinfo.ch

Der Wiederaufbau nach dem Tsunami

Wir sind mehr als erstaunt und setzen unsere Fahrt auf einer der wenigen asphaltierten Strassen von Ko Phra Thong fort. Unser Fahrer bringt uns nach Tha Pae Yoi, mit 300 Einwohnern das grösste Dorf der Insel. Es liegt geschützt in einer kleinen Bucht und wurde von der durch das Seebeben ausgelösten Riesenwelle verschont. Gleichwohl sind auch hier die Folgen des Tsunami spürbar.

Deza-Projekte in Thailand nach dem Tsunami. Quelle: Deza

Unser Fahrer Wirat Kosakun erzählt, dass die Inselbewohner aus unterschiedlichen Ethnien stammen. Thailänder, Birmanen, Chinesen und Nomaden. Alles sei friedvoll gewesen. «Doch nach dem Tsunami kam es zu Konflikten zwischen jenen Einwohnern, die viele Hilfsleistungen erhielten, und solchen, die nichts erhielten.»

Chanu Samutwaree, der in einem der Ferienresorts auf der Insel arbeitet, berichtet sogar, dass er ein neues Haus auf dem Festland erhalten habe, obwohl sein Haus in Tha Pae Yoi gar nicht zerstört wurde. Im neuen Haus leben nun seine Eltern: «Für sie ist dies eine gute Sache. Ihnen stehen die Infrastrukturen des Festlands wie Spitäler und Schulen zur Verfügung.»

Viele Personen hätten ein neues Wohnhaus erhalten, zudem Land, ein Boot und Geld, meint der 31-Jährige. Diese Hilfe sei nützlich gewesen, um auf dem Festland neu beginnen zu können, beispielsweise ein Restaurant oder einen Laden zu eröffnen. «Für viele Familien war der Tsunami wie eine Wiedergeburt», sagt Samutwaree.

Diese Meinung teilt Bodhi Garret, ein Amerikaner, der seit 15 Jahren in der Region lebt und die North Andaman Tsunami ReliefExterner Link gegründet hat, eine humanitäre Organisation, die sich für eine nachhaltige Entwicklung der Küstenregion einsetzt. Vor dem Tsunami habe sich die Gegend in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befunden. Der Fischfang sei rückläufig gewesen, die Wälder seien zu exzessiv genutzt worden.

«Viele Einwohner von Ko Phra Thong waren verschuldet. Sie mussten Kredite zu hohen Zinsen aufnehmen, um Fangnetze und andere Utensilien für die Fischerei zu erwerben. Nach dem Tsunami nutzten sie die Zuwendungen, um die Insel zu verlassen. Oder sie kamen zu einem eigenen Haus. Sie hingen plötzlich nicht mehr von den Gläubigern ab», hält Garret fest.

Der Amerikaner sieht noch weitere positive Aspekte: «Die Insel begann wieder zu existieren. In der Folge des Tsunami interessierten sich Regierungsstellen und Umweltorganisationen für diesen Landstrich, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Vor dem Tsunami ging es nur um Territorialfragen.»

Häuser vergammeln

Unsere Reise auf der praktisch vollkommen flachen Insel verläuft weiter in Richtung Süden. Wir durchqueren eine ungewöhnliche Steppenlandschaft. Auf einer Sandstrasse erreichen wir schliesslich Thung Dap, den südlichsten Punkt.

Mitten im Dorf steht eine Palme, geneigt in einem Winkel von 45 Grad. Die krumme Palme spiegelt die Kraft des damaligen Tsunami, bei dem etliche Häuser dieses Ortes zerstört wurden. Auch jenes von Thep Kummayee. Der ehemalige Stellvertreter des Gemeindepräsidenten rettete sich selber, nachdem er seine Familie auf seinem Traktor evakuiert hatte.

Thep Kommuaye (59) gehört zu den politischen Führern der Insel. swissinfo.ch

Mit dem gleichen Traktor transportierte der 59-Jährige das Baumaterial für die neuen Häuser, die von der Deza mitfinanziert wurden. Gleichwohl hatte er selbst kein Anrecht auf ein neues Haus. Er ist zwar auf der Insel aufgewachsen, hatte aber – genauso wie viele andere – nie Eigentum.

«Die Schweizer bauten nur auf Liegenschaften, für die es offizielle Papiere gab. Leider haben die meisten von ihnen, vor allem Investoren aus der Tourismus-Branche, die Insel nach dem Tsunami verlassen», sagt Kummayee.

Das Resultat ist zu sehen: Abgesehen von einem einzigen Haus, in dem eine junge Familie wohnt, sind die sieben mit Schweizer Mitteln gebauten Häuser leer und vergammeln.

Ein mit Deza-Geldern gebautes Haus in Thung Dap. swissinfo.ch

Doch die Einwohner von Thung Dap kritisieren die Schweiz nicht dafür, Infrastrukturen gebaut zu haben – neben Wohnhäusern auch eine Schule –, die heute keinen Nutzen haben. Sie gehen eher mit den lokalen Behörden hart ins Gericht, weil sie die Abwanderung von der Insel nicht gestoppt haben. Zumindest vertritt Thep Kummayee diese Haltung.

«Der Staat stellte nicht genügend Lehrer ein. Alle Schüler mussten nach Tha Pae Yoi, die einzige Schule auf der Insel», sagt er. Während der Regenzeit war diese Schule damit für viele Kinder praktisch unerreichbar, befindet sie sich doch rund 10 Kilometer von den meisten Dörfern entfernt. «Die Kinder mussten zu Hause bleiben. Viele Familien entschieden sich, aufs Festland zu ziehen», sagt Thep Kummayee. In 10 Jahren hätten zwei Drittel der Inselbewohner die Insel verlassen.

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Auf Anfrage von swissinfo.ch hält die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit fest, dass die Infrastrukturprojekte bereits 2008 abgeschlossen worden seien. In einer schriftlichen Stellungnahme wird darauf hingewiesen, «dass in der darauf folgenden Zeit der Rückgang des Fischbestandes und bessere Wohn-und Arbeitsmöglichkeiten auf dem Festland dazu geführt haben, dass die Bevölkerung ihren Lebensmittelpunkt geändert hat.» Mit entsprechenden Auswirkungen auf die Nutzung der Infrastruktur.

Gleichwohl zieht die Deza global eine positive Bilanz: » Die internen und externen Auswertungen, welche die Humanitäre Hilfe der Deza in Sri Lanka, Indonesien und Thailand vornahm oder in Auftrag gab, lassen erkennen, dass die als Reaktion auf den Tsunami konzipierten Projekte mit überwiegender Mehrheit erfolgreich waren.»

Nach dem Tsunami

Das Seebeben und die Flutwelle (Tsunami) von 2004 werden nicht nur wegen der hohen Zahl von Todesopfern (225’000) und der grossen Zahl betroffener Länder (20 Länder auf drei Kontinenten) in Erinnerung bleiben, sondern auch wegen der aussergewöhnlichen Mobilisierung der internationalen Gemeinschaft nach dem Ereignis. 14 Milliarden Dollar kamen für eines der grössten humanitären Hilfsprojekte in der Geschichte der Menschheit zusammen.

Auch in der Schweiz war die Reaktion auf den Tsunami beispiellos. Die Glückskette sammelte allein 227 Millionen Franken, fast vier Mal mehr als nach dem Erdbeben von Haiti im Jahr 2010.

Spendenaufkommen bei der Glückskette und Hilfeleistungen nach dem Tsunami. Quelle: Glückskette

Während er eine positive Bilanz der Glückskette-ProjekteExterner Link in Indien, Indonesien und Sri Lanka zieht, beschreibt der unabhängige Berater Adriaan Ferf die Situation, die nach dem Tsunami entstand als paradox: «Es gab mehr Geber und mehr Geld im Umlauf als nötig», sagt er im Interview mit swissinfo.ch.

Bodhi Garrett hat an der Auswertung der Hilfsleistungen für Ko Phra Thong mitgewirkt. Er spricht von einem «zweiten Tsunami.» Und in gewisser Weise sei dieser zweite Tsunami, der die Insel erfasst habe, noch schlimmer gewesen als der erste.

Tsunami in Südostasien

Ein Seebeben der Stärke 9,1 löste in den Morgenstunden des 26. Dezember 2004 in Südostasien mehrere Flutwellen (Tsunami) aus, die in 20 Ländern verheerende Folgen hatten. Die Wellen erreichten eine Höhe von bis zu 30 Meter.

Die Tsunami-Wellen überschwemmten die Küstengebiete am Indischen Ozean. Am stärksten betroffen waren Indonesien, Sri Lanka, Indien und Thailand.

Insgesamt starben durch das Beben und seine Folgen etwa 225’000 Menschen (darunter auch rund 100 Schweizer). Fast zwei Millionen Menschen wurden obdachlos. Die Schäden beliefen sich auf schätzungsweise 10 Mrd. Dollar.

Die Hilfsorganisationen kamen mit viel Geld in die verwüsteten Gebiete, vor allem aber mit dem Druck, schnell Ergebnisse des Wiederaufbaus zu liefern. Allein auf Ko Phra Thong waren rund 20 Hilfsorganisationen aktiv. Es kam zu einem Wettbewerb dieser Spender, der laut Garrett viele Einheimische ihrer Würde und ihres Selbstbestimmungsrechts beraubte.

«Ich erinnere mich an ein Auffanglager mit Obdachlosen, das in Folge starker Regenfälle total unter Wasser stand. Die Leute warteten darauf, bezahlt zu werden, um Kanäle zur Entwässerung ihrer Zelte zu bauen. Ich weigerte mich, aber sie wussten, dass bestimmt irgendwann eine andere Organisation kommen wird, die auf ihre Forderungen eingeht», erinnert er sich.

«Das ist vielleicht die wichtigste Lektion, die wir aus dem Tsunami lernen müssen», meint Garrett. «Denn der Erfolg eines Projekts hängt nicht allein vom investierten Geld ab, sondern vom Prozess, wie das Geld eingesetzt und verteilt wird. Verantwortlich für diesen Prozess sind die Geber, nicht die Nehmer.»

* Natthaphol Wittayarungrote ist Redaktor der englischsprachigen Zeitung Phuket Gazette

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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