Gesucht: Junge Ärzte für alte Patienten
Die Menschen leben immer länger. Damit wächst auch der Bedarf an Ärzten mit Kenntnissen jener medizinischen Bereiche, von denen die alternde Bevölkerung betroffen ist. Doch die Geriatrie, im Vergleich mit Neurochirurgie oder Kardiologie oft als unattraktiv betrachtet, zieht nicht genug Interessenten an.
Auf der Intensivstation des Universitätsspitals in Bern (Inselspital) ist viel los. Pflegefachleute kontrollieren Monitore, wechseln Verbände von Patienten, die an piepende Maschinen angeschlossen sind. Eine Gruppe von Ärzten geht von Bett zu Bett; drei Mal pro Tag, beim Schichtwechsel, werden die relevanten Informationen ans nächste Team weitergegeben.
Von den 51 Betten seien in der Regel 40 bis 45 belegt, erklärt Stephan Jakob, Chefarzt IIMC (interdisziplinäre Intermediate Care). Und das Durchschnittsalter der Patienten auf der Abteilung steige.
«Vor zehn Jahren lag das Durchschnittsalter nicht viel über 60», sagt Jakob. «Jetzt liegt der Durchschnitt bei 65, aber mit einer grossen Reichweite von bis zu 90, 95 Jahren. Und es kommt vermehrt zu Eingriffen, die bis vor – sagen wir mal zehn Jahren – bei älteren Patienten kaum erfolgten, zum Beispiel Transplantationen, invasive Behandlung bei Schlaganfällen, künstliche Herzen. Ältere Patienten bleiben nach der Operation zudem länger hier als jüngere. Wir brauchen daher auch mehr Betten.»
Bedürfnisse der alternden Bevölkerung
Viele Gesundheitsprobleme älterer Menschen beginnen zu einem Zeitpunkt, in dem die Leute sich selber noch nicht als alt betrachten. Doch schon im Alter von 50 Jahren leidet nach Angaben des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Externer Linkeiner von fünf Einwohnern der Schweiz gleichzeitig an zwei oder mehr chronischen Erkrankungen. 2012 war ein Fünftel aller Patienten in Schweizer Akutspitälern zwischen 75 und 84 Jahren alt. In Grossbritannien liegt das Durchschnittsalter von Spitalpatienten bei über 80 Jahren.
Die Behandlung von älteren Menschen erfordert besondere Kenntnisse, wie Thomas Münzer, Präsident der Schweizerischen Fachgesellschaft für GeriatrieExterner Link und Chefarzt in St. Gallen erklärt. «Sie haben meistens drei, vier oder fünf verschiedene medizinische Probleme, die sehr sorgfältig behandelt werden müssen. Und dazu braucht es Kenntnisse über die Biologie des Alterns, man muss wissen, dass ein alter Körper anders funktioniert als ein junger», unterstreicht Münzer.
Die Geburt der Geriatrie
Die Geriatrie (Altersmedizin) wurde von Pionieren in Grossbritannien im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entwickelt. 2012 waren Geriater die grösste Facharztgruppe (1252 von 12’221) im Royal College of Physicians [renommierte britische Ärzte-Körperschaft]. In der Schweiz hingegen ist Geriatrie noch eine relativ junge Fachdisziplin.
Die 1953 gegründete Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie (SGG) ist eine nationale Organisation, die sich auf die Bereiche «Alter» und «Altern» fokussiert. Von den rund 1400 SGG-Mitgliedern sind aber nur etwa 300 speziell ausgebildete Geriater. Diese haben mit der Schweizerischen Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG) seit 2003 ihre eigene, aus der SGG hervorgegangene Berufsorganisation.
Erst im Jahr 2000 entwickelte die Schweizer Ärzteverbindung FMH unter Schirmherrschaft des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung eine zusätzliche, dreijährige Fachausbildung in Geriatrie für Ärztinnen und Ärzte mit einem Fachabschluss in Allgemeinmedizin oder Innerer Medizin.
Ausbildung neuer Ärzte
Die Behandlung älterer Menschen braucht besondere Kenntnisse oder Fähigkeiten, die man zuerst lernen muss, wie Andreas Stuck, Chefarzt der Abteilung Geriatrie im Berner Inselspital, erklärt.
Künftige Ärzte müssten zuerst lernen, auf welch besondere Art und Weise sich Erkrankungen bei älteren Personen zeigten. Sie müssten lernen zu kommunizieren. Und sie müssen ethische Aspekte in Betracht ziehen, wie zum Beispiel die Frage, «ob man bei einer 90 Jahre alten Person auf eine sehr proaktive Pflege mit sehr intensiver Behandlung setzt oder auf palliative Schmerzlinderung». Ärzte brauchten daher spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten zur Diagnose und Behandlung von Krankheiten bei älteren Menschen, erklärt Stuck weiter.
Um zu standardisieren, was Medizinstudierende über Geriatrie lernen, sammelten Stuck und eine Gruppe europäischer Forscher Eingaben von 49 Fachleuten aus 29 Ländern, um damit einen Konsens für eine Zehn-Punkte-Liste mit Minimalanforderungen zu erarbeiten – Kenntnisse und Fähigkeiten, über die neue Ärzte nach dem Studium verfügen sollten.
Die im März 2014 veröffentlichte Studie kam zum Schluss: «Angesichts der grossen Unterschiede bei der Qualität der Geriatrie-Ausbildung an medizinischen Fakultäten wird es bedeutende Anstrengungen brauchen, diese Anforderungen umzusetzen.»
Spezialisten versus Allgemeinpraktiker
Geriater – Ärzte, die sich auf die alternde Bevölkerung spezialisieren – dienen in unterschiedlichsten Umgebungen, von der Spitalpflege über die Hauspflege zur Langzeitpflege oder Sterbebegleitung. Sie sind auch involviert in Überwachung der Altenpflege und geriatrischen Ausbildung.
Jürg Schlup, Präsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH), erklärt, es sei sinnvoll, vorauszusetzen, dass die Geriatrie-Abteilung eines Universitätsspitals von einem Geriater geleitet werde. Doch laut Münzer hatte bis 2014 nicht jede medizinische Fakultät in der Schweiz einen Lehrstuhl in Geriatrie. «Was Schulung und Ausbildung angeht, hinken wir noch weit hinterher.»
Einige mit dem Altern verbundene Gesundheitsprobleme
Stürze und Knochenbrüche
Inkontinenz
Mangelernährung
Osteoporose (Knochenschwund)
Parkinson-Syndrom
Demenz inkl. Alzheimer
Dekubitus (Wundliegen bei bettlägerigen Patienten)
Einnahme mehrerer Medikamente und die damit verbundenen Arzneimittel-Wechselwirkungen
Verlust der Selbstständigkeit
Sterbeprozess
In der Schweiz sind es nicht nur Geriater, die sich um alte Menschen kümmern. «Die Mehrheit der Gesundheitsversorgung älterer Menschen erfolgt durch Hausärzte, durch Spitalärzte, durch Fachkräfte, die für die Versorgung älterer Menschen Verantwortung tragen», sagt Stuck. Daher brauche es, «für welche Fachdisziplin man sich auch immer entscheidet, spezielle Schulung in Geriatrie als Teil der Ausbildung, und zwar über die ganze Spanne des Vordiplom- und Nachdiplomstudiums hinweg.»
Ärztemangel in der Schweiz
Die Bereitstellung von fachkundiger Pflege für die alternde Bevölkerung wird zusätzlich kompliziert durch die Tatsache, dass in der Schweiz ein allgemeiner Ärztemangel besteht.
Zurzeit werde etwa ein Drittel der in der Schweiz arbeitenden Ärzteschaft im Ausland angeworben, erklärt Schlup. Bis in zehn Jahren dürfte dieser Anteil auf 50% steigen.
«Dank den Ärzten aus dem Ausland funktioniert unser System bisher gut.» Doch Deutschland, woher viele der ausländischen Ärzte kämen, versuche vermehrt, diese wieder zurückzubringen. «Wir werden unser System ohne diese Kräfte jedoch nicht am Laufen halten können.»
Schon jetzt kämpfen verschiedene medizinische Fachdisziplinen darum, genügend junge Ärzte anzuziehen. «Wenn man für eine Chirurgie-Abteilung, eine Abteilung für Innere Medizin oder Dermatologie arbeitet, herrscht grosse Konkurrenz bei der Anwerbung von Studierenden», sagt Schlup. Das bedeute auch, dass es noch weniger potentielle Kandidaten für die Geriatrie gebe.
Wer entscheidet sich für Geriatrie?
«Wir suchen verzweifelt nach jungen Ärzten, die Interesse zeigen an einer Ausbildung in Geriatrie», sagt Münzer.
Doch Medizinstudierende heute «wollen Sportmediziner, Augenärzte, Neurochirurgen oder was sonst noch werden», sagt er. «Niemand sagt wirklich ‹ich will Geriater werden›. Aber ich denke, gewisse entscheiden sich im späteren Verlauf ihrer Karriere dennoch zu diesem Schritt.»
Gianna Negri, eine junge Assistenzärztin auf der Geriatrie-Abteilung des Berner Ziegler-Spitals, erklärt, sie habe noch nicht entschieden, ob sie Geriatrie-Ärztin werden wolle, arbeite aber gerne mit älteren Patienten.
«Viele junge Ärzte denken, die Geriatrie sei nicht aufregend», sagt sie. «Dem stimme ich überhaupt nicht zu. Wir haben viele Tage hier, die herausfordernd und aktionsgeladen sind.»
«Ich denke, ich habe einen der interessantesten Berufe, die es gibt», sagt Stuck, der sich in den 1980er-Jahren für die Geriatrie entschied.
Auch Münzer ist mit seiner Berufswahl zufrieden. «Im Vergleich mit Herz- oder Neurochirurgie ist es nicht so spektakulär», sagt er. Man könne auch nicht so viel Geld verdienen. «Und man behandelt Krankheiten, die nicht sehr sexy sind, etwa Demenz oder Gebrechlichkeit, Stürze, Brüche und Osteoporose [Knochenschwund].»
Dennoch sei es «faszinierend und fantastisch», ältere Menschen zu behandeln, erklärt er. Jeder Patient sei unterschiedlich, jeder Ansatz individuell. «Und wenn man sich die Zahlen anschaut, ist dies in der Tat das Gebiet der Zukunft.»
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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