Folteropfern helfen, ihre Würde wieder zu erlangen
Das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes SRK ist in einem unauffälligen Gebäude in Wabern bei Bern untergebracht. Dort helfen Experten, traumatisierten Flüchtlingen, gesund zu werden.
Die Patienten leiden unter Angstzuständen, Schlaflosigkeit und Schmerzen. Meistens braucht es sehr viel Zeit, bis sie in der Lage sind, über die Grausamkeiten zu sprechen, die sie erlitten haben. Oft fühlen sie Schuld, Scham und Demütigung wegen der Folter.
Die Klinik, die das Schweizerische Rote Kreuz 1995 errichtet hat, wird von Angelika Louis geleitet. Sie und ihr Team von Psychiatern, Psychologen, Ärzten und Fürsorgespezialisten helfen den Folter- und Kriegsopfern, ihre traumatischen Erfahrungen zu bewältigen, gesund zu werden, Selbstbestimmung und Würde wiederzuerlangen.
«Wir können nicht ungeschehen machen, was passiert ist, aber wir können zuhören und ihnen helfen, mit dem schrecklichen Erlebnis fertig zu werden», sagt Angelika Louis gegenüber swissinfo.ch. «Unsere Aufgabe ist es, ihnen zu zeigen, wie sie ihre Geschichte in ihr neues Leben integrieren können.»
Um sich in ihrem Alltag zurecht zu finden, müssen die Opfer individuelle Strategien entwickeln. Darauf müssen sie sehr gut vorbereitet werden, weil selbst unscheinbare Ereignisse zu jeder Zeit Rückschläge auslösen können.
Systematische Gewalt
Rund ein Viertel der Flüchtlinge, die in der Schweiz Asyl suchen, seien in ihren Herkunftsländern Opfer systematischer Gewalt gewesen, sagt die Klinikchefin. Sie misstrauen zu tiefst jeder Autorität.
Regierungen in 101 Ländern hätten im letzten Jahr eigene Landsleute gefoltert, oft unter dem Vorwand, die nationalen Interessen zu verteidigen oder Terrorismus zu bekämpfen, sagt Patrick Walder, der bei Amnesty International Schweiz für Kampagnen gegen Folterungen zuständig ist.
2011 gab es eine deutliche Zunahme von dokumentierten Folterungen und Misshandlungen, sagt Walder. Systematische Gewalt werde oft gegen Leute angewendet, die sich an Protesten gegen die Regierung beteiligten – ein dramatisches Beispiel dafür sei Syrien.
«Folter und andere grausame, unmenschliche und entwürdigende Handlungen sind immer unrecht. Keine Umstände können sie rechtfertigen», sagt Walder gegenüber swissinfo.ch.
Folter werde nicht nur von autoritären Regimes angewandt. Einigen Ländern – insbesondere den USA (die Bush Administration tolerierte die Anwendung von «Water-Boarding» bei mutmasslichen Terroristen) – wirft der Amnesty-Vertreter vor, dass sie Folter unter gewissen Umständen als zulässig betrachteten.
Andere Länder nähmen ihre Verantwortung nicht wahr, würden Verdachtsfällen nicht nachgehen oder einfach bestreiten, dass Misshandlungen überhaupt vorkämen.
Die Therapeuten im Ambulatorium haben die schwierige Aufgabe, das Vertrauen der Flüchtlinge zu gewinnen, die in solchen Milieus der Gewalt und des Misstrauens misshandelt worden waren.
Schmerzhaftes Unrecht
Die Therapeuten erklären den Opfern zuerst, dass Folter eine Verletzung der Menschenrechte sei und dass ihnen schmerzhaftes Unrecht angetan worden sei. Es werde ihnen gesagt, dass es bereits eine grossartige Leistung sei, die Folter überlebt zu haben, sagt Angelika Louis.
In der Theorie sollte die Trauma-Therapie beginnen, wenn sich die Opfer in Sicherheit befinden. Für Flüchtlinge hiesse dies, dass ihnen Asyl zugesichert würde. Der Asylentscheid dauere in der Praxis meistens Monate oder Jahre, sagt Thomas Ihde-Scholl, medizinischer Direktor des Psychiatrischen Diensts am FMI-Spital Interlaken.
Rund 8 Prozent seiner Patienten seien Flüchtlinge, sagt Ihde-Scholl, dessen Spital Patienten aus drei Flüchtlings-Empfangszentren und einem Ausschaffungszentrum betreut. Viele Flüchtlinge aus Syrien hätten Foltererlebnisse erlitten, während Somalier oft vom Krieg traumatisiert seien.
«Unsere wichtigste Aufgabe ist es, sie zu stabilisieren, ihnen zu helfen, damit fertig zu werden», sagt Ihde-Scholl gegenüber swissinfo.ch. Sie beklagen sich über Angstzustände und Schlaflosigkeit. «Ohne Begleitung von Freunden oder Familienangehörigen wollen sie das Zentrum nicht verlassen.»
Ort der Hoffnung und der Angst
Einige Patienten schickt Ihde-Scholl in die Spezialklinik in Bern. Aber es sei schwierig, sie dazu zu ermutigen. «Bern ist weit entfernt für jemanden, der es nicht wagt, das Haus zu verlassen», sagt Ihde-Scholl. «Dort werden auch die Asylentscheide gefällt, und deshalb ist es auch ein Ort der Hoffnung und der Angst.»
Das posttraumatische Stress-Syndrom PTSD könne heute ziemlich erfolgreich behandelt werden. Die Therapien seien aber für Patienten aus westlichen Ländern, zum Beispiel für Vietnam- oder Golfkriegs-Veteranen entwickelt worden, sagt Ihde-Scholl. Für andere Kulturen sollten neue Behandlungen entwickelt werden.
Eines der Hauptprobleme sei, dass es die Patienten vermeiden würden, über ihr Trauma und über alles, was sie an die Foltererlebnisse erinnern könnte, zu sprechen. Das PTSD sei deshalb meistens chronisch, sobald mit der Therapie begonnen werde.
Trotzdem könnten Gespräche die Symptome lindern und den Patienten helfen, das Trauma aufzuarbeiten, sagt Julia Müller, Forschungsleiterin am Universitätsspital Zürich.
Müllers Team entwickelte ein Computer unterstütztes, audiovisuelles Hilfsmittel für Analphabeten. Einige Patienten würden es vorziehen, auf vertrauliche und furchterregende Fragen über Folter oder persönliche Reaktionen auf traumatisierende Erfahrungen zu antworten, wenn keine Therapeuten oder Dolmetscher anwesend seien.
Ein Gefühl von Normalität
Laut einer Studie unter der Leitung von Julia Müller leiden fast die Hälfte aller Asylsuchenden unter psychiatrischen Funktionsstörungen, meistens Depressionen oder PTSD. Kinder psychisch kranker Eltern mit Migrationshintergrund seien ebenfalls anfällig für mentale Erkrankungen.
Kinder seien von Traumata sehr betroffen, direkt oder indirekt, sagt Ihde-Scholl. «Sie nehmen die Gefühle ihrer Eltern wahr, deren Stress und Ängste, aber sie verstehen sie nicht. Oft haben sie Schuldgefühle, haben Albträume oder fürchten sich, schlafen zu gehen.» Ein Gefühl von Normalität wäre sehr wichtig für sie: Zur Schule zu gehen, zu spielen, Freundschaften zu schliessen. Das gilt zumindest in der Theorie.
In der Praxis ist diese Aufgabe viel schwieriger zu lösen. Heilpädagogin Marion Walting, die in Thun Flüchtlingskinder in Regelklassen integriert, arbeitet derzeit mit einem 12 Jahre alten Mädchen aus Tibet. In den ersten drei Jahren war das Mädchen absolut teilnahmslos.
«Wie wollen Sie einem traumatisierten Kind helfen, das nie gelernt hat zu vertrauen? Wir können nur versuchen, es zu überzeugen, dass ihm niemand ein Leid antun will und es hier sicher ist», sagt Marion Walting.
«Man kann ihre Erinnerungen nicht zerstören, aber man kann ihnen helfen, an eine positive Zukunft zu glauben, damit die schlechten Erinnerungen vielleicht abklingen».
Ambulatorien für Folter- und Kriegsopfer des Roten Kreuzes gibt es in Bern, Zürich, Genf und Lausanne. Seit ihrer Gründung wurden dort mehr als 6500 Opfer behandelt.
Bei den meisten Patienten handelt es sich um Asylsuchende im Alter zwischen 36 und 45 Jahren; rund zwei Drittel sind Männer.
Die Kliniken bieten heute auch spezialisierte Therapien für Kinder und Jugendliche an.
Fast die Hälfte der 653 Patienten, die im letzten Jahr behandelt wurden, warten auf einen definitiven Asylentscheid.
Sie kommen vor allem aus der Türkei, dem Nahen Osten, Osteuropa, Asien und Afrika.
In den Ambulatorien arbeiten Psychiater, Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzte und Fürsorgespezialisten.
In 20 Sprachen erhalten sie Unterstützung von Dolmetschern.
Wie in anderen Kliniken werden die Patienten hauptsächlich von Hausärzten eingewiesen. Die Kosten werden von den Krankenkassen zurückerstattet.
2011 gehörte fast die Hälfte des Anlagefonds der Klinik dem Schweizerischen Roten Kreuz, ein Fünftel trugen die Versicherungen bei, 16% die Regierung, 2% die UNO und 12% verschiedene Spender.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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