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Verzicht auf Balanceakt zwischen Familie und Beruf

29% der Frauen in der Schweiz zwischen 20 und 29 Jahren hätten gerne drei oder mehr Kinder. Keystone

Ein Gespräch mit zwei Schweizer Frauen, die sich dafür entschieden haben, auf den Balanceakt zwischen Beruf und Familie zu verzichten – und die mit ihrem Entscheid glücklich sind. Nur eine von ihnen wird am Muttertag gefeiert werden.

Stéphanie-Aloysia Moretti steht in der Wohnung, die sie als Junggesellenbude ihres Mannes bezeichnet und macht türkischen Tee.

Teure Krippenplätze und nicht genug Einrichtungen zur Betreuung von Kindern gehören nicht zu den Problemen, mit denen sich Moretti herumschlagen muss.

Stéphanie-Aloysia Moretti courtesy

Vor sechs Jahren beschloss die Direktorin der Stiftung Montreux Jazz Artists, ihr Arbeitspensum zu reduzieren, um in Paris zu studieren. Sie und ihr Mann vermieteten ihr Haus, ein umgebautes Kohlenlager in Vevey. Für sich behielten sie nur diesen kleinen, separaten Flügel.

Das Leben der 47 Jahre alten Moretti spielt sich einerseits in Vevey ab, andererseits in Paris, wo sie Philosophie, Kunstgeschichte und Anthropologie studiert und in einer Wohnung im lebhaften Marais-Quartier wohnt. Zu ihrem Leben in zwei Städten kommen Reisen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit; etwas, was mit Kindern unmöglich wäre.

«Ich dachte schon immer, ich würde keine Kinder haben», erklärt Moretti, die im Kanton Freiburg auf dem Land aufwuchs. Dort gab es keine Nachbarn und ausserhalb der Schule keinen Kontakt mit Kindern, bis ihr Bruder zur Welt kam, als sie sechs Jahre alt war.

Die Kinderfrage

«Ich weiss nicht, ob ich eifersüchtig war, aber ich sah wirklich nicht ein, wozu er gut sein sollte», sagt sie über ihren kleinen Bruder. Er habe in dem Zimmer, das die beiden teilten, jede Nacht geweint. Auch ihre Klassenkameradinnen hätten sie nicht interessiert.

Moretti traf ihren Mann Adrien, einen Bühnenbildner, als sie 25 Jahre alt war. Kurze Zeit später heirateten die beiden und waren sich einig, dass sie keine Kinder wollten.

Ein solcher Entscheid ist für junge Leute in der Schweiz eher selten. Nach einer ErhebungExterner Link des Bundesamts für Statistik im Jahr 2013 zum Thema «Familien und Generationen» wollten nur 6% der Frauen und 8% der Männer im Alter zwischen 20 und 29 keine Kinder.

Die Studie «Familien und Generationen» zeigte weiter, dass 29% der Frauen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren in der Schweiz drei oder mehr Kinder wollten. 62% der Frauen in dieser Altersgruppe möchten zwei Kinder, 3% eines.

Ein etwas anderes Bild zeigt sich, wenn man die Antworten der Altersgruppe zwischen 50 und 59 Jahren anschaut: 22% dieser Frauen haben drei oder mehr Kinder, 42% haben zwei Kinder, 16% ein Kind.

Am Anfang fand es Moretti nicht schwierig, die Frage abzuwiegeln, ob sie Kinder haben wollte, da sie und ihr Ehemann noch relativ jung waren. «Aber ich hatte immer das Gefühl, dass es als zwangsläufiger Schritt betrachtet wurde, als ob es die Pflicht einer Frau wäre, Kinder zu kriegen», erklärt sie.

In späteren Jahren konsultierte sie einen Psychiater, um die Überzeugung ihrer Schwiegereltern zu zerstreuen, dass mit ihr «etwas nicht stimmte». Er erstellte ein medizinisches Gutachten, in dem er bestätigte, dass sie kein pathologisches Problem hatte, aber einfach kein Interesse, Kinder zu haben. Sie gab das Gutachten ihrer Schwiegermutter – womit das Thema vom Tisch war.

Führen Kinder zum Glück?

«Ich denke, der soziale Druck ist sehr stark», sagt Moretti. Grundsätzlich hätten die Menschen in der Schweiz Respekt für die Privatsphäre anderer. Das sei aber nicht der Fall, wenn es um die Frage der Familiengründung gehe. «Alle fühlen sich berechtigt, einem dazu Fragen zu stellen», erklärt sie. «Das geht aber niemanden etwas an.»

Der Erhebung des Bundesamts für Statistik zufolge haben 59% der Männer und 65% der Frauen, die zwischen 20 und 80 Jahre alt sind, leibliche Kinder. Fast gleich viele – 55% der Männer und 60% der Frauen – glauben aber, dass man auch ohne Kinder ein glückliches und erfülltes Leben führen kann.

Ungeachtet ihres eigenen Entscheids findet Moretti, dass die Schweiz mit ihrer alternden Bevölkerung das Leben für arbeitende Mütter nicht einfacher mache, sei ein strategischer Fehler. «Ich denke, es ist schrecklich, dass Kinder ein Luxusprodukt sind», sagt sie. «Ich habe Kollegen, Kolleginnen, die pro Monat 2500 Franken in die Kinderbetreuung stecken müssen, weil beide Eltern arbeiten.»

Andrea Sidler swissinfo.ch

Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) entsprechen die Bruttokosten für die Vollzeitbetreuung eines Kindes unter zwei Jahren in der Schweiz 67% eines Durchschnittsalärs, die teuerste Kinderbetreuung weltweit. Auch nach Abzug finanzieller und steuerlicher Vorteile verschlingen die Nettokosten noch 30% eines durchschnittlichen Lohns.

Etwa zwei Kilometer entfernt von Morettis Zuhause in Vevey entschuldigt sich Andrea Sidler für die Unordnung in ihrer Wohnung. Für das Zuhause einer sechsköpfigen Familie ist es bemerkenswert ordentlich. Sidlers Kinder, 21, 19, 15 und 6 Jahre alt, sind alle nicht da, und sie hat ein paar Stunden für sich, bevor sie das jüngste Kind zum Mittagessen von der Schule abholen muss.

Sidler wuchs in Zürich auf und machte eine Lehre als Papeterie-Verkaufsassistentin. Sie kam in den Kanton Waadt, um Französisch zu lernen und traf dort ihren Ehemann Georges, einen selbständig arbeitenden Maler und Dekorateur. Ihr erster Sohn kam zur Welt, als sie 24 Jahre alt war.

«Für mich war damals klar, dass ich später einmal wieder ins Berufsleben zurückkehren würde, da wir unser erstes Kind schon sehr früh hatten», erklärt sie.

Arbeitende Mütter – zahlt sich das aus?

Aber jetzt, im Alter von 46 Jahren, sieht Sidler nicht viel Sinn darin, ins Berufsleben zurückzukehren. «Erstens weiss ich nicht, ob ich es schaffen würde, Arbeit und Familie unter einen Hut zu bringen», sagt sie. «Zweitens rechnete ich aus, dass wir mit dem Geld, das ich verdienen würde, und mit dem, was wir für die Kinderbetreuung ausgeben müssten, letztlich mehr Steuern zahlen müssten.»

Wer will Kinder?

Bei Frauen mit einer tertiären Ausbildungsqualifikation in der Schweiz ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Kinder haben werden, geringer als bei anderen: 30% der Frauen dieser Kategorie haben keine Kinder, bei Frauen mit einer Sekundärausbildung der Stufe II (Matura, Lehre) fällt der Anteil auf 17%, bei Frauen, die nach der obligatorischen Schulzeit keine weitere Ausbildung machten, sind es 13%.

In Haushalten, die aus einem Paar und mindestens einem Kind bestehen, arbeiten 72% der Mütter, aber die meisten davon Teilzeit. 60% der Kinder bis zum Alter von 12 Jahren haben irgendeine Art von Tagesbetreuung.

Die institutionellen Angebote für Kinderbetreuung sind allerdings – falls überhaupt erhältlich – nicht immer erschwinglich oder nicht kompatibel mit den Arbeitszeiten der Eltern. Die am weitesten verbreitete Betreuungsart ist die Betreuung zu Hause (Au-pair, Kindermädchen, Babysitter, Verwandte, Freunde oder Nachbarn), unabhängig vom Alter der Kinder.

Sidler gehört zu den 19% Müttern in der Schweiz, die mit einem Partner leben und nicht zum Haushaltseinkommen beitragen. Nur in leicht mehr als einem Zehntel der Haushalte, die aus einem Paar mit Kindern bestehen, beträgt der Lohn der Mutter 50% oder mehr des Familieneinkommens. Diese Zahl ist nicht überraschend, denn 63% der Mütter mit Kindern im Alter unter 25 Jahren arbeiten Teilzeit. Nur 17% haben eine Vollzeitstelle.

Manchmal fühlt sich Sidler zwar etwas schuldig, dass ihr Mann der einzige Brotverdiener im Haushalt ist, glaubt aber, dass ihre Präsenz zu Hause für die Kinder wichtig ist. «Wenn wir am Mittag am Tisch sitzen, sprechen sie über viele Dinge, teilen einander viel mit», erklärt sie.

Mit vier Kindern im Haus haben sie und ihr Mann kein grosses Privatleben, aber das scheint sie nicht zu stören.

«Wir wissen, dass dies eine Zeitspanne ist, die vorübergehen wird», sagt sie. «Für junge Kinder ist es wichtig, dass wir präsent und für sie da sind, auch wenn Leute mir sagen, dem sei nicht so.»

Sidler erklärt, sie habe heute mehr Vertrauen in ihre Entscheidung, denn sie könne sehen, dass es positive Auswirkungen auf ihre Kinder habe, dass sie für sie zu Hause sei. «Es gibt Mütter, die mir sagen, dass ich Glück hätte, und sie das Gleiche tun würden, wenn es finanziell möglich wäre», erklärt sie. «Andere hingegen sagen, sie könnten das nicht tun.»

Sie ist der Ansicht, dass jede Frau ihre eigene Wahl treffen und entscheiden muss, was für sie am besten ist. Was ihr wichtig ist, ist Kindern jeden Alters sinnvolle Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen und ihnen zuzuhören.

«Ich habe die unterschiedlichsten Familiensituationen gesehen, und die Kinder sind aufgewachsen und es geht ihnen gut», erklärt sie. «Auch meine Kinder werden beeinflusst von der Art und Weise, wie ich sie grossziehe, und sie werden mich sicher auch dafür beurteilen. So etwas wie die eine ideale Familiensituation gibt es nicht.»

Krippenvergleich

In Deutschland, Frankreich und Österreich sind alle Krippenplätze subventioniert, die Eltern zahlen je nach Land einen Höchstbetrag zwischen 14% und 25% der effektiven Kosten. Die Schweiz subventioniert nur gewisse Krippenplätze. Im Kanton Waadt zahlen Eltern im Durchschnitt 38% der Gesamtkosten eines Krippenplatzes, in Zürich ist es etwa ein Drittel.

In Schweden, wo die Familienpolitik darauf abzielt, das Modell der Doppelverdienerfamilie zu unterstützen und gleiche Rechte und Pflichten im Bereich von Familie und Berufsleben sicherzustellen, ist die öffentliche Kinderbetreuung für alle Eltern garantiert.

Vorschulische Einrichtungen sind stark subventioniert, die Eltern müssen für etwa 11% der Gesamtkosten aufkommen. Die Gebühren, die proportional zum Einkommen der Eltern berechnet werden, können bis zu 3% des Monatseinkommens einer Familie betragen, aber nicht mehr als 1269 SEK (etwa 151 Franken) pro Monat. Dies hat zur Folge, dass 55% der Kinder unter drei Jahren und 96% der Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren bei einer offiziellen Kinderbetreuungsstätte angemeldet sind.

2003 führte die Schweiz ein Impulsprogramm zur Schaffung zusätzlicher Plätze für die Tagesbetreuung von Kindern ein, damit Eltern Erwerbsarbeit und Familie besser vereinbaren können. Die Dauer des Programms wurde vom Parlament seither zweimal verlängert, beim letzten Mal bis 2019. Bis Juli 2015 konnten im Rahmen des Programms 48’500 neue Plätze geschaffen werden.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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