Frauen laufen gegen Belästigung auf der Strasse
Was einst als heftiges Flirten durchgehen konnte, ist für junge Frauen heute nicht mehr akzeptabel. In Genf führten zwei laufbegeisterte Studentinnen eine Aktion durch, um gegen sexistische Kommentare vorzugehen und den öffentlichen Raum zurückzugewinnen. Ein Konzept aus Frankreich, das auch in der Schweiz Fuss fassen könnte.
Drei Gleichstellungs-Projekte
Im Fahrwasser der #MeToo-Bewegung und des Frauenstreiks vom 14. Juni vervielfachen sich in der Schweiz die Initiativen für die Gleichstellung von Frauen und Männern. swissinfo.ch widmet drei verschiedenen Aktionen in verschiedenen Bereichen je einen Artikel. Nächstes Thema wird die «Tampon-Steuer» sein.
Sie haben genug von sexistischen Bemerkungen, genug davon, dass ihnen nachgepfiffen oder gehupt wird, wenn sie vorbeigehen. Und sie haben genug davon, bei ihrem Lauftraining bestimmte Orte meiden zu müssen.
Clémence Gallopin, 22, und Juliette Radi, 25, haben beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Damit sie ihr Recht auf Sport beanspruchen können, wo und wann sie wollen, und in der von ihnen gewünschten Kleidung.
«Bei gewissen Quartieren wussten wir bereits, dass wir unangenehme Kommentare ertragen müssen, besonders wenn wir am Abend laufen gingen, und noch mehr, wenn wir in Shorts oder mit einem Sport-Bra laufen», erzählen die Studentinnen in Wirtschaftswissenschaften.
Nach der historischen Mobilisierung am Tag des Frauenstreiks am 14. Juni und angesichts der Bewegung #MeTooExterner Link, wollen sich die beiden in ihrer sportlichen Aktivität nicht mehr länger eingeschränkt fühlen.
Deshalb importierten die Freundinnen das Konzept der Sine Qua Non SquadExterner Link nach Genf. Diese wurde in Paris vom Verein zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt «Tu vis! Tu dis!»Externer Link ins Leben gerufen. Die Grundidee: Gruppenläufe organisieren, um Frauen zu ermutigen, den öffentlichen Raum zurückzugewinnen.
Schwierige Quartiere zurückerobern
An einem sonnigen Juliabend organisieren Clémence und Juliette einen ersten Test. Treffpunkt ist am Genfer Seebecken, beim Eingang des Seebads «Bains des Pâquis»Externer Link. 24 Personen haben sich angemeldet, darunter vier Männer.
Nach einem Aufwärmen nach allen Regeln der Kunst stürmen die Läuferinnen und Läufer das beliebt-berüchtigte Pâquis-Quartier. «Wir haben ein Quartier ausgewählt, in dem es nicht ungewöhnlich ist, dass unangemessene Kommentare kommen, um zu zeigen, dass wir uns nicht beeindrucken lassen», sagt Juliette.
Telma kommt aus der kleinen Gemeinde Genthod am nördlichen Ufer des Genfersees. Sie hat ihre Tochter Lorena mitgenommen. Die ursprünglich aus Brasilien stammende Frau kennt das Problem nur zu gut. «In São Paulo oder Rio de Janeiro ist es für eine Frau unvorstellbar, allein laufen zu gehen; das Risiko einer Aggression ist zu hoch. Deshalb bildeten sich Frauengruppen, um zusammen laufen zu gehen.» In der Schweiz läuft Telma normalerweise mit ihrem Hund und fühlt sich dadurch sicher.
Die meisten der Läuferinnen haben noch keine negativen Erfahrungen gemacht. Viele aber geben zu, dass sie über ihre Trainingsstrecke nachdenken, um Orte zu vermeiden, an denen sie sich nicht wohl fühlen. Deshalb machen sie bei der Aktion mit.
Raphaël und Timothé sind heute dabei, um ihre Freundinnen zu unterstützen. «Auf dem Weg zum Startpunkt sind wir durch das Pâquis-Quartier gelaufen. Dort bemerkten wir gewisse Typen, die systematisch Frauen anstarren. Wir verstehen, dass dies nicht angenehm ist», sagen die beiden. Sie halten es für wichtig, dass sich Männer des Problems bewusst werden und sich in den Kampf gegen Belästigung auf der Strasse einbringen.
Aufwärmen, Laufen, Muskelkräftigung und Spass – die erste Genfer Ausgabe der Sine Qua Non Squad in Bildern.
Die Macht, etwas zu bewegen
Geschlechtsspezifische Diversität ist auch in den Augen der Gründer der Sine Qua Non Squad wichtig, die sich für eine positive Männlichkeit im Kampf gegen Ungleichheiten einsetzen. In Paris haben sich die Gruppentrainings bereits bewährt.
«Jeden Monat wählen wir einen Ort, den wir fürchten, und gehen zusammen zum Trainieren dort hin. Als Gruppe sind wir besser in der Lage, auf unangemessene Bemerkungen zu reagieren», sagt Mathilde Castres, die Präsidentin des Vereins.
Gemäss einer Studie des US-Magazins Runner’s WorldExterner Link gaben 43% der befragten Frauen an, dass sie schon während ihres Trainings belästigt wurden. Castres glaubt nicht, dass sich das Phänomen verstärkt, sondern dass sich die Reaktion der Frauen verändert hat: «Früher haben wir unser Verhalten angepasst. Heute haben wir endlich die Macht, etwas zu bewegen.»
In Paris organisiert der Verein auch ein Rennen, das im Oktober zum zweiten Mal stattfinden wird.
Sexismus und Belästigung beschäftigen auch die Behörden. Die Stadt Genf führte zwischen 2016 und 2017 eine Umfrage über die sportlichen Aktivitäten der Frauen durch. 26% der Befragten gaben an, dass sie während ihres Trainings schon Ziel sexistischer Kommentare oder Gesten waren. Unter Studentinnen liegt diese Quote sogar bei 53%. In der Folge ergriff die Stadt eine Reihe von Massnahmen, die es Frauen ermöglichen sollen, den öffentlichen Raum zurückzugewinnen.
Héloïse Roman ist Projektleiterin für Gleichstellung in der Stadt Genf. Sie hält es für notwendig, nicht nur gegen Belästigung und Sexismus vorzugehen, sondern auch an dem Gefühl der Sicherheit zu arbeiten: «Von Kindesbeinen an wird Frauen immer wieder gesagt, dass der öffentliche Raum für sie gefährlich sei, und sie werden sogar beschuldigt, Risiken einzugehen, wenn sie zum Ziel eines Angriffs werden.»
«Von Kindesbeinen an wird Frauen immer wieder gesagt, dass der öffentliche Raum für sie gefährlich sei, und sie werden sogar beschuldigt, Risiken einzugehen, wenn sie zum Ziel eines Angriffs werden.»
Héloïse Roman
Um dem abzuhelfen, verabschiedete die Stadt Anfang 2019 einen Aktionsplan mit dem Titel «Sexismus und Belästigung im öffentlichen Raum», der Massnahmen auf mehreren Ebenen ermöglicht: Prävention, Sensibilisierung, Schulung von Fachkräften, Planung und Belebung von öffentlichen Räumen sowie eine Datenerhebung.
In dieser Hinsicht interessiert sich die Gemeinde für die Aktion Sine Qua Non Squad, die zur Verbesserung des Sicherheitsgefühls beiträgt und eine symbolische Sensibilisierungsaktion darstellt.
Wo beginnt Belästigung?
Nach einer Stunde Anstrengung unter der noch heissen Sonne ist es Zeit für eine Bilanz des ersten Trainings einer Sine Qua Non Squad in der Schweiz. Was wäre dazu besser geeignet als die Stretching-Session danach. «Wir sind durch Quartiere gelaufen, in die ich mich allein nicht hineinwagen würde», sagt Lorena. Sie sei bereit, diese Erfahrung zu wiederholen.
Auch die Organisatorinnen sind zufrieden. «Es gab unterwegs einige unangenehme Kommentare, darunter war ein Mann, der uns in einem spöttischen Ton aufmunterte», sagt Juliette. «Ja, aber mich hat er auch angespornt», bemerkt ein junger Mann.
Wo genau beginnt die Belästigung, fragen sich die jungen Läuferinnen und Läufer. Vielleicht ist die Definition eine Frage des Alters. «Wenn ich mit meiner Mutter rede, findet sie einige Kommentare anzüglich, aber akzeptabel, was sie für mich nicht sind», sagt Juliette.
Aktionsplan «Geschlecht und Sport»
Im Rahmen ihres Aktionsplans «Geschlecht und Sport» ermutigt die Stadt Genf Mädchen, Skateparks zu nutzen – eine Sportinfrastruktur, die hauptsächlich von Jungs genutzt wird. Sie unterstützt Skateboard-Kurse und die Organisation eines Frauenwettbewerbs, der am 14. September im Skatepark Plainpalais stattfinden wird. Auch Überlegungen zur Umgestaltung von Schulhöfen laufen.
(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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