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Gefahr durch Epidemien und weggeschwemmte Minen

Mehrere Dörfer und Städte in Nordbosnien wurden komplett überflutet, viele Häuser zerstört. Keystone

Auch wenn der Regen gegenwärtig eine Gnadenfrist zu gewähren scheint, kommt der Balkan nicht zur Ruhe. Die Jahrhundertflut birgt die Gefahr von Epidemien und hat viele Landminen fortgeschwemmt. Die Katastrophe führte aber auch zu grosser Solidarität unter den ehemaligen jugoslawischen Republiken – über alle Grenzen hinweg.

«In den meisten Städten sinken die Pegelstände langsam. Was zurückbleibt, sind Schlamm, Abfall und Schutt», sagt Hemo Jusovic, der in Bosnien und Herzegowina für Caritas Schweiz arbeitet. «Im Nordosten Bosniens, der am meisten betroffenen Gegend, sind jedoch einige Dörfer noch völlig abgeschnitten. Die Menschen können weder hineingehen noch herauskommen.»

Seit einer Woche leistet Caritas, zusammen mit vielen anderen humanitären Organisationen, Hilfe für die Opfer der schwersten Überschwemmungen, welche die Region auf dem Balkan seit über einem Jahrhundert getroffen haben.

«Wir versuchen gegenwärtig, ein Netzwerk von Kontakten aufzubauen, um an möglichst viele Informationen zu kommen und so die Hilfe koordinieren zu können.» Bis zu 1,6 Millionen Menschen könnten von der Naturkatastrophe betroffen sein. Man rechnet mit etwa 50 Toten in Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kroatien. Doch mit dem Absinken der Wassermassen könnten noch zusätzliche Opfer gefunden werden.

Auch in Serbien bleibe die Situation angespannt, sagt Robert Bu von der Ecumenical Humanitarian Organization, einer lokalen Partner-Organisation des Hilfswerks der evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS). «Wir befürchten, dass das Hochwasser auch die Hauptstadt Belgrad erreichen wird. Tausende Freiwillige arbeiten rund um die Uhr daran, die Dämme der Flüsse Sava und Donau mit Sandsäcken zu verstärken.»

Was die humanitären Organisationen aber am meisten beunruhigt, sind fehlendes Trinkwasser und das Risiko von Epidemien. Mit dem Ende des Regens und steigenden Temperaturen – die bereits fast 30 Grad erreichen – bergen die Tausenden von toten Tieren, die sich relativ rasch zersetzen, eine grosse Gefahr.

«In Kroatien sind bereits Fälle von Krankheiten aufgetaucht», sagt Bu. «Die Tierkadaver werden von den Flüssen fortgeschwemmt und verseuchen das Wasser. So können sich Epidemien sehr rasch ausbreiten.»

Hemo Jusovic, Caritas Schweiz

Die Überschwemmungen haben ermöglicht, die Barrieren zu überwinden. Es geht nicht mehr darum, wie jemand heisst, woher jemand kommt, welcher Nationalität oder ethnischen Gruppe man angehört.

Grenzenlose Solidarität

Die Überschwemmungen haben aber auch zu einer Welle der internationalen Solidarität geführt. Bis jetzt haben Schweizer Hilfswerke über zwei Millionen Franken bereitgestellt, die Eidgenossenschaft 500’000 Franken, um den Opfern zu helfen und die betroffenen Zonen von Geröll zu befreien.

Das Stichwort der Stunde ist die Katastrophenhilfe. «Wir verteilen das Nötigste wie Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel und Medikamente», sagt Jusovic. «Der Grossteil der Evakuierten hat Zuflucht in den Städten gefunden. Die Behörden haben Schulen und Turnhallen in Auffangzentren umgewandelt. Die Menschen mussten ihre Dörfer in aller Eile verlassen und konnten nichts mitnehmen.»

Auch die Diaspora der ehemals jugoslawischen Republiken hat sich organisiert, um Gelder und Material zu sammeln. Dabei wurden auch ethnische Barrieren und alte Feindseligkeiten überwunden. Auch die Ex-Republiken Mazedonien, Montenegro und Slowenien haben bereits in den ersten Stunden der Überschwemmungen ihre Hilfe angeboten.

Dieser Geist der Solidarität hat Hemo Jusovic überrascht. «Bis vor zwei Wochen hätte ich mir so etwas nie vorstellen können. Die Überschwemmungen haben auf ihre Art ermöglicht, die Barrieren zu überwinden. Es geht nicht mehr darum, wie jemand heisst, woher jemand kommt, welcher Nationalität oder ethnischen Gruppe man angehört. Die Menschen haben sich spontan organisiert, um den Betroffenen zu helfen. Und die Nachbarländer haben Helikopter und Katastrophenhilfe zur Verfügung gestellt.»

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Erdrutsche und weggeschwemmte Minen

Auch wenn das Risiko neuer Überschwemmungen derzeit etwas kleiner ist, besteht noch in vielen Zonen Erdrutschgefahr. Gemäss den bosnischen Behörden haben die Regenfälle mehrere tausend Erdrutsche verursacht. Der Schlamm hat sich durch ganze Dörfer gewälzt – und auch durch Minenfelder aus dem Krieg. So ist am 21. Mai in der nördlichen Region Brčko eine Landmine explodiert. Sie hat zwar keine Opfer gefordert, jedoch zu neuen Ängsten in der Bevölkerung geführt.

«Die Überschwemmungen können die Landminen nur bewegt oder irgendwohin geschwemmt haben. Und die Ausschilderungen der bereits registrierten Minenfelder wurden vielleicht vom Wasser zerstört oder verschoben», sagt Regula Zellweger, Sprecherin der Schweizer Sektion von Handicap International, einer Organisation, die in der Minenräumung aktiv ist.

Gemäss Schätzungen befinden sich allein in Bosnien und Herzegowina noch 120’000 scharfe Personenminen im Boden. Diese Zahl bestätigt Handicap International nicht. Die Organisation zieht es vor, von 2,4% des Territoriums zu sprechen, die von Minen verseucht sind.

«In einigen Regionen haben die Leute gelernt, mit den Minen ‹zusammen zu leben›, dank einer wichtigen Sensibilisierungsarbeit. Jetzt muss man wieder auf Feld Eins zurück», so Zellweger. «Beispielsweise muss den Kindern wieder erklärt werden, irgendwelche Objekte, die sie auf den Feldern entdecken, nicht zu berühren.»

Wiederaufbau wird lange dauern

Um die Minen erneut zu lokalisieren, braucht es viel Zeit, und noch mehr Jahre werden ins Land gehen, bis die betroffenen Gebiete wieder aufgebaut sind. Hemo Jusovic schätzt, dass es mindestens vier bis fünf Jahre dauern wird, bis Bosnien-Herzegowina wieder zurück in die Normalität finden wird. «Die Infrastrukturen – wie Strassen, Schulen oder Spitäler – müssen neu aufgebaut werden, für die Tausenden von Evakuierten müssen neue Wohnungen gefunden werden. Es handelt sich dabei um den schlimmsten Exodus seit dem Krieg 1992-1995.»

In ländlichen Gebieten, die zu den am stärksten von den Unwettern heimgesuchten Regionen gehören, müssen ganze Dörfer wiederaufgebaut werden. Doch dies kann erst in Angriff genommen werden, wenn der Untergrund wieder solide ist.

Die Kleinbauern müssen dann ihre Felder neu ausstecken und bestellen, Tiere und Maschinen neu kaufen, um sich ihr Überleben zu sichern. Und dies in Landstrichen, die bereits vor den Überflutungen zu den ärmsten auf dem ganzen Balkan zählten.

Bis am 23. Mai wurden in der Schweiz über 3 Mio. Fr. für die von massiven Überschwemmungen betroffenen Regionen auf dem Balkan gesammelt.

Caritas, das Rote Kreuz und das Hilfswerk der evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) haben gemeinsam 2 Mio. Fr. zur Verfügung gestellt. Sie sichern die Soforthilfe zusammen mit ihren lokalen Partnern.

Das Rote Kreuz beispielsweise hat in den ersten Tagen der Katastrophe 9000 Konservendosen, 2000 Liter Trinkwasser, Gummistiefel, Decken und Matratzen geliefert. Zudem wurden 20 Bautrocknungs-Geräte zur Verfügung gestellt.

Die Eidgenossenschaft ihrerseits hat 500’000 Fr. für die Soforthilfe bereitgestellt. Am 20. Mai sind 8 Schweizer Experten nach Bosnien-Herzegowina und Serbien gereist. Das Verteidigungsdepartement hat einen Helikopter der KFOR aus Kosovo zur Verfügung gestellt.

Die Glückskette, die über die Schweizer Medien unter Leitung der SRG SSR zu Spenden aufruft, hat bis heute über 720’000 Fr. gesammelt.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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