Junge Italiener lieben Zürich und Zürich liebt «Italianità»
Hohe Saläre, ein wettbewerbsfähiger Standort, eine optimale Lebensqualität: Seit einigen Jahren gehört Zürich zu den beliebtesten Destinationen, wenn Italiener Arbeit und neue Herausforderungen suchen. Doch wer sind die neuen Emigranten? Warum wandern sie aus? Und auf welche Schwierigkeiten stossen sie in der Limmatstadt? Eine neue Studie versucht, diesen angeblichen Braindrain zu verstehen.
Italiener in der Schweiz
Die erste grosse Welle von italienischen Einwanderern erlebte die Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg. Ihre Hochphase erlebte die Emigration von Italienern in die Schweiz in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg. Zwischen 1945 und 1975 kamen rund 2 Millionen italienische «Fremdarbeiter», später Gastarbeiter genannt, in die Schweiz. Die meisten blieben nur wenige Jahre.
Als Folge dieser Migration bilden die Italiener bis heute die grösste Ausländergemeinschaft in der Schweiz. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung lebten 1975 mehr als 570’000 Italiener in der Schweiz. Nach vielen rückläufigen Jahren hat ab 2007 eine Trendwende eingesetzt: Die Einwanderung von Italienern in die Schweiz hat erneut zugenommen. Ende 2016 waren 318’653 italienische Staatsangehörige in der Schweiz niedergelassen. Dies entspricht 15,7 Prozent der ausländischen Wohnbevölkerung.
«Wir hätten die Möglichkeit gehabt, nach Italien zurückzukehren. Doch die Arbeitsbedingungen im Bereich der Forschung sind sehr schlecht. Dazu kommt: Nach einigen Jahren in den USA hatten wir Lust auf eine weitere Auslandserfahrung. Zürich ist ideal: Gute Löhne, eine hohe Wettbewerbsfähigkeit und Lebensqualität, ausserdem relativ nahe zu Italien.»
Dies erzählt Lorenzo. Er lebt erst seit wenigen Wochen in der wirtschaftlichen Metropole der Schweiz. Seine ersten Eindrücke sind positiv: «Zürich erscheint mir als sehr gastfreundliche und internationale Stadt.»
Wir treffen Lorenzo an einem Märzabend am Sitz von ECAP, einem gemeinnützigen Erwachsenenbildungs- und Forschungsinstitut, das von der italienischen Gewerkschaft CGIL gegründet wurde und seit 1970 in der Schweiz tätig ist. An diesem Abend wird eine Studie über die neue Immigration aus Italien in die Schweiz präsentiert.
Lorenzo ist, genauso wie seine Freundin, in der pharmazeutischen Forschung tätig. Die beiden gehören zu den Tausenden von jungen Italienern, die jedes Jahr beschliessen, Italien zu verlassen. Manche gehen aus freien Stücken, andere aus Notwendigkeit. Zu den bevorzugten Zielen dieser jungen Italiener gehört Zürich. Dort lebt – nach dem Kanton Tessin – die grösste Gemeinschaft von Auslandsitalienern in der Schweiz.
Die italienische Immigration in die Schweiz war in den 1960er und 1970er Jahren besonders ausgeprägt, danach aber rückläufig. Seit der Wirtschaftskrise von 2007 hat die Zahl italienischer Einwanderer aber wieder zugenommen. Nach Ansicht einiger Medien und italienische Politiker handelt es sich um einen «Braindrain» (Abwanderung von klugen Köpfen), doch die Realität ist weitaus komplexer, wie Pinuccia Rustico sagt.
Rustico hat gemeinsam mit Sarah Bonavia und Mattia Lento eine Studie über die neuen italienischen Einwanderer in der Schweiz verfasst. Die Autoren konnten feststellen, dass nicht nur gut ausgebildete Hochschulabsolventen neue berufliche Herausforderungen an Universitäten oder in multinationalen Unternehmen suchen, sondern auch junge Menschen, die einfach etwas Neues entdecken wollen, oder verzweifelt auf der Suche nach irgendeiner Arbeit sind.
Dies erkennt man schon beim Blick auf die Facebook-Seiten, welche den Anstellungsmöglichkeiten in der Schweiz gewidmet sind. Einige Personen sind zu (fast) allem bereit, um am Ende des Monats ein Salär zu haben.
In der Studie, die von der Stiftung Giuseppe di Vittorio und ECAP ermöglicht wurde, kommt ein Dutzend junger Italiener zwischen 26 und 35 Jahren zu Wort. Dabei entsteht das Bild von «modernen Nomaden», die gewohnt sind, die Koffer zu packen und von einem Ort zum anderen zu ziehen. Für einige von ihnen stellt Zürich somit nur eine Etappe auf ihrem Migrationsweg dar. Die Integration in die lokale Gesellschaft hat daher auch nicht erste Priorität.
Ein Land von Emigranten
Gemäss dem Melderegister «Aire» für im Ausland lebende Italiener (Anagrafe degli italiani residenti all’estero) lebten 2016 mehr als 4,8 Millionen Italiener ausserhalb der italienischen Staatsgrenzen. Dies entspricht rund 8% der in Italien lebenden Bevölkerung.
Rund 55% der emigrierten Italiener leben in Europa. Zwischen 2006 und 2016 hat die Zahl der im Ausland lebenden Italiener um 54, 9 Prozent zugenommen. Im Register «Aire» waren 2006 etwas mehr als 3 Millionen Italiener eingeschrieben; 10 Jahre später waren es 4,8 Millionen.
51% der Italiener im Ausland stammen aus Süditalien, 34% aus dem Norden und 15% aus dem mittleren Teil Italiens.
Durchaus typisch ist der Fall von Claudio. Der 30-jährige Informatiker ist verheiratet und hat ein Kind. Als Ingenieur ist er für eine grosse internationale Firma tätig. In Zürich verdient er sechs Mal so viel, wie er in Italien verdienen könnte. «Bei der Arbeit spricht er nur Englisch. Deutsch zu sprechen ist für ihn nicht prioritär, weil sein Freundes- und Bekanntenkreis vorwiegend aus Ausgewanderten besteht», beschreibt Pinuccia Rustico diesen Fall. Claudio bezeichnet sich selbst übrigens nicht als Immigrant, sondern als Gast in Zürich. «Das Wort ‚immigriert‘ hat eine definitive Konnotation», wird er in der Studie zitiert.
Auch der 25-jährige Valerio fühlt sich als Bürger Europas, doch seine Erfahrung ist ganz anders. Er hat die Universität nach zwei Jahren aufgegeben, kam eher aus Spass nach Zürich. Er begann als Tellerwäscher, wurde zum Hilfskoch befördert, lernte Schweizerdeutsch, und begann, mit den Einheimischen in den Ausgang zu gehen.
In der Studie betont Valerio die Bedeutung der Sprache für die Integration: «Wenn du im Ausgang bist, etwas gemeinsam trinkst oder zusammen tanzt, kannst du nicht Englisch sprechen (…); du musst in der ortsüblichen Sprache kommunizieren.»
Wer emigriere, müsse Opfer bringen und das Anderssein akzeptieren, meint der junge Römer: «Man darf nicht Pasta all’amatriciana oder Pasta carbonara erwarten, wenn es kein entsprechendes Gericht im Land gibt. Darüber sollte man nachdenken.»
Die jungen Italiener, die für die Studie befragt wurden, fühlen sich generell in Zürich gut aufgenommen. Sie leben ihre «Italianità», ihre italienische Identität, mit Stolz. Und spielen gelegentlich selbst mit den Klischees, etwa dem ständigen Gestikulieren mit Händen. Niemand fühlt sich diskriminiert, auch weil – wie ein junger Mann sagt – «die Schweizer als Menschen ‚politically correct‘ sind.»
Das Image der Italiener in der Schweiz ist heute überwiegend positiv. Die italienische Gemeinschaft in der Schweiz gilt als geglücktes Beispiel der Integration: Dass dies so ist, verdankt sich in erster Linie der Generation der Saisonarbeiter, die in den 1960er Jahren gegen Diskriminierung und Rassismus gekämpft haben.
Bis heute sind die «alten Migranten» eine grosse Stütze für die Neuankömmlinge. Die Kontakte ergeben sich in der Regel über soziale Netzwerke, Freunde oder Familienmitglieder. Die Rolle der traditionellen Emigrantenvereine ist sekundär. Sie entsprechen nicht mehr den Bedürfnissen der jungen Auswanderer. Nicht der «Auswanderer-Status» eint die Italiener im Ausland, sondern kulturelle, soziale und politische Interessen. Zumal sich «Italianità» in Zürich an jeder Ecke findet.
Die jungen Italiener, die befragt wurden, fühlen sich stark mit ihrem Heimatland verbunden. Sie vermissen es und die vielen kleinen Dinge, die sie damit emotional verbinden: Sonne, Meer, Essen und eine gemeinsame Kultur. Gleichwohl geht die Mehrheit nicht davon aus, nach Italien zurückzukehren, oder zumindest nicht so bald.
Pinuccia Rustico, die wie die beiden Ko-Autoren der Studie italienische Wurzeln hat, sagt: «Der Plan, nach Italien zurückzukehren, war typisch für die ältere Generation, die in den 1950er Jahren in die Schweiz kam. Heute ist diese Vorstellung nicht mehr so präsent. Die Migration wird nicht als etwas Statisches erlebt. Im Sinne: Ich bleibe im Ausland, bis ich in der Heimat ein Haus gebaut habe, und dann kehre ich zurück. Die jungen Leute von heute fühlen sich als Europäer, sie planen eher die nächste Reise als die Rückkehr in ihre Heimat.»
Kontaktieren Sie die Autorin auf Twitter: @stesummiExterner Link
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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