Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Gender-Bilanz der Pandemie: Noch eine Generation länger bis zur Gleichstellung

Eine Frau mit zwei Monitoren ist auf dem Weg nach Hause
Weltweit leisten Frauen und Mädchen laut Oxfam täglich weit über 12 Milliarden Stunden Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit – unbezahlt. Würde man ihnen auch nur einen Mindestlohn für diese Arbeit zahlen, wären das umgerechnet über 11'000'000'000’000 (11 Billionen) US-Dollar pro Jahr. Akg-images / Horst Maack

Würde Care-Arbeit vollständig bezahlt, wäre sie der grösste Wirtschaftsbereich in der Schweiz. Ausgerechnet auf diesen hat sich die Pandemie sehr negativ ausgewirkt.

In der Schweiz wird mehr unbezahlte Care-Arbeit als Lohnarbeit geleistet. Und ausgerechnet von dieser unbezahlten Arbeit wurde während der Pandemie am meisten geleistet.

Damit haben die Frauen, weil sie einen grossen Teil dieser Arbeit ausführen, die Rechnung für die Pandemie bezahlt. Und dadurch hat die Menschheit auf dem Weg zur Geschlechtergleichstellung wieder ein Schritt zurück gemacht, weltweit.

Als «blinden Fleck» in der gängigen Wirtschaftswissenschaft bezeichnet der Ökonom und Publizist Hans Rusinek die Fürsorgearbeit in seinem KommentarExterner Link im Deutschlandfunk: «Stellen Sie sich vor, wir hätten bei allen Analysen zur wirtschaftlichen Lage einfach vergessen, den grössten Sektor mit einzuberechnen!» 

Schlicht ignoriert

So würden zwar Bierkonsum oder Automobilproduktion mit in die Bilanzen einbezogen; Bereiche wie Pflege oder Umwelt, auf die die Wirtschaft angewiesen sei, blieben aber versteckt. Das führe dazu, dass zum Beispiel die Erziehungsarbeit von Frauen mit dem Thema Ökonomie gar nicht mehr in Verbindung gebracht werde.

«In einer dreifachen Ironie spielt Care-Arbeit nur eine höchst randständige Rolle, teilt sich auf in un- und unterbezahlte Arbeit, und wird überwiegend von Frauen geleistet», schreibt Rusinek, der an der Universität St. Gallen zum Thema Transformation der Wirtschaft promoviert, weiter. Das Resultat dieser Wirtschaftslogik biete ein verzerrtes Verständnis auf die Wirklichkeit.

Mit unbezahlter Arbeit sind Tätigkeiten gemeint, die nicht entlöhnt werden, theoretisch jedoch durch eine Drittperson gegen Bezahlung ausgeführt werden könnten. Darunter fallen Haus- und Familienarbeit, ehrenamtliche und freiwillige Tätigkeiten in Vereinen und Organisationen (institutionalisierte Freiwilligenarbeit) sowie persönliche Hilfeleistungen für Bekannte und Verwandte, die nicht im selben Haushalt leben (informelle Freiwilligenarbeit). (BFS).

Diese wirtschaftlich und gesellschaftlich abwertende Sicht auf die Care-Arbeit hat ihre Folgen: Laut einer Studie der Nichtregierungsorganisation Oxfam aus dem Jahr 2020 verdienten Frauen weltweit durchschnittlich 23 Prozent weniger als Männer, und sie mussten häufiger prekäre oder schlecht bezahlte Arbeiten verrichten.

Zugleich verfügen Männer über 50 Prozent mehr Vermögen als Frauen. Frauen sind auch sozial deutlich schlechter abgesichert und haben seltener Anspruch auf eine Rente – fast 65 Prozent aller Menschen, die im Rentenalter keine Bezüge bekommen, sind Frauen.

Frauen arbeiten mehr

Die Unterschiede würden oft damit erklärt, dass Frauen seltener oder weniger arbeiteten, schreibt Oxfam weiter. Diese Annahme stimme jedoch nicht. Frauen arbeiteten im globalen Durchschnitt und in jeder Region der Welt mehr Stunden pro Tag als Männer. Allerdings würden Frauen im Unterschied zu Männern für mehr als die Hälfte ihrer Arbeit nicht bezahlt.

Ein zentraler Faktor für die Ungleichheit sei also, dass unbezahlte Hausarbeit, Pflege und Fürsorge weltweit zu drei Vierteln von Frauen geleistet werde, so Oxfam, eine der weltweit grössten Entwicklungsorganisationen.

Ronja Janssen: «Wir brauchen gerechte Löhne und eine gerechte  Aufteilung der  unbezahlten Arbeit»:

Durch die Corona-Krise hätten sich diese Ungleichheiten noch verschärft, sagt Saadia Zahidi, Geschäftsführerin beim Weltwirtschaftsforum (WEF). Die Pandemie habe eine enorme Auswirkung auf die Gleichstellung am Arbeitsplatz und zu Hause gehabt und damit den langjährigen Fortschritt rückgängig gemacht.

Gemäss dem Global Gender ReportExterner Link 2021, dem Bericht über die globale Geschlechterkluft, hat sich die Zeit, die für die Schliessung der Geschlechterkluft weltweit benötigt werde, um eine Generation von 99,5 auf 135,6 Jahre erhöht. 

Ingrid Beck: «Die Mutterschaft ist ein Karriereknick»:

Der Grund dafür? Während der Krise war die «typische Frauenarbeit» gefragt. Umfragedaten von IPSOS  (Global Market Research und Public Opinion) zeigten, dass nach der Schliessung von Betreuungseinrichtungen die Verantwortung für Hausarbeit, Kinderbetreuung und die Pflege älterer Menschen überproportional auf Frauen fiel, was zu einer höheren Belastung und geringerer Produktivität beitrug.

Fürsorgearbeit bleibt Frauensache

Ausserdem seien Frauen häufiger in Berufszweigen tätig, die am stärksten von den Schliessungen betroffen waren. Hinzu kamen zusätzliche Erschwernisse durch die häusliche Pflege, so das WEF in seiner Analyse.

Auch in der Schweiz bleibt Fürsorgearbeit meist Frauensache. Laut einem BerichtExterner Link des Bundesamts für Statistik im Jahr 2021 wenden Mütter mit Partner und jüngstem Kind unter 15 Jahren für Hausarbeiten immer noch mit 30 Stunden pro Woche fast doppelt so viel Zeit auf wie Väter mit 17 Stunden pro Woche im Jahr 2020. Bei der Kinderbetreuung investieren Mütter rund die Hälfte mehr Zeit als die Väter (22,3 gegenüber 14,7 Stunden pro Woche).

Hayat Mirshad: «Wir müssen über die  Auswirkungen der Religion auf Ideen  und Gesetze reden»:

Der Fortschritt in Richtung Geschlechterparität stocke in mehreren grossen Volkswirtschaften und Branchen, schreibt das WEF. Im Gegensatz zu den fast überbrückten Unterschieden in den Bereichen Bildung und Gesundheit (14,2 Jahre bis zur Schliessung der Lücke), sei die Geschlechterkluft im Wirtschaftsschaftssektor nach wie vor am grössten.

Diese werde voraussichtlich erst in 267,6 Jahren aufgehoben sein. Dieser langsame Prozess gründe auf gegenläufigen Trends: Während der Anteil der Frauen unter den qualifizierten Fachkräften weiter steige, bestünden die Gehaltsunterschiede fort und nur wenige Frauen seien in Führungspositionen vertreten.

Die Zukunft sieht nicht besser aus

Zur Belastung der Fürsorgearbeit kommen noch weitere Faktoren hinzu, welche die zukünftige Bilanz der Geschlechtergerechtigkeit weiter verschlechtern werden. Frauen interessierten sich eher für soziale Berufe und seien in den gut bezahlten, technischen Berufen schlecht vertreten.

Das sind ausgerechnet jene Berufe, in welchen das WEF die «Arbeitsplätze von morgen» sieht. So seien beispielsweise im Cloud Computing nur 14 Prozent Frauen beschäftigt, in den Ingenieurberufen 20 Prozent und in der Datenverarbeitung und der Künstlichen Intelligenz 32 Prozent.

Chizuko Ueno: «Um den Gender-Gap  zu schliessen  reicht die Demokratie  nicht aus»:

Fakt ist, dass die laut Oxfam «unbezahlbare und unbezahlte» Care-Arbeit oft weniger Erwerbstätigkeit und folglich begrenzte ökonomische und kulturelle Teilhabe, weniger politische Repräsentation und in Härtefällen Altersarmut bedeutet. Aus dieser, nach Ansicht von Oxfam «bitteren Wahrheit» resultiert eine Diskrepanz: So bereichernd Pflege- und Fürsorgearbeit für die Gesellschaft sei, so arm mache sie viele Frauen, die sie leisten.

Ideen zum Ausgleich

Zur Überbrückung der Diskriminierung fordern das WEF und andere Akteure von der Politik Investitionen in den Pflegesektor und einen gleichberechtigten Zugang zur Elternzeit für berufstätige Männer und Frauen (equal care). 

Zudem brauche es Massnahmen, um die «geschlechtsspezifische berufliche Segregation» zu überwinden sowie «wirksame Qualifizierungsmassnahmen in der Mitte der beruflichen Laufbahn unter Berücksichtigung der Geschlechterperspektive». Schliesslich seien auch die Manager bei den Einstellungen und Beförderungen gefragt: Sie müssten eine «vernünftige, unvoreingenommene» Praxis verfolgen.  

Oxfam seinerseits empfiehlt dazu noch dazu eine verteilungs- und geschlechtergerechte Steuerpolitik: So könnte eine weltweite Vermögenssteuer von 0,5 Prozent – die das reichste Prozent in jedem Land betrifft – Investitionen finanzieren, die bis zu 117 Millionen Jobs in der Pflege, Bildung und Gesundheit schaffen würden.

In der Schweiz wird mehr unbezahlte Care-Arbeit als Lohnarbeit geleistet. Gemäss dem Bundesamt für Statistik 2016 in der Schweiz 9,2 Milliarden Stunden unbezahlt gearbeitet worden. Das ist mehr als für bezahlte Arbeit aufgewendet wurde (7,9 Milliarden Stunden).

Die gesamte im Jahr 2016 geleistete unbezahlte Arbeit wird auf einen Geldwert von 408 Milliarden Franken geschätzt. Dies zeigen die neuen Zahlen zum Satellitenkonto Haushaltsproduktion des Bundesamtes für Statistik (BFExterner LinkS).

Weltweit leisten Frauen und Mädchen täglich weit über 12 Milliarden Stunden Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit – unbezahlt. Würde man ihnen auch nur einen Mindestlohn für diese Arbeit zahlen, wären das umgerechnet über 11’000’000’000’000 (11 Billionen) US-Dollar pro Jahr, wie eine StudieExterner Link von Oxfam zu diesem Thema ergab.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft