«Fan-Identifikation durch Corona-Hintertür käme schlecht an»
Abgesehen von der deutschen Bundesliga, die ohne Publikum in den Stadien stattfindet, wird auf den meisten europäischen Plätzen nicht Fussball gespielt. In der Schweiz wird diskutiert, ob das Publikum künftig nur noch auf nummerierten Sitzen Platz nehmen darf. Ein Sportwissenschaftler zweifelt, ob das funktioniert.
Die Schweiz macht weitere Schritte zur Lockerung der Massnahmen gegen das Corona-Virus. Veranstaltungen mit bis zu 300 Personen sind ab dem 6. Juni wieder erlaubt. Bis mindestens Ende August verboten bleiben aber Anlässe mit mehr als 1000 Personen.
Auch in der Schweiz Geisterspiele
Am Freitag entscheidet die Generalversammlung des Schweizer Fussballverbands, ob die Saison für die Profiligen abgebrochen oder ab dem Wochenende vom 20. Juni vor leeren Rängen fortgesetzt wird.
Damit ist klar, dass die restlichen Partien der Profiligen (Super- und Challenge-League) der laufenden Saison ab dem Wochenende vom 20. Juni in Form von Geisterspielen – also vor weitgehend leeren Rängen – ausgetragen werden.
Für Verwirrung sorgte am Wochenende der Delegierte des Bundesamts für Gesundheit im Bereich Coronavirus, Daniel Koch. In einer SRF-Sportsendung sagte er, dass die Spiele der Profiligen mit Publikum unter Einhaltung gewisser Massnahmen, schon ab Juli möglich sein könnten. Heute betonte Koch, dass bei der künftigen Austragung der Spiele nummerierte Tickets das Wichtigste seien.
Sportwissenschaftler Roland Seiler kann sich Hardcore-Fans nicht auf Konzert-Bestuhlung vorstellen.
swissinfo.ch: Was halten Sie vom Vorschlag der Regierung, die Fussballstadien der Profiligen mit Publikum unter gewissen Bedingungen wieder zuzulassen?
Roland Seiler: Noch kann niemand mit Gewissheit voraussagen, was passieren kann, ob es eine zweite Welle gibt. Deshalb beurteile ich die schrittweise, nicht überstürzte Lockerung, wie sie der Bundesrat vorgibt, als wohlüberlegt.
Im Bereich des Profifussballs gibt es drei Varianten: die Saison abbrechen, was einige Clubverantwortliche fordern; eine Austragung der Spiele ohne Publikum, wie in Deutschland; oder ein Mittelweg mit Publikum.
swissinfo.ch: Welche Variante ist die beste für den Schweizer Profifussball?
R.S.: Der Sport lebt von Emotionen und der Leidenschaft. Fussballspiele in den höchsten Ligen ohne Publikum wären blutleer. Es gibt Erfahrungen mit Geisterspielen, die aus disziplinarischen Gründen durchgeführt werden mussten, und derzeit mit den Austragungen der deutschen Bundesliga.
swissinfo.ch: Sie zeigen, dass es möglich ist, oder nicht?
R.S.: Etwas Wesentliches geht verloren, wenn ein Team eine starke Leistung zeigt, ein wunderschönes Tor herausspielt – wie am Wochenende jenes des Bayernspielers Joshua Kimmich gegen Dortmunds Schweizer Goalie Roman Bürki – und dies keine Reaktion auf den Rängen auslöst, weil sie leer sind.
Fussball braucht ein Echo. Die Spieler auf dem Feld sind auf Rückmeldungen aus dem Publikum angewiesen.
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swissinfo.ch: Können Sie sich vorstellen, dass das Publikum in den Fussballstadien in Zukunft nur noch auf nummerierten Sitzplätzen zugelassen wird?
R.S.: Es gibt in den Stadien verschiedenartige Zuschauer: Von den sogenannten Cüpli-Fans, die in den Logen Sekt trinken, bis zu den Ultras auf den Stehplätzen in den Fankurven, die am lautstärksten reagieren. Für Letztere ist die Vorstellung, dass sie Fussballspiele auf nummerierten Plätzen verfolgen sollen, wohl nicht das Gelbe vom Ei.
swissinfo.ch: Kann man von den Fanclubs nicht verlangen, dass sie ihre Mitglieder zur Verhinderung eines grossen Risikos entsprechend sensibilisieren?
R.S.: Die Fanclubs haben eine starke Verbundenheit mit ihren Clubs. Sie engagieren sich freiwillig mit jungen Menschen, inszenieren Choreografien, erstellen Clubfahnen und sind überzeugt, dass sie ihr Team mit Gesängen und Zurufen anfeuern können.
Von nummerierten Sitzplätzen aus funktioniert das nicht mehr gleich gut.
Zu erwarten, dass alle Fussballfans nur noch auf jedem zweiten Sitz Platz nehmen und sich beim Torjubel nicht in die Arme fallen, ist unrealistisch.
swissinfo.ch: Aber dass sich das Virus in Stadien besonders stark verbreiten kann, weiss man seit der Austragung des Spiels zwischen Atalanta Bergamo und Valencia.
R.S. Solche Szenen, bei denen das Risiko besteht, dass eine oder zwei Personen Hunderte andere anstecken, wollen die verantwortlichen Behörden natürlich nicht nochmals sehen.
swissinfo.ch. Unter den Fans gibt es auch gewaltbereite Personen, welche die Rechte anderer beeinträchtigen.
R.S.: Das stimmt, aber die Fan-Organisationen funktionieren weitgehend selbstregulierend und deeskalierend. Sie versuchen, Einfluss zu nehmen, ohne dass die Polizei oder Sicherheitsdienste in den Stadien eingreifen müssen.
swissinfo.ch: Einige Auguren sagen, dass uns das Virus zwingt, eine andere Normalität zu leben. Muss das nicht auch für den Fussball und dessen Fans gelten?
R.S.: Ich gehe davon aus, dass man alle Veranstaltungen, bei welchen die Nähe unter den Zuschauern dazu gehört, ob Festivals, Partys, Hochzeiten oder eben Sportveranstaltungen, auf lange Sicht nicht völlig verbieten kann. Das würde die Bevölkerung weder in der Schweiz noch sonst wo akzeptieren.
Deshalb ist es realistisch, Lockerungen durchzuführen. Es ist vernünftig, vorsichtig vorzugehen, aber man wird weitergehen müssen, wenn sich das Risiko in Grenzen hält.
Zu erwarten, dass alle Fussballfans nur noch auf jedem zweiten Sitz Platz nehmen, sich beim Torjubel nicht mehr in die Arme fallen und über die Schranken klettern werden, ist unrealistisch.
swissinfo.ch: Wichtig ist für die Behörden zu wissen, wer mit wem Kontakt hatte, um mögliche Ansteckungen verfolgen zu können. Dabei könnten Contact-Tracing-Apps eine Rolle spielen. Und damit liessen sich auch Randalierer identifizieren. Was halten Sie davon?
R.S.: Die Hardcore-Fans dürften davon nichts wissen wollen. Sie wehren sich heute schon gegen eine Identifikationspflicht beim Eintritt ins Stadion. Es wäre ein starker Eingriff in die persönliche Freiheit, wenn jeder Aufenthaltsort nachgewiesen werden könnte.
Es wäre ein starker Eingriff in die persönliche Freiheit, wenn jeder Aufenthaltsort nachgewiesen werden könnte.
swissinfo.ch: Was habe ich als unbescholtener Fussballfan zu befürchten, wenn die Behörden nachweisen können, dass ich mich im Stadion aufgehalten habe?
R.S.: Die Empfehlung der Behörde, dass sich auch Gäste eines Restaurants auf einer Liste eintragen sollen, wird von einem Teil der Gastrobranche nicht umgesetzt. Manche weisen die Gäste nicht einmal auf die Liste hin. In unserem freiheitlichen Staat wollen viele Menschen nicht bekanntgeben, wo überall sie sich aufhalten. Das gilt auch bei den Fussballspielen. Die Fans wollen sich in ihren Gruppen aufhalten, ohne identifiziert werden zu können.
swissinfo.ch: Dass Fussballspiele Tausende in die Stadien locken, hat auch mit dem Gemeinschaftserlebnis zu tun: das Gefühl zu haben, dazu zu gehören, gemeinsam stark zu sein. Fehlt den Fans der Mut, für ihr Tun gerade zu stehen?
R.S.: Die Überwachung in den Stadien wurde schon vor der Coronakrise ausgebaut. In den Eishockey-Stadien, wo die Distanzen deutlich kleiner sind, gibt es sehr genaue Video-Aufnahmen, die eine rasche Identifikation einer pyrozündenden Person erlauben. In Fussballstadien funktioniert dies wegen der grösseren Distanzen noch nicht so gut.
Wenn jemand eine strafbare Handlung begeht, wird versucht, die Person ausfindig zu machen. Aber die Einführung einer generellen Besucher-Identifikation durch die Corona-Hintertür dürfte bei den meisten Fans nicht gut ankommen.
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