«Gute Migranten»: das Glück des Schweizer Fussballs
Von den 32 Teams an der Fussball-WM in Brasilien hat die Schweizer Auswahl am meisten Spieler mit ausländischen Wurzeln. Sind Shaquiri, Rodriguez, Seferovic und Co. ein Schaustück des helvetischen Integrationsmodells oder lediglich Vertreter einer Sportart, die vor allem von Migranten ausgeübt wird?
Sein balkanisch klingender Name ist seit dem 15. Juni in aller Munde: Haris Seferovic, der Torschütze, welcher der Schweizer Nationalmannschaft im WM-Antrittsmatch gegen Ecuador mit dem 2:1 praktisch in letzter Sekunde den Sieg und damit drei Punkte sicherte.
Bereits 2009 war er es, der im Final der U17-Weltmeisterschaft in Nigeria gegen den Gastgeber das einzige Tor geschossen und der Schweiz ihren ersten WM-Sieg überhaupt beschert hatte.
Geboren in der Schweiz, als Sohn von Bosniern, die das damalige Jugoslawien Ende der 1980er-Jahre verlassen hatten, gehört Seferovic zu den zahlreichen Nati-Spielern mit ausländischen Wurzeln (15 von 23).
Torhüter:
Diego Benaglio: Grosseltern aus Italien
Roman Bürki: Schweiz
Yann Sommer: Schweiz
Verteidiger:
Philippe Senderos: Eltern aus Serbien und Spanien
Johan Djourou: in der Elfenbeinküste geboren
Michael Lang: Schweiz
Fabian Schär: Schweiz
Stephan Lichtsteiner: Schweiz
Steve von Bergen: Schweiz
Reto Ziegler: Schweiz
Ricardo Rodriguez: Eltern aus Chile
Mittelfeld-Spieler:
Tranquillo Barnetta: italienisch-schweizerischer Doppelbürger
Valon Behrami: im Kosovo geboren
Blerim Dzemaili: in Mazedonien geboren
Gelson Fernandes: auf den Kapverden geboren
Gökhan Inler: Eltern aus der Türkei
Xherdan Shaqiri: im Kosovo geboren
Admir Mehmedi: in Mazedonien geboren
Valentin Stocker: Schweiz
Granit Xhaka: Eltern Albanien
Stürmer:
Haris Seferovic: Eltern aus Bosnien-Herzegowina
Mario Gavranovic: Eltern aus Bosnien-Herzegowina
Josip Drmic: Eltern aus Kroatien
Laut dem australischen Informations-Designer James Offer, der aufgrund der Herkunft (Geburtsort, Eltern, Grosseltern) aller WM-Spieler eine Grafik erstellt hat, ist die Schweizer Nationalmannschaft die kosmopolitischste am Turnier. Die Nati-Spieler haben demnach Wurzeln in 21 Ländern, vor Australien mit 18 Verbindungen sowie Algerien, Bosnien-Herzegowina und Frankreich mit je 16.
Ein Grossteil der Schweizer Auswahl sind «Secondos», das heisst, mindestens ein Elternteil stammt aus dem Ausland. Nicht selten haben sie eine doppelte Staatsbürgerschaft, wie etwa der Spanien-Schweizer Philippe Senderos, dessen Eltern aus Serbien und Spanien stammen.
«Beweis der Toleranz»
Auch der Captain des Teams, Gökhan Inler, ist Doppelbürger. «Ich habe Inler, einem türkischen Einwanderer, die Rolle des Captains übergeben, weil ich den aus dem Ausland stammenden Spielern mehr Gewicht im Team geben wollte. Diese Vielfalt steht für die Schweiz von heute und ist ein Beweis ihrer Toleranz. Wir sind stolz, zu zeigen, dass das Land seine Ausländer gut integrieren kann», sagte Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld, der deutsche Wurzeln hat, in einer Reportage des französischen Fernsehsenders Canal+ über dessen «nicht sehr neutrale Auswahl».
Mehrere Spieler sind im Ausland geboren. So etwa der Star des Teams, Xherdan Shaqiri, der aus Kosovo stammt und nicht müde wird, seine verschiedenen Wurzeln zu betonen. «XS», Torschütze im WM-Qualifikationsmatch gegen Albanien 2013, zeigte damals seine Freude über den Treffer aus «Respekt» gegenüber seiner Herkunft nicht.
Wenig identitätsstiftender Sport
Diese Vielfalt ist relativ jung. Noch vor 20 Jahren, an der WM in den USA, war der aus Argentinien stammende Nestor Subiat noch der einzige Eingebürgerte in der Nati. An der WM 2006 in Deutschland zählten bereits acht Spieler mit ausländischen Wurzeln zur Auswahl von Köbi Kuhn.
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Die Schweizer Nationalmannschaft als Modell einer gelungenen Integration? Daran glaubt Peter Gilliéron, Zentralpräsident des Schweizerischen Fussballverbandes (SFV), fest: «Für mich gibt es in der Schweiz keinen wichtigeren Integrations-Vektor als den Fussball. In den letzten Jahrzehnten haben sich Eingewanderte über diesen Sport am meisten der Schweiz und den Schweizern angenähert», sagte er 2009 nach dem WM-Sieg der U17 in Nigeria gegenüber swissinfo.ch.
Der Sportsoziologe Fabien Ohl von der Universität Lausanne sieht es viel pragmatischer. Laut ihm erklärt sich dieses Phänomen vielmehr über die soziale Herkunft der Migranten und der spezifischen Sportsituation in der Schweiz: «In vielen anderen Ländern ist Fussball der Flaggschiff-Sport par excellence. In der Schweiz steht er in Konkurrenz zu Eishockey, alpinem Skisport und Tennis. Diese Sportarten sind teurer und in der Schweizer Identität besser verankert. Für Einwanderer ist der Zugang zu diesen Sportarten daher nicht einfach; leichter finden sie zum Fussball.»
Es gebe aber noch einen anderen Grund, so der Soziologe: Für viele junge Eingewanderte gilt der Fussball als das beste Mittel, zu Erfolg und sozialer Anerkennung zu kommen. «Weil Identifikationsfiguren häufig mit Einwanderung zu tun haben, zieht dieser Sport Migrantenkinder an», so Ohl. Von den über 250’000 lizenzierten Spielern besitzt ein gutes Drittel nicht die schweizerische Staatsbürgerschaft.
Und Spieler aus Migrantenfamilien würden nicht zögern, ihre Ambitionen zu demonstrieren, ihren Willen, Geld zu verdienen und im Fussball zu reüssieren, koste es, was es wolle. Im Gegensatz dazu zögen es viele Schweizer – und deren Eltern – vor, sich während der Adoleszenz auf die Schule oder eine Lehre zu konzentrieren.
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Resultat der «Masseneinwanderung»
Ebenfalls für diesen Erfolg verantwortlich sind das Interesse des SFV an Binationalen, denen in der Nationalmannschaft rasch Verantwortlichkeiten übertragen werden, und das in der ganzen Welt berühmte Ausbildungs-System.
Das Team fasziniert, auch wegen der am 9. Februar angenommenen Einwanderungsinitiative. Beobachter konstatieren ein komisches Paradox: «Bitte nicht vergessen und nicht verdrängen: Sie alle sind das Resultat der ‹Masseneinwanderung'», schreibt etwa das Online-Magazin journal21. «Ihre Eltern kamen aus dem Ausland, meist nicht aus EU-Staaten, und sie durften glücklicherweise ihre Familien mitbringen. Sonst wären die Buben – einige kamen in der Schweiz zur Welt – niemals in ihren lokalen Fussballclubs als grosse Talente entdeckt worden.»
Natürlich wurde der Schweizer Verteidigungs- und Sportminister Ueli Maurer von der rechtskonservativen Schweizerische Volkspartei (SVP), auf Besuch in Brasilien, von den Journalisten zu diesem Thema belagert.
«Was denkt er über dieses multikulturelle Team, das so weit von den Stereotypen entfernt ist, die durch seine Partei vermittelt werden?», fragte Le Matin Dimanche. «Da bin ich nicht einverstanden, die SVP hat Ausländer, die sich integrieren und für das Wohl der Schweiz arbeiten, immer willkommen geheissen», antwortete er.
Der Fussballer, der «gute Einwanderer»
Fabien Ohl vermag diese Diskussion nicht besonders zu erstaunen: «Der Fussballer wird als guter Migrant eingeschätzt, weil er dem Land dient und sein Gastland mit Stolz erfüllt. Im Gegensatz dazu gibt der Ausländer, der straffällig wird oder nicht die gleichen kulturellen Praktiken wie die unseren ausübt, ein negatives Bild ab. Alle normalen Ausländer hingegen, die weder besonders begabt noch bedrohlich erscheinen, sind kaum sichtbar.»
Der Soziologe warnt aber auch vor einem Bumerang-Effekt: «Wenn das multikulturelle Team erfolgreich ist, loben alle die Vielfalt. Sollten aber Schwächen auftauchen, eine schlechte Leistung gebracht werden oder eine Polemik entstehen, werden sofort die Unterschiede hervorgehoben. Das französische Team ist das perfekte Beispiel dafür.» Nach dem WM-Titel 1998 war es hochgejubelt, nach dem Streik an der WM 2010 in Südafrika mit Schande übersät worden.
Der Nationalspieler, Mitglied der Auswahl seit 2005, ist ein Schlüsselspieler des Dispositivs von Trainer Ottmar Hitzfeld. An einer Pressekonferenz äusserte er sich am 16. Juni auch zu seinen kosovarischen Wurzeln.
«Das Schweizer Team ist nicht wie die andern, mit all seinen verschiedenen Nationalitäten und Mentalitäten. Ich will vor allem ein Beispiel sein. Ein Beispiel für all jene Schweizer, die wie ich von anderswoher kommen. Ich will ihnen zeigen, dass wir diesem Land alles geben müssen, was wir von ihm erhalten haben.
Wenn ich heute ein Fussballprofi bin, verdanke ich dies der Ausbildung, die mir in der Schweiz geboten wurde. Ich muss respektieren, was die Schweiz für mich getan hat. Die Frage ist nicht, ob man die Nationalhymne singt oder nicht. Es zählt allein, dass man auf dem Platz 100% leistet. Das ist meine Haltung. Hätte ich eine andere, müsste ich befürchten, das jene Jungen, die sich mit mir identifizieren, auch eine andere hätten.
Dieses Land hat uns die Chance geboten, dieses Niveau zu erreichen. Doch es gibt Momente in einem Match, in dem das Herz sprechen muss. Manchmal kann Dich auch der Geist Deines Geburtslandes leiten.»
(Quellen: SDA / Le Matin)
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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