Genf: Der Boom erzeugt Spannungen
65'000 Grenzgänger kommen jeden Tag von Frankreich nach Genf zur Arbeit. Dank höherem Verdienst können sich viele den Traum vom Eigenheim verwirklichen. Andere dagegen kommen sich ausgenutzt vor – vier Begegnungen.
Ohne die «Frontaliers» ginge in der Genfer Wirtschaft wenig bis nichts, besetzen sie doch rund ein Viertel aller Stellen im Kanton. Hier verdienen sie zwei- bis viermal mehr als in Frankreich.
Vor 10 Jahren hatte ihre Zahl mit 32’900 noch bei der Hälfte gelegen. Der Boom bringt aber nicht nur Reichtum und Glück, sondern führt auch zu Spannungen und Frustrationen.
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Grenzgänger – eine umstrittene Realität
Die Glücklichen
«Früher, als Flughafen-Angestellte, hatte ich einen langen Arbeitsweg. Heute ist es viel besser, weil Thônex nahe der Grenze liegt und ich von Ambilly mit dem Velo in zehn Minuten bei der Arbeit bin», sagt die 43-jährige Karine Esteves, die ursprünglich aus Frankreichs Norden stammt.
Die Mutter eines 13-jährigen Sohnes, die in Thônex ein Café führt, gehört zu den glücklichen Grenzgängerinnen. «Mein Leben ist ideal, kann ich doch Familie und Beruf perfekt unter einen Hut bringen.»
Es war eine Freundin, die der früheren Sekretärin den Tipp gab, im Café in Thônex sei eine Stelle frei. «Da ich schon in der Gastronomie gearbeitet hatte, bot man mir sofort den Posten als Verantwortliche an. Hier zählt die Erfahrung, nicht das Diplom», freut sich Esteves.
Probleme wegen ihrer Herkunft hat sie am Arbeitsplatz nie gehabt. Ein Vorteil für sie: Alle Angestellten kommen wie sie aus Frankreich. «Für Schweizer sind die Löhne tief, nicht aber für uns Grenzgänger», sagt sie. Die Einheimischen seien sehr anspruchsvoll und verlangten, dass man sich um sie kümmere, charakterisiert die Chefin ihre Kundschaft.
Bei den täglichen Grenzübertritten nimmt sie die Zollbeamten kaum mehr wahr. Nach der Arbeit bleibt sie oft noch in der Stadt, um mit ihrem Sohn, der eine Schule in Frankreich besucht, einen grossen Teil der Freizeit zu verbringen. «Das kulturelle Angebot ist grösser, hier ist vielmehr los», sagt Esteves.
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Wo die Grenzgänger arbeiten
«Jeder drängt sich nach vorn»
Der 32-jährige Maschinentechniker Damian Pestel arbeitet seit zwei Jahren für eine Schweizer Firma, die Elektroteile für Maschinen herstellt, die in alle Welt exportiert werden. Der Sitz des Mutterhauses ist Genf, die Produktion in China und Bulgarien. «Der Job ist äusserst interessant», lobt Pestel. Er war schon als Kind in die Region gezogen und lebt heute in Annemasse, 20 Autominuten von Genf entfernt. «Weil in der Firma viele Grenzgänger arbeiten, sind die Arbeitszeiten auf die Bedürfnisse jener zugeschnitten, die von weit her kommen. So können wir die Verkehrsstaus umgehen.»
Auch bei Pestel stammte der Tipp für den Job jenseits der Grenze aus dem Freundeskreis. Er verneint nicht, dass es der Grenzgänger wegen auch zu Spannungen auf dem Genfer Arbeitsmarkt kommt. «Momentan ist die Stimmung etwas aussergewöhnlich. Alle wollen sich vordrängen. Aber alle wissen, dass sie bei Ausbruch der nächsten Krise als erste entlassen werden.»
Aber auch angesichts dieser Perspektive möchte Pestel seine Karriere in der Schweizer Firma vorantreiben. Der Wechsel in eine Filiale in einem anderen Land macht ihm keine Angst, sondern würde ihm vielmehr neue Horizonte erschliessen, ist er überzeugt.
In den letzten zehn Jahren hat sich deren Zahl von 32’900 Ende 2002 auf 65’150 Ende 2012 verdoppelt. Insgesamt waren gar 82’200 Ausländer im Besitz einer Grenzgänger-Bewilligung.
2012 besetzten «Frontaliers» 23% oder fast einen Viertel aller Stellen in Genf. Grund dafür ist auch die schwierige Situation auf den europäischen Arbeitsmärkten.
61% von ihnen sind männlich und zwei Drittel zwischen 25 und 44 Jahre alt.
76% jener mit Grenzgänger-Bewilligung stammen aus dem Departement Haute-Savoie, 19% aus dem Departement Ain.
(Quelle: Statistisches Amt Kanton Genf)
«Diskriminiert»
Aber nicht alle sind mit ihrer Situation derart zufrieden. «Vor drei oder vier Jahren hätte ich mit Ihnen gern über meine Arbeit gesprochen, aber heute habe ich keine Lust mehr», erklärt eine Französin mit einem Job im Genfer Medizinalbereich, die anonym bleiben möchte. «Die Stimmung in der Firma hat sich stark gewandelt, die Grenzgänger werden diskriminiert. So müssen wir etwa Arbeitspläne akzeptieren, die Schweizern nicht passen. Das bedeutet für uns Nachschichten oder mehrere Wochenenddienste hintereinander.»
Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder will aber ihre Stelle behalten und zieht es deshalb vor, gegenüber den Vorgesetzten zu schweigen.
Die Arbeit in der Schweiz fordert auch von der 27-jährigen Magali ihren Preis. «Ich kam vor sieben Jahren ganz allein mit dem kleinen Auto meiner Mutter, auf dem Rücksitz den Käfig mit meinen beiden Katzen, hier in der Region an», berichtet sie. Sie stammt aus Montpellier, wo ihre Mutter ein kleines Häuschen bewohnt, der Vater ist gestorben. «Weil es im Süden Frankreichs keine Arbeit mehr gibt, ziehen alle weg», sagt die ausgebildete Pharmazie-Assistentin, die aber über keinerlei Berufserfahrung verfügte.
Magali schrieb 200 Bewerbungen für Stellen in der Schweiz. Zwei Monate vor Weihnachten endlich klappte es – in einem grossen Einkaufszentrum wurde sie für zwei Monate als Geschenk-Verpackerin engagiert. Nach den Festtagen wurde ihr ursprünglich auf zwei Monate befristeter Vertrag verlängert, seither ist sie Verkäuferin in der Parfümerie-Abteilung.
«Ich stehe jeden Morgen um fünf Uhr auf, kann aber wenigstens etwas Geld auf die Seite legen.» Dennoch hadert die junge Frau mit ihrem Weg. «Ich wollte von klein auf immer Pharmazeutin werden, aber hier wird mein Diplom nicht anerkannt. Weil ich den ganzen Tag über stehen muss, habe ich Krampfadern, so dass ich im Sommer keinen Rock mehr tragen kann», klagt sie.
Ihr Traumberuf blieb ihr in der Schweiz verwehrt. Einen anderen Traum, dem vom eigenen Heim, konnte sie dagegen verwirklichen, indem sich Magali im angrenzenden französischen Departement Ain eine Studiowohnung kaufen konnte.
Uneingeschränkt gross ist die Freude von Karine Esteves, der Betreiberin des Cafés in Thônex. » Im nächsten Monat ist es soweit», freut sie sich über den Umzug in ihr neues, eigenes Zuhause. Angesichts der explodierenden Preise für Häuser und Grundstücke könnten sich dies Franzosen, die nicht in der Schweiz arbeiteten, kaum mehr leisten.
(Zusammen mit Samuel Jaberg)
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