Sexarbeiterinnen ohne Lohn: Abtauchen ins Elend
Seit dem 16. März ist die Ausübung des "ältesten Berufs" der Welt verboten, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Ohne Einkommen haben Prostituierte manchmal weder genug Geld zum Wohnen noch zum Essen. Eine dramatische Situation, die einige in den Untergrund zu drängen droht.
Das Telefon von Alexandra, einer Sexarbeiterin in der französischsprachigen Schweiz, klingelt weiterhin. Am anderen Ende der Leitung sind Kunden, die ihre Dienste beanspruchen wollen. Wenn sie diese daran erinnert, dass die Regierung am 16. März die Ausübung der Prostitution bis auf weiteres verboten hat, um die Ausbreitung von Covid-19 zu bekämpfen, versuchen einige, sie dazu zu bringen, das Gesetz zu brechen.
Alexandra ist empört: «Diesen Leuten fehlt jegliches Bewusstsein. Ich hatte bereits aufgehört zu arbeiten, bevor die Behörden ein Verbot erliessen. Ich kann es mir nicht leisten, mich mit dem Coronavirus zu infizieren und meine Familie anzustecken. Mein Vater ist Diabetiker, er gehört zu jenen Menschen, bei denen ein erhöhtes Risiko zu Komplikationen besteht, wenn sie die Krankheit bekommen.»
«Wenn ich nicht im Haus eines Freundes wohnen könnte, würde ich auf der Strasse leben». Carlos
Die Corona-Krise bringt die Prostituierte in eine schwierige Situation, aber im Vergleich zu ihren Kolleginnen schätzt sie sich glücklich. Sie hat zwar ihr gesamtes Einkommen verloren, nicht aber ihr Zuhause. «Ich lebe mit meinem Freund zusammen, und wir kommen vorläufig über die Runden.»
Die meisten Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter in der Schweiz leben und arbeiten jedoch in Salons, die von einem Manager oder einer Managerin geführt werden.
«Einige meiner Kolleginnen wurden obdachlos, als ihre Etablissements geschlossen wurden. Andere konnten in ihre Herkunftsländer Ungarn, Moldawien oder Rumänien zurückkehren. Andere haben einen Freund oder einen Kunden, bei dem sie vorübergehend wohnen können», sagt Alexandra.
In der Schweiz gilt Prostitution als eine Form der rechtlich selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit, und die Einkünfte sind steuerpflichtig. Im Falle einer Pandemie haben Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung, die wegen der von der Regierung verfügten Massnahmen ihre Arbeit einstellen müssen, theoretisch Anspruch auf ErwerbsersatzentschädigungExterner Link. Dies ist bei Alexandra der Fall. «Ich denke, ich werde einen Antrag einreichen», sagt sie, obwohl sie mit dem Verfahren im Moment nicht sehr vertraut zu sein scheint.
Anders sieht es bei Carlos aus: Der lateinamerikanische Sexarbeiter ist seit drei Jahren in der Schweiz als Prostituierter tätig. Weil er seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert hat, kann er jetzt auch keine Erwerbsersatzentschädigung erhalten.
«Wenn ich nicht bei einem Freund wohnen könnte, wäre ich auf der Strasse», sagt der Mann, der nur Spanisch spricht. Und wenn sich die Situation wieder normalisiert hat, wird Carlos seinem Gastgeber Miete zahlen müssen.
Von der Prekarität in den Untergrund
Während Carlos und Alexandra vorübergehende Lösungen gefunden haben, drängt die prekäre Situation andere Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter dazu, illegal weiter zu arbeiten. Carlos hat Kollegen, die Stammkunden nach wie vor bedienen. Und Alexandra kennt Frauen, die sich in ihren Wohnungen prostituieren. «Ich sehe immer noch Anzeigen im Internet», sagt sie.
Einige Plattformen setzten jedoch während der Epidemie ihre Anzeigen aus. Ein Beispiel dafür ist die Schweizer Website KXY, welche Nutzer und Nutzerinnen ermutigt, stattdessen auf Telefonsex zu setzen.
>> Auch das Schweizer Fernsehen SRF berichtete über die prekäre Situation der Prostituierten in der Corona-Krise.
Eine der grössten Befürchtungen von Fleur de pavéExterner Link, einer Waadtländer Hilfsorganisation für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, ist, dass Frauen oder Männer untertauchen werden.
«Je versteckter die Prostitution, umso gefährlicher ist sie. Zusätzlich zum Coronavirus setzen sich Sexarbeiterinnen und –arbeiter der Gewalt aus oder riskieren, den Schutz ihrer Gesundheit zu vernachlässigen», erklärt die stellvertretende Direktorin des Vereins, Sandrine Devillers.
Stigmatisierung und Armut, doppelte Strafe
Um das Schlimmste zu vermeiden, gehen die Angestellten von Fleur de pavé weiterhin durch die Strassen von Lausanne (Kanton Waadt). Sie versuchen so, den Kontakt mit Sexarbeiterinnen aufrechtzuerhalten, sie an die Anweisungen der Behörden zu erinnern und ihre Bedürfnisse zu ermitteln. Es ist jedoch schwierig, mit jenen in Kontakt zu kommen, die sich zu Hause isolieren.
In den Büros von Fleur de pavé klingelt das Telefon immer öfter. «Ich brauche etwas zu essen», tönt es oft verzweifelt am andern Ende der Leitung. «Wir sind ein Verbindungsglied zu Organisationen, die Nahrungsmittelhilfe oder Notunterkünfte anbieten. Wir können den Betroffenen auch beim Kontakt zu den Behörden, bei administrativen Schritten helfen», sagt Devillers.
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Frauen mit einem 90-Tage-Schengen-Visum, die nur durch die Schweiz reisen, sind keine Seltenheit. Manchmal hindert die Sprachbarriere sie daran, Hilfe in Anspruch zu nehmen, die ihnen zusteht, aber es ist nicht nur das.
«Unsere Gesellschaft stigmatisiert Sexarbeiterinnen. Dies führt dazu, dass diese sich nicht legitimiert fühlen, um Unterstützung zu bitten, zum Beispiel indem sie in eine Suppenküche gehen», sagt die stellvertretende Direktorin von Fleur de pavé weiter.
Die Mehrheit der Sexarbeiterinnen in der Schweiz dürfte wohl keinen Anspruch auf Corona-Erwerbsersatzentschädigung haben, schätzt Devillers. Und jene, die Geld erhalten, werden eine Weile warten müssen, bevor sie dieses sehen. Fleur de pavé hat deshalb, wie andere ähnliche Vereinigungen in der Schweiz, eine SpendenkampagneExterner Link lanciert, damit die dringendsten Bedürfnisse gedeckt werden können.
Frauen auf der Strasse
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter dürften noch lange kein Licht am Ende des Tunnels sehen. «Die Prostitution wird wahrscheinlich eine der Aktivitäten sein, die am längsten verboten bleiben werden», schätzt Devillers. Je mehr Zeit vergeht, umso mehr könnte es zu dramatischen Situationen kommen, vor allem, was das Wohnen angeht.
Viele Prostituierte sind auf den guten Willen von Salonbesitzern angewiesen, die für die Nutzung ihrer Einrichtungen Miete verlangen. Als sie ihre Etablissements schliessen mussten, bewiesen einige Betreiber guten Willen und liessen die Sexarbeiterinnen weiterhin in ihren Salons wohnen, kostenlos. Andere hingegen zeigten sich unerbittlich.
«Unsere Gesellschaft stigmatisiert Sexarbeiterinnen. Diese fühlen sich nicht berechtigt, um Unterstützung zu bitten.»
Sandrine Devillers
Loïc, der Leiter eines Salons in Bulle, der von der Online-Nachrichtenseite Heidi.newsExterner Link interviewt wurde, unterstützt zwei in der Schweiz gestrandete Frauen: «Sie sind Rumäninnen, wohnen aber offiziell in Deutschland und Italien. Weil die Grenzen geschlossen sind, können sie nicht zurückkehren. Eine von ihnen war erst gerade hier bei mir angekommen und verfügt über keine Reserven. Ich biete ihr Essen an. Beide werden so lange kostenlos hier bleiben, wie nötig.»
Zu Beginn der Krise hatte Fleur de pavé einen Brief an die Manager der Salons geschrieben und sie um Verständnis gebeten und darum, ihren Mieterinnen vorübergehend einen kostenlosen Aufenthalt zu gewähren. «Doch wie lange werden sie mitziehen?», fragt sich Devillers, die damit rechnet, dass obdachlose Frauen bald bei ihrer Organisation anklopfen werden.
«Es ist leider so! Die Menschen am untersten Ende der sozialen Pyramide sind diejenigen, die in Krisenzeiten am meisten leiden», schliesst die stellvertretende Direktorin von Fleur de pavé.»
Ist Prostitution 2.0 eine Lösung?
Fleur de pavé ermutigt Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, sich für Online-Lösungen zu entscheiden. Der Verein hatte bereits 2018 einen Schritt in diese Richtung unternommen, indem sie mit der in Genf ansässigen Organisation Aspasie die Website «Call me to play» lancierte, ein Portal für Sex-Anzeigen, das für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter kostenlos ist und vom Bund subventioniert wird.
Bei dem Portal können sich die Prostituierten über ein geschlossenes Forum vernetzen oder sich bei Präventionsorganisationen Informationen oder Hilfe holen.
Die Plattform bietet jetzt nur noch Dienstleistungen via Webcam oder Telefon an. Auf einer speziellen SeiteExterner Link finden die Kunden oder Kundinnen und die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter Erklärungen, wie sie sexuelle Dienstleistungen aus der Ferne kaufen oder anbieten können.
«Wir haben auch Tutorials zusammengestellt, um die Prostituierten an die einzuhaltenden Regeln zu erinnern und ihnen zu erklären, wie sie sichere Zahlungswege einrichten können», sagt Sandrine Devillers, die stellvertretende Direktorin von Fleur de pavé.
* Die ricfhtigen Namen sind der Redaktion bekannt.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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