Fukushima: «Eine menschliche Tragödie»
Ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima hat die Umwelt-Organisation Greenpeace Japaner aus der betroffenen Region in die Schweiz eingeladen. Mit diesem Besuch wollte Greenpeace Schweiz der AKW-Katastrophe "ein menschliches Gesicht geben".
Die Umgebung könnte kaum schöner sein. Wir stehen direkt an der Aare im Abendlicht. Der Fluss zieht friedlich an uns vorbei.
Direkt gegenüber, am anderen Ufer der Aare, steht das 40-jährige Kernkraftwerk Mühleberg, rund 13 km entfernt vom Zentrum der Hauptstadt Bern.
«Ich bin erstaunt, dass wir so nahe an ein AKW herangehen dürfen», sagt Satoshi Nemoto, Teilzeitbauer aus der Nähe der Stadt Fukushima. «In Japan wäre sofort die Polizei gekommen.»
Zusammen mit dem Biobauern Walter Ramseier hat Nemoto zuvor darüber diskutiert, wie es ist, in der Nähe eines Atomkraftwerks zu leben. Wobei Nähe ein relativer Begriff ist: Sein Betrieb befindet sich in 60 km Entfernung zum AKW Fukushima Daiichi.
Nemoto und die Englischlehrerin Yuko Nishiyama wurden von Greenpeace in die Schweiz eingeladen, um an verschiedenen Veranstaltungen über die Lage in Japan zu informieren.
Die Umwelt-Organisation Greenpeace wolle mit dieser Aktion zeigen, dass «eine AKW-Katastrophe immer und in erster Linie eine menschliche Tragödie ist», erläutert Franziska Rosenmund, Medienbeauftragte bei von Greenpeace Schweiz.
Rund zwei Wochen nach der Visite aus Fernost befristete das Schweizer Bundesverwaltungsgericht die Betriebsbewilligung für des AKW Mühleberg bis Juni 2013. Der Entscheid fiel mit Blick auf Risse im Kernmantel und Mängel bezüglich Erdbebensicherheit sowie ausreichende Kühlung in Notfällen.
Ob Mühleberg tatsächlich schon in gut einem Jahr vom Netz geht, hängt davon ab, ob das Urteil ans Bundesgericht in Lausanne weitergezogen werden wird.
Verstrahlter Reis
Bis zur Reaktorkatastrophe pflanzte Nemoto Reis, Gemüse und Khakifrüchte an. Doch seither kann er seinen Reis nicht mehr verkaufen. Letztes Jahr produzierte er nur noch für den Eigenbedarf.
In der Stadt Nihonmatsu, wo er lebt, seien im Reis über 500 Becquerel Strahlung gemessen worden, sagt er. «Auch wenn der Reis nicht verstrahlt wäre, würden die Konsumenten ihn nicht mehr kaufen, weil er aus der Region Fukushima stammt.»
Ähnliche Probleme hat Biobauer Ramseier, dessen Betrieb nur knapp 1 km Luftlinie vom AKW Mühleberg entfernt ist: «Als die Leute hörten, dass wir direkt neben einem Atomreaktor Biogemüse anpflanzen, haben sie sich an den Kopf gegriffen und gesagt, das passe nicht zusammen. Wir hatten finanzielle Einbussen.»
Früher habe man noch vieles geglaubt. Jetzt aber habe er «immer mehr Angst», sagt der 68-Jährige, der seit 1979 biologisch anbaut. Er zeigt sich erstaunt über Nemotos Erklärungen, dass in Japan derzeit von 54 Atommeilern noch 2 am Netz sind und auch bald abgeschaltet werden sollen. Für Ramseier ist klar, dass nun der Moment gekommen ist, auf alternative Stromproduktion umzustellen.
«Jetzt umdenken»
Eine Richtungsänderung, die sich auch der 55-jährige Nemoto wünscht. Als Präsident des lokalen Bauernverbandes «Nomiren Fukushima» setzt er sich für die Entschädigung der Landwirte ein und vertritt deren Anliegen gegenüber den Behörden.
Die japanischen Bauern in den betroffenen Gebieten müssten jetzt umdenken, sagt er: «Die kontaminierten Felder könnte man auch für erneuerbare Energien nutzen. Wir müssen nicht zurück, sondern in die Zukunft schauen. Dieses Umdenken macht mir sogar Spass!»
Dass die Abschaltung der Kernkraftwerke grosse Auswirkungen auf Japan haben wird, glaubt Nemoto nicht. Die Bevölkerung nehme seit 2006 ab und brauche immer weniger Energie. Daher sei Fukushima eine Chance, zu zeigen, wie man in einer «smarten» Gesellschaft leben könne.
Nemoto interessiert sich besonders für die Schweiz, weil dieses Land kurz nach der Katastrophe von Fukushima den Atomausstieg beschlossen hat. Das habe ihn gefreut. Er erwartet daher, dass die Schweiz eine Botschaft in Richtung Japan sendet: » Atomkraft und Menschen – das geht nicht zusammen.»
Dabei hatte er vor der Katastrophe noch an die von den japanischen Behörden bekräftigte «absolute Sicherheit» der Technologie geglaubt. «Nach der Explosion sah man die Hilflosigkeit, und man wusste nicht, was im Kraftwerk drin geschehen war.» Für ihn wurde klar: «Die Atomkraft ist durch den Menschen nicht kontrollierbar.»
«Ein Familienproblem»
Die Übersetzerin und Englischlehrerin Yuko Nishiyama ist eine der sogenannten «freiwillig Evakuierten», die nicht in der heutigen Sperrzone von 20 km um das AKW herum lebten und die Region trotzdem verlassen haben.
Der Entscheid, sich und ihre zweijährige Tochter Mariko aus Fukushima Stadt zu evakuieren, sei ihr sehr schwer gefallen, erzählt sie. Sie habe nur über ungenügende Informationen verfügt und sich gegen die Empfehlungen der Eltern, ihres Mannes und der Regierung durchsetzen müssen.
Die meisten der freiwillig Evakuierten sind Mütter mit kleinen Kindern, die um deren Gesundheit besorgt waren. In Kyoto hat Nishiyama letzten Dezember die Organisation «Minna no te» (Alle Hände) aufgebaut, um solchen Personen und deren Familien zu helfen.
Bis Juni 2013 kann sie mit ihrer Tochter in der ehemaligen Kaiserstadt, weit weg von Fukushima, in einer kostenlosen Unterkunft leben. Doch wie es danach weitergehen soll, steht in den Sternen.
«Ich will zusammen mit meinem Mann leben», sagt sie. «Aber an einem sicheren Ort.» In Fukushima City sei an ein normales Leben nicht mehr zu denken: Kinder etwa dürften nur eine Stunde im Freien spielen, danach müssten die Kleider gereinigt werden.
Daher habe sie nun ein «Familienproblem»: Ihr Mann will seinen Job in Ostjapan behalten, sie aber will in Westjapan bleiben. Gegenwärtig arbeitet ihr Mann in der Hauptstadt Tokio, die rund 250 km vom zerstörten AKW entfernt liegt. Er sei also auch in Sicherheit, bemerken wir. «Denken Sie, Tokio sei sicher?», fragt sie zurück.
Veränderung
«Es gab bereits vor Fukushima viele Unfälle. Die Verantwortlichen haben nie etwas erklärt, sondern es zu verstecken versucht.»
Daher habe sie gegenüber Atomkraftwerken und der Betreibergesellschaft Tepco nie ein gutes Gefühl gehabt. «Aber gleichzeitig bin ich Japanerin und glaubte, dass ich nichts verändern kann.»
Eine Lektion, die sie aus der Katstrophe gelernt habe, möchte die Japanerin den Schweizer Schulkindern weitergeben: «Sie müssen wissen, was in Fukushima passiert ist. Ich weiss jetzt: Sogar Kinder können die Welt verändern!»
Das Ausmass der Nuklearkatastrophe von Fukushima überschattet oft das grosse Leid, das nach dem grossen Erdbeben vor der Ostküste der japanischen Hauptinsel Honshu über tausende Familien hereinbrach.
Das heute als das grosse Tohoku-Erdbeben bekannte Seebeben ereignete sich am 11. März 2011 um 14:46 Ortszeit vor der Sanriku-Küste und erreichte eine Magnitude von 9,0. Es gilt als das stärkste je in Japan gemessene Erdbeben.
Der darauf folgende Tsunami verwüstete viele Dörfer und Städte und forderte über 15’000 Tote. Noch immer werden mehrere tausend Personen vermisst.
Als Folge der Überschwemmungen durch die Riesenwelle fiel im Kernkraftwerk Fukushima I die Kühlung in einigen Abklingbecken aus.
Am 12. März kam es zu einer ersten Wasserstoff-Explosion in Block 1; Tage später auch in Block 2 und 3. In der Folge erlitten alle drei Reaktoren eine teilweise Kernschmelze.
Nach einigem Zögern wurden schliesslich 150’000 Personen aus einer Zone von 20 km um das Kraftwerk herum evakuiert.
Die Sperrzone ist auch heute noch komplett abgeriegelt. Rund 80’000 Personen konnten nicht mehr in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren.
Der einwöchige Aufenthalt der beiden Personen aus Japan wurde von der Umwelt-Organisation Greenpeace Schweiz organisiert.
Er umfasste öffentliche Auftritte an verschiedenen Podiumsgesprächen in Genf, Bern, Langenthal, Langnau und Wohlen bei Bern (in der Nähe des AKW Mühleberg) sowie an Schulen.
Zudem trafen die beiden Japaner, die aus der Präfektur Fukushima stammen, Vertreter der schweizerischen Strahlensicherheits-Behörde des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und Vize-Nationalratspräsidentin Maya Graf.
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