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Geldsegen mit bitterem Nachgeschmack

In der Schweiz sind rund 120'000 Menschen im Zusammenhang mit Glücksspielen gefährdet. Ex-press

Die Schweiz gehört zu den Ländern mit der höchsten Dichte an Spielcasinos: Heute sind es 19, und schon bald deren 21. Das Glücksspiel spült hunderte Millionen in die Staatskasse, doch Spielsucht kommt die Allgemeinheit teuer zu stehen.

Schweizerinnen und Schweizer lieben es, die Glücksgöttin herauszufordern: 2011 spülten Lotterien, Wetten und Wetteinsätze in Spielcasinos über 1,7 Milliarden Franken in die Kassen der Glücksspiel-Veranstalter.

Auch für Bund und Kantone sind Glücksspiele eine interessante Einnahmequelle: Dank der Casino-Gebühren flossen 2011 360 Millionen Franken in die Bundeskasse und 60 Millionen in die Kantonskassen, auf einen Bruttospielertrag von 824 Millionen. Bruttospielertrag wird die Differenz zwischen den Spieleinsätzen und den ausbezahlten Spielgewinnen genannt. Er kann als Umsatz aus dem Spielbetrieb bezeichnet werden.

Swisslos und Loterie Romande, die beiden Unternehmen in Besitz der Kantone, welche Lotterien und Wetten in der Schweiz betreiben, zahlten ihrerseits 557 Millionen (auf einen Bruttospielertrag von 913 Millionen) an kantonale Fonds und verschiedene Wohlfahrts-Organisationen aus.

Soziale Kosten von über einer halben Milliarde

Es gibt aber auch die andere Seite der Medaille. Vor allem wenn das Glücksspiel zu mehr als einem einfachen Zeitvertrieb wird. Laut dem Schweizerischen Gesundheitsbericht von 2007 sind 85’000 Personen exzessive Glücksspieler, und 35’000 können als spielsüchtig bezeichnet werden.

Psychische, physische Probleme, Spannungen in der Familie, die manchmal zur Scheidung führen, Absentismus, Verschuldung, Suizidgedanken… Das exzessive Spielen hat zahlreiche Auswirkungen auf das Leben und die Gesundheit des Spielers. Und einen hohen Preis für die Gesellschaft.

2009 schätzte ein Bericht des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS in Bern die durch exzessives Spielen in Casinos verursachten direkten und indirekten sozialen Kosten auf rund 70 Millionen Franken.

Eine im Juli dieses Jahres präsentierte Studie der Universität Neuenburg, die auch die Auswirkungen auf die Lebensqualität des Spielers und seiner Familie (humane Kosten) berücksichtigt, kommt zu noch beunruhigenderen Zahlen: Exzessives Spielen soll insgesamt Kosten zwischen 545 und 658 Millionen Franken erzeugen.

Lieber vorbeugen und heilen statt verbieten

Wenn man diese neuen Zahlen betrachtet, könnte man lange darüber diskutieren, ob das Glücksspiel wirtschaftlich nicht ein Unsinn ist. Ein Verbot wäre jedoch keine Lösung, wie das gewisse Antidrogenpolitiken zeigen, die ausschliesslich auf Repression setzen.

Und schliesslich steht das Thema Glücksspiel überhaupt nicht auf der Tagesordnung. Im Gegenteil: Bis Ende dieses Jahres werden in Neuenburg und Zürich zwei neue Spielcasinos ihre Türen öffnen.

 

Wie in zahlreichen anderen Bereichen, wo es möglicherweise viele gefährliche Verhaltensweisen gibt, «müssen wir versuchen, die gefährdeten Personen möglichst gut zu schützen», sagt Fréderic Richter, Koordinator des Interkantonalen Programms zur Bekämpfung der Spielabhängigkeit (PILDJ), das 2007 von den sechs Kantonen der französischsprachigen Schweiz gegründet wurde.

«In der Schweiz wird viel gespielt, Bund und Kantone verdienen damit viel Geld, und deshalb ist es nötig, Verantwortung zu übernehmen.»

Sozialkonzept

Gemäss dem seit 2000 geltenden Spielbankengesetz müssen diese über ein «Sozialkonzept» verfügen und darin aufzeigen, mit welchen Massnahmen sie «den sozialschädlichen Auswirkungen des Spiels vorbeugen oder diese eindämmen wollen».

Zudem müssen die Spielbanken Massnahmen ergreifen bezüglich Spielsuchtprävention, Früherkennung von spielsuchtgefährdeten Spielerinnen und Spielern, Spielsperren sowie Ausbildung und regelmässiger Weiterbildung des mit dem Sozialschutz betrauten Personals. Ende 2011 waren 32’410 Personen von solchen Massnahmen betroffen.

Aber ist das nicht ein wenig so, wie wenn man von einem Zigarettenhersteller verlangen würde, dem Rauch vorzubeugen? «Die Casinos leben nicht von abhängigen, sondern von langjährigen und gemässigten Spielern. Die Spielsüchtigen schaden dem Image der Spielbanken», schreibt der Schweizer Casino Verband (SCV) auf seiner Homepage.

«Wir überprüfen die Identität aller Personen, um zu kontrollieren, ob gegen einen Spieler nicht eine Ausschlussmassnahme ergriffen werden muss. Im Übrigen besuchen die Casino-Angestellten eine mehrtägige Ausbildung zur frühzeitigen Erkennung von möglichen Exzessivspielern», betont SCV-Direktor Marc Friedrich gegenüber swissinfo.ch.

Gute Zusammenarbeit, aber…

«Die Zusammenarbeit mit den Spielcasinos ist gut. Die Leute, die sich dort um das Sozialkonzept kümmern, haben regelmässige Kontakte mit uns», sagt Nicolas Bonvin, Präsident der Gruppo Azzardo Ticino-Prevenzione (GAT-P), gegenüber swsissinfo.ch.

GAT-P ist in einer Region aktiv, in der sich sage und schreibe vier Spielcasinos befinden (Lugano, Mendrisio und Locarno sowie in der italienischen Exklave Campione). Laut Bonvin haben sich die Ausschlussmassnahmen, die in allen Schweizer Casinos sowie in jenem in Campione gelten, bewährt.

Für Fréderic Richter vom PILDJ könnte die Zusammenarbeit besser sein: «Weniger als zehn der von den Casinos direkt ausgewiesenen Personen melden sich jedes Jahr bei Spezialzentren in der Westschweiz.» Das sind wenige, wenn man bedenkt, dass jährlich durchschnittlich 3000 Personen aus den Casinos ausgeschlossen werden.

«Heute ist das Gesetz betreffend Kontrolle der Ausschlüsse aus den Spielcasinos nicht verbindlich. Es hängt von der Politik der einzelnen Spielbanken ab. Das Tessiner Modell funktioniert gut und ist ein Beispiel, das befolgt werden sollte.»

Jedes Spielcasino arbeite mit einem spezialisierten Zentrum zusammen. «Die ausgeschlossenen Personen können jedoch nicht gezwungen werden, sich an diese Zentren zu wenden, und leider tun es auch nur wenige», bedauert Marc Friedrich.

Die kleine Zahl von Leuten, die sich an Spezialisten wenden, sei ein Problem, dem man bei jeder Sucht begegne, sagt Bonvin. «Die Personen und ihre Familien wenden sich erst dann an Spezialisten, wenn das Problem sehr gross geworden ist. Einerseits schämt man sich, andererseits wird die Wirksamkeit einer Behandlung bezweifelt.» Letztlich ungerechtfertigte Zweifel, «weil die Behandlungen gute Resultate zeigen», betont Richter.

Nicht nur Casinos

Die Casinos sind nicht die einzigen involvierten Akteure. Laut dem Schweizerischen Gesundheitsbericht spielen 80% der suchtgefährdeten Personen auch ausserhalb der Casinos. Neben den Online-Spielbanken, bei denen überhaupt keine Kontrollen existieren, gibt es Lotterien, Rubbelspiele (auch elektronische), Sportwetten usw.

Die beiden Unternehmen, welche diese Spiele betreiben – Swisslos und Loterie Romande –, spielen also ein wichtige Rolle. «Auch wenn es Spiele gibt, die zu mehr Abhängigkeit führen als andere», betont Nicolas Bonvin. «Zahlenlotto zum Beispiel ist weniger gefährlich, weil das Resultat nicht unmittelbar erfolgt.»

Auf die Einnahmen der beiden Unternehmen wird ein Anteil von 0,5% (rund 4,5 Millionen Franken pro Jahr) erhoben. Damit werden Programme gegen die Spielsucht finanziert. Swisslos und Loterie Romande haben ferner Massnahmen zur Sensibilisierung der Kiosk-Einzelhändler und der Geschäftsführer von Bars eingeführt, wo elektronische Rubbelspiele installiert sind.

Genügt das? Für die Präventionsexperten müssten einige Dinge verbessert werden: «Es existiert zum Beispiel kein Verkaufsverbot von Lotterieprodukten an unter 18-jährige Personen. Es gibt fragwürdige Werbung, wie jene, die sagt, ‹wir machen die grösste Anzahl Millionäre in der Schweiz›, Werbung, die in den Casinos übrigens verboten ist», sagt der Psychiater Tazio Carlevaro, Experte für Spielpathologie, gegenüber swissinfo.ch. «Und dann gibt es wenige Kontrollen über die Qualität der Suchtbekämpfungs-Programme.»

Bald sollten einige dieser Aspekte jedoch der Vergangenheit angehören. Im vergangenen März hat das Schweizer Stimmvolk einem neuen Verfassungsartikel über Geldspiele zugestimmt und damit die Grundvoraussetzung für eine Gesetzesrevision in dieser Sache gelegt.

Eine Revision, die sich zur Zeit in der Ausarbeitungsphase befindet. In nächster Zukunft müssen wahrscheinlich auch Lotterien und Wettanbieter mehr gegen die Spielsucht unternehmen.

Das Bundesgesetz von 1998 über Glücksspiele und Spielbanken (Spielbankengesetz, SBG) verbietet gemäss Art. 5 «die telekommunikationsgestützte Durchführung von Glücksspielen, insbesondere mittels Internet».

Dieses Verbot ist jedoch praktisch nicht durchführbar, da jedermann Zugang zu Online-Casinos und ausländischen Wett-Internetsites hat.

Aus diesem Grund wird die Möglichkeit geprüft, diese Gesetzesnorm zu lockern.

In einem Bericht von 2009 kam die Eidgenössische Spielbanken-Kommission zum Schluss, dass «die virtuellen Glücksspiele liberalisiert werden sollten und, abgesehen von einer solchen Liberalisierung, die illegale Ausübung solcher Spiele jedenfalls durch Begleitmassnahmen wirksamer eingedämmt werden sollte».

Die Regierung möchte gesetzliche Grundsätze einführen, die es erlauben, einerseits mit technischen Mitteln die illegalen Online-Glücksspiele zu blockieren oder zu limitieren und  andererseits das Verbot zu mildern, damit es möglich wird, eine beschränkte Zahl von Konzessionen an Anbieter von Internet-Glücksspielen mit Sitz in der Schweiz auszustellen.

Die Präventions-Experten sind generell einverstanden mit dieser Abänderung. «Für die Online-Spielaktivitäten bevorzugen wir ein reguliertes Angebot gegenüber der aktuellen Situation. Ohne Regulierung ist es unmöglich, wirksame Prävention zu betreiben», sagt Fréderic Richter, Koordinator des Interkantonalen Programms zur Bekämpfung der Spielabhängigkeit (PILDJ), gegenüber swissinfo.ch.

(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)

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