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Für das Recht der Kinder, Lärm zu machen

RDB

Die Geräusche spielender Kinder mögen für viele Leute herzerwärmend sein. Aber in der Schweiz, wo einer von sechs Bewohnern unter einem schädlichen Lärmpegel leidet, ist Kinderlärm ein ständiger Grund für Klagen. Nun wird das Thema zum Politikum.

Deutschland hat im letzten Jahr den Kinderlärm gesetzlich geschützt und damit einer Welle von Gerichtsklagen gegen Kinderspielplätze und -Tagesstätten ein Ende gesetzt. Nun verlangen Aktivisten in der Schweiz eine ähnliche Gesetzesreform.

Okaj, die Dachorganisation der Schweizer Jugend- und Kindervereinigungen mit Sitz in Zürich, die dem Thema zu einer breiteren Beachtung verhelfen will, forderte Ende 2012 bei einer Medienkonferenz eine Änderung der Lärmschutzverordnung, damit Kinderlärm nicht mehr einklagbar wäre.

«Wir verlangen, dass öffentliche Plätze als Ausbildungsräume betrachtet werden», sagt Ivica Petrusic von Okaj gegenüber swissinfo.ch.

«Was dort geschieht, ist für die gesamte Entwicklung der Kinder und jungen Leute wichtig. In diesen Räumen erfahren sie, wie die Gesellschaft funktioniert, wie man sich verhalten muss und wo sich die Grenzen befinden», sagt er.

Für Petrusic und seine Kollegen geht es darum, gegen die zunehmende Intoleranz bei diesem Thema Position zu beziehen.

«Jeder Konflikt, der auf öffentlichem Grund entsteht, wird immer als negativ empfunden. Darunter leiden meistens die Kinder und Jugendlichen. Sie werden vertrieben, erhalten Zutrittsverbote, und unter 16-Jährige dürfen sich nach 22 Uhr nicht mehr draussen aufhalten. Diese Entwicklung beunruhigt uns.»

Nächtliche Ausgehverbote für unter 16- oder unter 14-Jährige wurden in einigen Schweizer Gemeinden eingeführt, darunter in Biel, Interlaken und Kehrsatz im Kanton Bern, sowie im aargauischen Zurzach.

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Fragestunde

Inzwischen haben zwei Mitglieder des Zürcher Kantonsparlaments, Philipp Kutter von der Christlichdemokratischen Volkspartei und Johannes Zollinger von der Evangelischen Volkspartei bei der Kantonsregierung die Frage eingereicht, ob das Spielen der Kinder ausreichend geschützt sei.

«Kinder und Jugendliche werden von ihren Treffpunkten und Spielplätzen auf öffentlichem Grund verdrängt», beklagen sie in ihrer gemeinsamen Eingabe. «Kinder werden … bei ihren rekreativen Aktivitäten mehr und mehr eingeschränkt. Spielplätze werden abends geschlossen, rechtliche Massnahmen werden ergriffen, um dort das Fussballspielen zu beschränken oder ganz zu verbieten.»

Die Kantonspolitiker beziehen sich unter anderen auf einen Fall in Wädenswil im Kanton Zürich, wo das Gericht eine Lärmklage von Bewohnern guthiess und verfügte, dass die Tore auf dem Schulsportplatz an Wochenenden derart angekettet werden müssen, dass die Kinder nicht mehr in Richtung der Wohnhäuser Fussballspielen können.

Alltags- und Freizeitlärm, wie jener von Kirchen, Spielplätzen oder Altglascontainern, wird im Umweltschutzgesetz und in der Lärmverordnung geregelt. Aber für diese Form der Störung oder des akustischen Genusses sind keine Grenzwerte festgelegt worden. Solche gibt es nur für Flugzeug-, Zugs-, Strassen-, Industrie- und Schiesslärm.

Für alle andern Geräusche gilt, dass sie keine erheblichen Störungen der Bevölkerung verursachen dürfen. Geurteilt wird von Fall zu Fall.

Art. 684 des Zivilgesetzbuchs schützt die Nachbarn vor schädlichem und lästigem Lärm. Auch in diesem Bereich muss bei Streitigkeiten von Fall zu Fall geurteilt werden.

Einige kommunale Behörden haben Ruhezeit-Vorschriften erlassen. Während diesen Stunden – nachts oder über die Mittagszeit – gelten erhöhte Lärmschutzbestimmungen.

(Quelle: Laerm.ch)

Keine Änderung möglich

In ihrer schriftlichen Antwort auf den parlamentarischen Vorstoss teilte die Kantonsregierung im Februar mit, dass keine Änderungen möglich seien. Das Lärmschutzrecht sei auch auf Treffpunkte und Spielplätze junger Leute anwendbar. Eine gesetzliche Regelung, bei der Kinderlärm nicht mehr als störend zu betrachten wäre, lasse sich nicht auf kantonaler Ebene einführen.

Petrusic will darin einen Widerspruch erkennen: «Einerseits verlangt die Gesellschaft im Kampf gegen Übergewicht einen gesünderen Lebensstil der Kinder, also aktive junge Leute. Andererseits beschränkt sie den Spielraum dort, wo die Aktivitäten ausgetragen werden.»

Eine nationale Lärmstudie aus dem Jahr 2010 kommt zum Schluss, dass:

– 420’000 Personen in unmittelbarer Nähe von störenden Lärmquellen arbeiten

– 600’000 Wohnungen stark Lärm belastet sind

– 1,3 Millionen Menschen schädlichem Lärmniveau ausgesetzt sind

– die Lärmbelastung eines der grössten Umweltprobleme des Landes ist.

(Quelle: Empa)

Frühlingseffekt

In dieser Jahreszeit, in der sich die Menschen jeden Alters wieder öfters im Freien aufhalten, rüsten sich die kantonalen Umweltämter gegen eine Flut von Lärmklagen. Unter diesen Störungen figuriere regelmässig der Kinderlärm, sagt Markus Chastonay vom Cercle Bruit, der Schweizerischen Vereinigung kantonaler Lärmschutzfachleute, gegenüber swissinfo.ch.

«In der Vergangenheit gab es oft Probleme im Zusammenhang mit Industrielärm, aber jetzt dominieren Klagen aus den Wohngebieten. Das Schweizer Mittelland ist zu einer grossen Siedlung geworden. Wir leben immer dichter beisammen, und die Menschen haben immer weniger Verständnis für die anderen», sagt Chastonay, der beim Solothurner Umweltamt tätig ist.

In einem Interview mit der Zeitung Tages-Anzeiger sagte Stefan Ritz, Kinder- und Jugendbeauftragter in Dübendorf, es sei fast unmöglich geworden, neue öffentliche Spielplätze einzurichten. «Die Leute setzen alle Hebel dagegen in Bewegung. Vielfach haben sie kein Verständnis», sagt Ritz. Dübendorf hat deshalb einen Bus gekauft, der im Sommer als mobiler Spielplatz eingesetzt wird.            

Im Umweltschutzgesetz gelten Spielplätze als Freizeitorte, was bedeutet, dass die dort erzeugten Geräusche so weit wie möglich beschränkt werden müssen. Aber es gibt keine Lärmobergrenze, die durchgesetzt werden kann. Bei Rechtsstreitigkeiten wird von Fall zu Fall geurteilt.

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Klagen

Laut Caroline Märki-von Zeerleder von der Familienwerkstatt Familylab mit Sitz in Männedorf im Kanton Zürich, basiert das Problem auf verschiedenen Bedürfnissen und Beziehungen zwischen den Generationen.

«Es ist eine Tatsache, dass Kinder laut spielen, und es ist eine Tatsache, dass ältere Leute Ruhe und Ordnung bevorzugen. Die Bedürfnisse sind berechtigt, aber sie passen nicht zu einander. Eine Lösung findet man nur durch einen auf Respekt basierenden Dialog.»

Leider geschehe dies nicht oft genug, sagt Märki-von Zeerleder. In Konfliktfällen beobachtet sie häufig einen Willensmangel seitens der älteren Leute, ihre Einstellung den Kindern anzupassen. «Sie vertreten den Standpunkt, dass ihnen aufgrund ihres Alters Respekt gebühre und die Kinder zu gehorchen hätten. Damit stossen sie bei der neuen Generation auf Widerstand, weil sich die Sitten geändert haben.»

Einige Streitigkeiten sorgen für Schlagzeilen in Regionalzeitungen – wie etwa jene über die Montessori-Schule in Zug, deren Erweiterungspläne wegen Einsprachen aus der Nachbarschaft blockiert sind. Die meisten alltäglichen Auseinandersetzungen um Kinderlärm bleiben von der Öffentlichkeit aber unbemerkt.

Der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler hatte Kinderlärm einst als «Zukunftsmusik» bezeichnet. Diese Einschätzung teilen aber längst noch nicht alle Leute.

(Übersetzung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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