«Habe nie Menschlichkeit erlebt»
"Ich wurde 1936 im Kanton St. Gallen geboren. Wir waren drei Kinder, unsere Mutter starb mit 25 Jahren in einer psychiatrischen Klinik.
Mein Vater hat uns immer gesagt, die Ärzte hätten sie getötet. Er war Musiker und konnte nicht für uns schauen. Man hat uns in ein Waisenhaus gesteckt. Wir wurden misshandelt, wir hatten Hunger und die Schwestern wurden alle 4 Jahre ausgewechselt, damit sie uns nicht zu stark an uns gewöhnten.
Mit 14 kam ich zu einem Bauern und ich müsste mich um seine 20 Kinder kümmern. Die Bedingungen waren schrecklich und ich wurde nicht bezahlt, aber ich wusste nicht einmal, dass ich einen Lohn erhalten sollte. Ich flüchtete, kam in ein Heim, flüchtete und landete auf der Strasse.
Mit 20 bekam ich eine Stelle als Dienstmädchen in Lausanne. Da hat das Unheil seinen Lauf genommen. Ich ging mit einem andern Mädchen an einen Ball. Wir liessen uns einladen, wurden vergewaltigt und schwanger. Mein Chefin hat mit auf die Strasse gestellt. Ich hatte keinen Rappen. Am Weihnachtsabend wollte ich mich von einer Brücke stürzen. Ich hatte schon ein Bein über das Geländer angehoben, da hat mit mein Baby zu ersten Mal einen Fusstritt gegeben. Ich habe geschworen, mich um ihn zu kümmern. Doch es wurde gleichwohl traumatisiert von unserem Leben während 5 Jahren auf der Strasse. Ich sprach kaum Französisch und man hasste mich, weil ich Deutschschweizerin war. Ich schlief in Kirchen, wusch mich an öffentlichen Brunnen, ich leckte die Teller im Restaurant eines Warenhauses leer. Schliesslich hat man mir eine Wohnung gegeben und ich habe mit Schaustellern in einer Schiessbude gearbeitet. Sie haben mir das Verkaufen gelernt und ich wurde Vorführerin von Elektrogeräten.»
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