«Der Geist von Charlie Hebdo ist völlig verschwunden»
Die französische Satirezeitung Charlie Hebdo hat den Anschlag überlebt, bei dem am 7. Januar 2015 zwölf Menschen auf der Redaktion ermordet wurden. Der Schweizer Karikaturist Thierry Barrigue glaubt, dass der "Geist von Charlie" nicht überlebt habe. "Die Angst hat gesiegt", sagt er.
«Ich bin Charlie.» Mit diesen drei Worten stand die Welt nach dem Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo für einen kurzen Moment zusammen, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen.
Der Geist dieses Zusammenhalts kam aber schnell zum Erliegen, erstickt durch die Diktatur des Internets und die Gesetzmässigkeiten der Medien. Thierry Barrigue, der Gründer der satirischen Wochenzeitung Vigousse in der Westschweiz, macht sich Sorgen um die Zukunft der Pressekarikatur.
swissinfo.ch: Hat sich der Beruf des Pressekarikaturisten fünf Jahre nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo verändert?
Thierry Barrigue: Ja, der Beruf hat sich enorm verändert. Abgesehen vom Verlust dieser Freunde und ihres unersetzlichen Talents bei dem Anschlag, haben die Pressekarikaturen insgesamt einen schweren Schlag erlitten. Dem Beruf geht es sehr schlecht wegen der Selbstzensur und Zurückhaltung, die sich die Presseverleger auferlegen.
Die Zeitungen kämpfen ums Überleben oder verschwinden sogar. Karikaturisten schaffen es nicht mehr, von ihrem Beruf zu leben oder sie publizieren, indem sie sich den Zwängen des Internets beugen oder sich jenen Personen unterwerfen, die eine erbärmliche Vorstellung von Pressefreiheit haben.
Internationale Pressekarikaturisten haben kürzlich eine Petition gestartet, um unser Handwerk in das immaterielle Unesco-Weltkulturerbe aufzunehmen. So schlimm steht es heute um unseren Beruf.
swissinfo.ch: Was muss getan werden, um diese Meinungsfreiheit zu sichern?
T.B.: Wir können nicht mehr nur in unserem Kämmerlein auf ein Blatt Papier zeichnen. Wir müssen hinausgehen, auf die Strasse, in die Schulen, um die Zukunft der Presseillustration zu sichern.
Wir müssen die Meinungsfreiheit und das kritische Denken in die Lehrpläne der Schulen aufnehmen, um eine neue Generation auszubilden, welche die Pressekarikaturen als wesentlich für eine Demokratie betrachtet.
«Die Angst ist ein schlechter Ratgeber, wenn es darum geht, die Meinungsfreiheit voranzubringen.»
swissinfo.ch: Die satirische Wochenzeitung Charlie Hebdo hat die Angriffe überlebt, aber ist der Geist von Charlie noch am Leben?
T.B.: Nein, der berühmte Ausdruck «Ich bin Charlie» hatte die Dauer einer grossen Demonstration in Paris, in Anwesenheit von Staatsoberhäuptern, die Karikaturisten in ihren eigenen Ländern einsperren. Der Geist von Charlie war eine kurze Gefühlsregung. Er lebt noch ein wenig weiter durch die Satirezeitung. Nach dem Anschlag war Charlie Hebdo wirtschaftlich am Boden. Dank Spenden hält sich die Zeitung am Leben.
In den Köpfen der Menschen ist der Charlie-Geist jedoch völlig verschwunden, denn wir befinden uns in einer Gesellschaft, die eine berechtigte Angst vor der Zukunft hat. Die Zeitungen vermeiden es, Pressekarikaturen zu veröffentlichen, weil sie sich vor der Reaktion des Internets fürchten, vor anonymen Nutzern. Aber die Angst ist ein schlechter Ratgeber, wenn es darum geht, die Meinungsfreiheit voranzubringen, im Gegenteil: Sie wird zurückgedrängt.
swissinfo.ch: Hat die Angst gesiegt?
T.B.: Ja, leider. Ich sage das mit starken Emotionen in meiner Stimme. Unter den Kollegen sind wir uns einig, aber der Mangel an Unterstützung durch die Bevölkerung und die Gesellschaft ist eklatant. Es gibt immer noch einen Teil der Bevölkerung, der Humor mag. Wir haben unser Publikum, aber das reicht nicht, um Karikaturisten am Leben zu erhalten.
«Wir sind den Ermordeten zu Dank verpflichtet. Sie sind unter uns. Wenn wir zeichnen, denken wir an sie.»
swissinfo.ch: Gibt es in der Schweiz in Bezug auf Charlie Hebdo auch ein Vorher und Nachher, innerhalb der Redaktion von Vigousse?
T.B.: Das Gegenteil zu behaupten, wäre heuchlerisch. Wir veröffentlichen keine Cartoons mehr mit der gleichen Leichtigkeit, die wir in den 1970er- und 1980er-Jahren hatten. Es gibt notwendigerweise eine Art Bewusstsein für die Verantwortung, die wir haben, wenn wir dieses oder jenes Thema zeichnen. Wir sind den Ermordeten zu Dank verpflichtet. Sie sind unter uns. Wenn wir zeichnen, denken wir an sie.
swissinfo.ch: Arbeiten Schweizer Karikaturisten unter Angst?
T.B.: Ich hoffe nicht, aber vielleicht sind wir weniger virulent. Bei Vigousse haben wir nie im gleichen Stil wie Charlie Hebdo gezeichnet, weil wir ein Schweizer und kein französisches Publikum haben. Wir hatten sowieso einen anderen Ansatz.
Da wir in der Schweiz nicht direkt bedroht sind, haben wir keine Angst. Wir sind uns jedoch bewusst geworden, dass die Zeichnung eine Trägerin des Unverständnisses ist, die das Leiden der Gesellschaft und der Welt offenbart. Damit wird uns eine zusätzliche Verantwortung auferlegt.
swissinfo.ch: Was ist der Unterschied zwischen einem Schweizer und einem französischen Publikum?
T.B.: Es wird immer gesagt, dass die Franzosen lustiger und provokativer sind als die Schweizer, aber das stimmt nicht. Nach zehn Jahren Pressekarikaturen in Paris und 40 Jahren in der Schweiz habe ich hier mehr Freiheit und weniger Zensur erlebt.
In der Schweiz gibt es mehr Toleranz und Akzeptanz für das Denken anderer Menschen. Entgegen der landläufigen Meinung sind die Schweizer lustig. Es beginnt mit unserer Bundespräsidentin, die von ihrer Bäckerei aus Grüsse an die Bevölkerung sendet und damit im Ausland für Aufsehen sorgt. Wir haben ein System, das uns viel Freiheit lässt.
Charlie Hebdo prangert die «neue Zensur» an
Die französische Satire-Zeitung veröffentlicht am 7. Januar eine spezielle Jubiläumsausgabe. Sie greift die «neuen Gurus des normierten Denkens» an und gibt den Angehörigen der Opfer eine Stimme.
«Gestern haben wir Gott, die Armee, die Kirche und den Staat verarscht. Heute müssen wir lernen, tyrannische Vereinigungen, egozentrische Minderheiten zu verarschen», kritisiert Chefredakteur «Riss» in seinem Leitartikel.
«Heute zwingt uns die politische Korrektheit geschlechtsspezifische Schreibweisen auf und rät uns, keine Wörter zu verwenden, die angeblich störend sind […]», fügt er hinzu und geisselt die «neuen Zensoren», die «sich für die Könige der Welt hinter der Tastatur ihres Smartphones halten». «Die Feuer der Hölle von gestern sind den Tweets von heute gewichen», schreibt er.
Die Titelzeichnung hat Cartoonistin «Coco» gezeichnet: ein riesiges Smartphone mit den Logos der grossen sozialen Netzwerke, das mit der Überschrift «Neue Zensuren… Neue Diktaturen» Zunge und Arme eines Karikaturisten zerdrückt.
Nach der Ermordung seiner Stützen musste sich die Redaktion so gut wie möglich wiederaufbauen. Jeder Jahrestag lässt das Trauma aufleben. Und das Jahr verspricht ein schwieriges für das Team zu werden, weil im Mai der Prozess gegen die Komplizen des Massakers stattfinden wird. Charlie Hebdo wird deshalb erneut die Gemüter erhitzen.
(Quelle: RTS)
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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