Warum erschossen Schweizer Soldaten 1918 drei Arbeiter?
Vor gut 100 Jahren untersuchte die Militärjustiz die Erschiessung von drei Streikenden in Grenchen durch Soldaten – und kam zum Schluss, dass alles rechtens war. Historische Forschung zeigt: Die Schüsse waren die Folge einer Verkettung von Ängsten, Aggressionen und Fehlentscheiden.
Am letzten Tag des Schweizerischen Landesstreiks von 1918 wurden in der Kleinstadt Grenchen drei Männer von Schweizer Soldaten erschossen. Von hinten. Die Angehörigen des Füsilier-Bataillions, das für die Erschiessung verantwortlich war, erhielten von der Armee eine Belohnung von 4000 Franken – das wäre heute zehnmal mehr wert.
Die Angehörigen der Toten forderten Schadensersatz – doch sie erhielten nichts. Der Tod der drei Arbeiter erschien der offiziellen Schweiz gerechtfertigt. Was ist damals genau passiert? «Die Situation ist recht komplex», sagt die Historikerin Edith Hiltbrunner, die sich jahrelang mit diesem Waffeneinsatz der Schweizer Armee auseinandergesetzt hat. Sie hat akribisch aufgearbeitet, wie es zu den Schüssen kam, hat Truppentagebücher und Untersuchungsberichte durchforstet, sie kennt alle Befehlshaber, alle Truppenverschiebungen. Versuchen wir die Abläufe zu verstehen.
Eskalation nach Strategieänderung des Militärs
Am 12. November 1918 begann der erste landesweite Streik in der Schweiz, der Generalstreik. Auch in der Stadt Grenchen. Die ersten zwei Tage des Generalstreikes verliefen hier ohne Konfrontation zwischen Streikenden und Soldaten: Am Morgen versammelte man sich und zog durch die Strassen. In Grenchen demonstrierten über 2000 Menschen – auch Kinder und Schaulustige waren auf den Strassen.
Die lokale Uhrenindustrie war seit dem 19. Jahrhundert stetig gewachsen, die Arbeiter hatten sich hier früh organisiert. Die für den Streik aufgebotenen Truppen bestanden aus älteren Männern aus der Umgebung, ihr Kommandant setzte auf Deeskalation – auch wenn es zu einigen Sachbeschädigungen kam. Waffen kamen keine zum Einsatz – es existiert sogar ein Foto von Soldaten, die mit Streikenden posieren.
Am Donnerstagmorgen beschloss das nationale Streikkomitee den Abbruch des Landesstreiks. Am Freitag sollte wieder gearbeitet werden: Das Komitee sah keine Hoffnung auf Verhandlungen mit dem Bundesrat mehr. Die Streikenden in Grenchen erreichte diese Nachricht jedoch nicht – von der Armee wurde «energisches Durchgreifen» in Grenchen beschlossen. Ein Major namens Henri Pelet übernahm das Kommando und setzte auf Konfrontation. Pelet entsprach ganz den Anforderungen: «Als sich Grenchner Streikende tags zuvor auf die Strasse stellten, um die Militärwagen am durchfahren zu hindern, gab Pelet den Befehl, die Geschwindigkeit zu erhöhen. Pelet war ein entschlossener, unnachgiebiger, wohl auch aggressiver Kommandant», meint Hiltbrunner. Als Pelet das Kommando in Grenchen übernahm, gab er umgehend den Befehl zur Räumung des Bahnhofplatzes: Die Soldaten gingen mit ihren Gewehrkolben auf die Streikenden los.
Von hinten erschossen
Im Moment, als der Bahnhofplatz geräumt wurde, trafen zusätzliche, bereits früher angeforderte Truppen aus Biel ein. Sie trafen wegen Pelets Durchgreifen auf eine Szenerie der Aggression – zudem war ihrem Kommandanten gesagt worden, die Truppen in Grenchen würden ihre Befehle verweigern und sich mit den Streikenden verbrüdern. Hier waren in der Informationskette allerdings Gerüchte zu Befehlen geworden: In Grenchen hatte nie jemand gemeutert.
Doch konfrontiert mit der von Pelet provozierten Auseinandersetzung auf dem Bahnhofplatz entschied sich auch der Kommandant der neu angekommenen Truppen zu hartem Durchgreifen: «Er erliess ein Versammlungsverbot und liess Maschinengewehre postieren», sagt Hiltbrunner. Stand man hier kurz vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen? «Die Atmosphäre wirkte wegen der Präsenz des Militärs bürgerkriegsähnlich», vermutet Hiltbrunner, «Doch in einem Bürgerkrieg sind beide Parteien bewaffnet – was hier nicht der Fall war. Die Arbeiterschaft hatte keine Waffen, sondern nur die Macht des Streikens.»
Pelet, der nun dem neuen Kommando unterstand, übernahm einen Zug von 30 Mann. Diesen liess er aufteilen: «Ein absoluter Fehler! Soldaten sollten bei einem Streik laut Militärreglement mindestens in Zugstärke unterwegs sein, um sich ohne Waffengewalt durchsetzen zu können», erklärt Hiltbunner. Wenig später kommt es zur Eskalation, weil eine Gruppe Streikender sich weigerte auseinander zu gehen.
Hiltbrunner betont: «Sie griffen die Soldaten nicht an und brauchten keine Gewalt. Sie blieben einfach stehen und beschimpften die Soldaten.» Pelet liess das Feuer eröffnen. Dazu kam: Der Major hatte die Soldaten nicht instruiert, dass sie auch Warnschüsse abgeben konnten. So nahmen sie die Streikenden voll ins Visier und erschossen drei junge Männer von hinten: Marius Noirjean (17), Hermann Lanz (29) und Fritz Scholl (21). «Die Streikenden befanden sich in einer Gasse und waren darin wie gefangen. Sie versuchten wegzurennen. Das sieht man daran, dass alle Opfer von hinten erschossen wurden, getroffen am Rücken oder am Hinterkopf.»
Zweierlei Recht
Noch am selben Abend reiste ein Untersuchungsrichter an. Die Leichen wurden – anders als heute – nur geringfügig untersucht und dann beerdigt. In den Beleidigungen und Befehlsverweigerungen der Toten sah das Militär genügend Gründe für die Schussabgabe: Man kam zum Schluss, die Soldaten hätten einfach ihre Pflicht getan, Schadensersatzforderungen seien deswegen nicht gerechtfertigt.
Die militärischen Fehler wurden nicht erwähnt und die beteiligten Füsiliere erhielten eine Belohnung – und diverse Dankesschreiben für die geleisteten Dienste, so vom Regierungsrat des Kantons Solothurn und vom Stadtrat Grenchen. Die beiden Grenchner Organisatoren des Streiks verurteilte man hingegen schärfer als die Organisatoren des Landesstreiks: Dem Sozialdemokraten Max Rüdt und seinem Helfer entzog man sogar das aktive Bürgerrecht für zwei Jahre.
Lange Zeit war der Fall in Grenchen ein Tabu – mittlerweile ist er gut aufgearbeitet. Doch bis heute kursiert die Erzählung, die drei Toten hätten damals gar nicht gestreikt, sondern seien auf dem Weg zur Apotheke gewesen, um Medikamente für kranke Verwandte zu holen. Die Apotheke war an jenem Tag allerdings geschlossen gewesen. Warum also erzählte man sich nach 1918, die drei hätten gar nicht gestreikt?
Hiltbrunner geht davon aus, dass es sich um Schutzbehauptungen handelt: «Die Familien versuchten – bewusst oder unbewusst, mit diesen Erzählungen den Opferstatus ihrer Angehörigen zu unterstreichen. Denn das Militär und der Bundesrat machten die Opfer verantwortlich für die Schussabgabe, sie machten aus den Opfern Täter. Das muss für die Familien unglaublich schwer zu ertragen gewesen sein.»
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