Palliative Care für Kinder: wichtig, aber selten in der Schweiz
In der Schweiz fehlt es an Palliativmedizin für Kinder. Das bedeutet, dass nicht immer alle unheilbar erkrankten Kinder und ihre Familien eine angemessene Betreuung erhalten. Der Wandel sei zwar im Gang, auch wenn es noch viel zu tun gebe, sagt einer der wenigen Spezialisten im Land.
«Marc, ich habe genug. Ich möchte dem jetzt ein Ende setzen.» Mit Marc ist Professor AnsariExterner Link gemeint. Er ist Leiter der Abteilung Onkologie und Hämatologie für Kinder am Universitätsspital Genf (HUG)Externer Link.
Den Wunsch zu sterben hatte ein Jugendlicher, der an einer unheilbaren Krebserkrankung leidet, kurz vor unserem Treffen ausgedrückt. Eine Situation, die das Ausmass des Leidens aufzeigt, das ein Jugendlicher durchmachen muss, von dem es am Ende doch kein Entrinnen gibt, auch wenn sein Arzt versucht hatte, ihm adäquate Behandlung und Unterstützung zu geben.
Es ist eine Bitte, die nicht so selten vorkommt. Der Wunsch zu sterben wird am häufigsten von Jugendlichen formuliert. Die Gründe seien jedoch vielfältig, erklärt Marc Ansari. In diesen Fällen «muss man versuchen zu verstehen, weshalb diese Bitte gerade jetzt kommt und was sie ausgelöst hat. Manchmal geht es darum, noch nicht diskutierte Probleme anzugehen und über Ängste zu reden. Oft sind es Junge, mit denen wir mehr Zeit verbringen müssen, um ihre Situation zu verstehen und einen Weg zu finden. Es ist folglich notwendig, das Kind in seinem familiären Umfeld zu begleiten».
Nicht nur das Kind, sondern die ganze Familie
Der Einbezug der Familie ist tatsächlich einer der wichtigsten Pfeiler der Palliativpflege bei Kindern. Damit soll – zusätzlich zur Linderung des physischen und moralischen Leidens und der Verbesserung der Lebensqualität – auch der ganzen Familie während der Krankheit und nach dem Tod des Kindes so gut wie möglich geholfen werden.
Während des Krankheitsverlaufs ist es unabdingbar, jegliche Unterstützung zu bieten, um das Kind auch zu Hause zu betreuen, falls die Familie dies wünscht. Das ist «sehr wichtig: Es hilft dem Kind und der Familie, ins eigene Umfeld zurückzukehren und Momente zu erleben, die anders sind als im Spital», betont der Genfer Arzt.
Dank seinem spezialisierten Team bei der Palliativpflege für Kinder und der Zusammenarbeit mit Kinderärzten der Stadt Genf sowie privaten Krankenpflegerinnen, die in Palliativpflege ausgebildet sind, bietet die Abteilung Onkologie und Hämatologie für Kinder am Universitätsspital GenfExterner Linkdie nötige Unterstützung. «Wir offerieren eine Betreuung zu Hause, sie ist aber nicht Pflicht», sagt Ansari.
«Häufig wollen die Familien zu Beginn der Erkrankung im Spital bleiben, weil es ihnen Sicherheit gibt. Sie gehen davon aus, dass das Kind hier besser betreut wird; sie haben Angst, nach Hause zurückzukehren. Wenn man mit ihnen über Palliative Care spricht, ist die Zukunft in der Regel düster. Und sie haben Angst, die Situation zu Hause nicht meistern zu können.»
Die häusliche Betreuung ist tatsächlich ein enormes Unterfangen, «da man in der Lage sein muss, alles zu leisten, was im Spital getan wird. Für jeden Patienten sind spezielle Strategien und diverse Leistungen nötig, damit die bestmögliche Situation erreicht werden kann».
Dennoch: Wenn die Familie einmal beruhigt ist und weiss, dass sie auf ein mobiles Team zählen kann, das rund um die Uhr zur Verfügung steht, und dass die Tür des Spitals für den Notfall immer offensteht, entscheidet sie sich in der Regel für eine Betreuung des Kindes zu Hause. «Meistens danken uns die Familien dafür, dass sie diese Möglichkeit hatten», erzählt der Experte.
Unterstützung in der Trauer
Die Palliativpflege geht noch weiter: «Am Ende stirbt das Kind leider. Aber es ist wichtig, diese Familien weiterhin zu betreuen, damit sie sich allmählich erholen und zu einem einigermassen normalen Leben zurückfinden. Die Eltern und auch die Geschwister des Verstorbenen werden eine extrem tiefe und schmerzhafte Narbe haben. Wir hoffen, dass diese dank unserer Begleitung ein Stück weit verheilt, auch wenn klar ist, dass sie ihr ganzes Leben lang sichtbar bleibt.»
Eine Krankheit, die zum Tode des Kindes führt, bringt die familiären Beziehungen völlig durcheinander. Nicht selten trennen sich die Paare. Der Tod kann sich auch auf die Entwicklung der Geschwister sowie auf deren Beziehungen zu den Eltern auswirken.
«Eine Möglichkeit ist, Familientherapeuten herbeizuziehen. Um die Familie wieder zusammenzubringen, um das Gleichgewicht erneut zu finden, sind Spezialisten gefragt, die mehr Mittel und Zeit haben als wir, allen voran Kinderpsychiater, die in Familientherapie spezialisiert sind», erklärt Ansari.
Global und multidisziplinär
Der breite multidisziplinäre Ansatz ist ein typisches Merkmal der Palliative Care bei Kindern. Der komplexe Zusammenhang und die speziellen Leiden erfordern das. Diese sind eher selten, und Krankheitsverlauf, Pharmakologie und Behandlung sind oft anders als bei Erwachsenen, so Ansari.
«Die Pädiatrie braucht diese Gruppen an Palliativ-Spezialisten für Kinder unbedingt.»
Seiner Ansicht nach «braucht die Pädiatrie diese Gruppen an Palliativ-Spezialisten für Kinder unbedingt». Die Gruppe für Kinder-Palliativpflege, die er leitet, wurde 2007 innerhalb der Abteilung Onkologie und Hämatologie für Kinder am Universitätsspital Genf gegründet. «Wir taten dies mehr oder weniger auf freiwilliger Basis, ausserhalb unserer Arbeitszeiten. Allmählich fanden wir dank privaten Stiftungen Mittel, um unsere Arbeit voranzubringen», erzählt er.
Nun wird darüber nachgedacht, wie die Gruppe transversal und global werden kann, damit auch «Kindern in der Neurologie geholfen werden kann, Kindern, die von der Geburt her zum Beispiel an Lungen-, Herz- oder anderen Krankheiten leiden. Dafür braucht es mehr Mittel. Zurzeit laufen Gesuche auf institutioneller Ebene».
Die Schweiz im Rückstand, aber…
Dass die Kinder-Palliativpflege in Genf nur dank Pioniergeist und Freiwilligeneinsatz einer Gruppe von Profis zustande kam und die Genfer Unispitäler zurzeit über keine eigene Abteilung für Palliativmedizin verfügen, widerspiegelt die Situation in der Schweiz auf diesem Gebiet. Gesamtschweizerisch gibt es nur drei Spitäler – St. Gallen, Zürich und Lausanne – die eine solche aufweisen. Dies zeigt eine im Februar publizierte StudieExterner Link. Herausgestellt hat sich auch, dass es Differenzen gibt unter den Spitälern mit und ohne spezialisierten Teams für Kinder-Palliativpflege.
Marc Ansari ist dennoch zuversichtlich: «Für die Zukunft sehe ich nur positive Entwicklungen. Mit der Zeit wird es mehr Mittel und mehr sensibilisierte Personen auf allen Ebenen geben: Leute aus der Gesellschaft, aber auch aus Institutionen und der Politik. In der Schweiz sind wir nicht immer die schnellsten, aber wenn man etwas macht, wird es gut gemacht, solid und nachhaltig. Das Bewusstsein ist da, dass die Weiterentwicklung der Palliativmedizin für Kinder dringend ist. Es geht in diese Richtung, auch wenn noch viel zu tun bleibt.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch