Wohnbau-Genossenschaften: Erschwingliches Wohnen im urbanen Raum
Die Schweiz gilt heute in Sachen Wohnkultur weltweit als eines der fortschrittlichsten Länder. Nicht nur in architektonischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf Wohnformen, die einen Mittelweg zwischen Wohneigentum und Mietliegenschaft darstellen: die Wohnbau-Genossenschaften.
Die meisten Städte der Deutschschweiz und Genf sind derzeit ein Experimentierfeld für ungewöhnliche Wohnformen. Kein Wunder also, dass man auch im Ausland auf diese Wohnmodelle aufmerksam geworden ist und deren Umsetzung, besonders in Zürich, mit grossem Interesse verfolgt.
Im Zentrum steht dabei die Frage, mit welchen Massnahmen den unzähligen Problemen rund um das Thema Wohnen begegnet werden soll: von steigenden Immobilienpreisen über verteuerte Mieten, bis hin zur so genannten Gentrifizierung und urbanen Entfremdung.
Der «dritte Weg»
Zur Gründung einer Wohnbau-Genossenschaft braucht es mindestens sieben Mitglieder beziehungsweise Genossenschafter, die sich nach den Grundsätzen der gegenseitigen Unterstützung und Aufteilung der Verantwortung für den Bau eines Hauses oder den Erwerb von Liegenschaften zusammentun, um diese ohne Gewinnstreben nach demokratischen Prinzipien zu verwalten. Mit andern Worten: eine Wohnform, die einen Mittelweg zwischen Mieterdasein und Eigentümerstatus darstellt.
Dieser dritte Weg führt zunächst zu Kosteneinsparungen für die betreffenden Hausbewohner, hat aber bisweilen auch tiefgreifende weitere Auswirkungen. So sind Wohnbau-Genossenschaften mittlerweile nicht nur alternative Formen der Liegenschaftsverwaltung, sondern entwickeln sich häufig zu selbstverwalteten, nach ökologisch-solidarischen Grundsätzen organisierten urbanen Gemeinschaften.
Dazu vier Beispiele aus Zürich: die gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft WogenoExterner Link, gegründet 1981, deren Wohnsiedlungen vollumfänglich von den Mieterinnen und Mietern selbst verwaltet werden; die Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1Externer Link, ein innovatives, zutiefst solidarisches ökologisches Projekt, in dessen Zentrum die Nutzung gemeinschaftlicher Räume und die Interaktion mit dem Quartier steht; die Baugenossenschaften Mehr als WohnenExterner Link und KalkbreiteExterner Link, auch sie in Zürich, die aufgrund ihres äusserst geringen Energiebedarfs, ihrer architektonischen Projektierung, der Raumgestaltung und Organisation im Innern internationale Bekanntheit erlangt haben.
Diese, wie auch andere Wohnbau-Genossenschaften, sind eine relativ komplexe neue Erscheinung, deren Wurzeln allerdings weit zurückreichen. Im Wesentlichen lassen sich drei Phänomene feststellen, die einige dieser Projekte stark beeinflusst haben: die Wohnutopien des 19. Jahrhunderts, der Genossenschafts-Gedanke insgesamt und die Jugendbewegungen der 1980er-Jahre.
Die Wohnutopien des 19. Jahrhunderts
Obschon heutzutage weitgehend unbekannt, haben die Wohnutopien des 19. Jahrhunderts doch eine nicht zu unterschätzende politische, soziale und architektonische Relevanz. Einige dieser im Dunstkreis des sogenannten utopischen Sozialismus, jenem Konglomerat von philosophischen, religiösen und sozialen Denkrichtungen entstandenen Visionen verfolgten die Emanzipation der Arbeiterklasse oder zumindest eine Verbesserung deren Lebensbedingungen.
Einer der berühmtesten und bedeutendsten Denker, die damals die Debatte vorantrieben, war Robert Owen, dessen Sozialismus «paternalistischer Ausprägung» zwar nicht die Strukturiertheit anderer Denker seiner Zeit auszeichnete, ihn selbst aber wegen seines regen Aktivismus› im sozialen, industriellen, gewerkschaftlichen und pädagogischen Bereich zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten seines Jahrhunderts werden liess.
Owen vertrat die Auffassung, der menschliche Charakter werde in jederlei Hinsicht durch das Umfeld geschmiedet. Als Antwort auf die um sich greifende städtische Verelendung propagierte er daher ein Gesellschaftsmodell, das auf Genossenschaftsdörfern und kleinen, nicht erweiterbaren agro-industriellen Gemeinschaften beruhte. Seine Vorstellung vom gemeinschaftlichen Leben versuchte er im amerikanischen Bundesstaat Indiana umzusetzen. Doch dem Experiment war nur ein kurzes Leben beschieden.
Ein weiterer bedeutender Vertreter des utopischen Sozialismus war Charles Fourier. Dieser war, wenngleich aus einer Kaufmannsfamilie stammend, ein scharfer Kritiker der merkantilen Kultur des 19. Jahrhunderts und ganz allgemein der einsetzenden Industrialisierung. Als Reaktion darauf entwickelte er ein Modell der gesellschaftlichen Ordnung, das auf dem freien Zusammenschluss von Menschen zu Gemeinschaften, sogenannten «Phalanxen», gründete.
Sitz einer jeden Phalanx war in seiner Vision das «Phalansterium», ein Bauwerk von riesigen Ausmassen, ein Ort gemeinschaftlichen Lebens, in dem unter Verzicht auf private Besitztümer ohne jeden Zwang gearbeitet wird und Gefühlsbeziehungen frei von allen Treueversprechen und Familienbanden eingegangen werden.
Fouriers Vorstellungen stiessen auf grossen Anklang und wurden teilweise auch verwirklicht, unter anderem durch den Industriellen Jean-Baptiste André Godin, der in unmittelbarer Nähe seiner Fabrikanlagen ein sogenanntes «Familistère» einrichtete, einen Gebäudekomplex mit baulichen Einheiten, die zwar in engem Zusammenhang mit der industriellen Fertigung standen, aber auch Wohnraum für Familien boten.
Genossenschafts-Bewegung
Genossenschaften sind ökonomische, rechtliche und bisweilen sogar gesellschaftspolitisch motivierte Formen von Zusammenschlüssen, die im anbrechenden 19. Jahrhundert entstanden und damit für die industrielle Modernität charakteristisch waren.
In der Folge haben sich über die Jahre hinweg unterschiedlichste Arten von Genossenschaften herausgebildet: Produktions- und Konsumgenossenschaften, Agrargenossenschaften und Genossenschaften zur gemeinsamen Landbewirtschaftung, Kredit- und Spargenossenschaften und selbstverständlich auch Bau- und Wohngenossenschaften.
Die Bau- und Wohngenossenschaften entstanden im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Städten der Deutschschweiz als Reaktion auf die erbärmlichen Wohnbedingungen des städtischen Proletariats. Namentlich in den Jahren nach dem Generalstreik von 1918 erkannten die Schweizer Behörden auf kommunaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene die Notwendigkeit, den sozialen Wohnungsbau zu unterstützen.
Dies führte unter anderem zu einem beträchtlichen Zuwachs an Wohngenossenschaften, eine Entwicklung, die sich auch im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg bis mindestens in die 1960er-Jahre hinein wiederholte und dank der unverminderten Förderung des sozialen Wohnungsbaus durch die öffentliche Hand möglich wurde.
Jugendbewegungen
Einen entscheidenden Impuls in Richtung neuer Schweizer Wohnpolitiken setzten die verschiedenen Jugendbewegungen der 1980er-Jahre. Ein beträchtlicher Teil der Exponenten dieser Generation beschloss damals, der Stadt den Rücken zu kehren und sich aufs Land zurückzuziehen, während andere sich dafür einsetzten, städtische Wohnräume und öffentliche Areale dem Zugriff von Spekulanten zu entziehen. Nicht wenige unter ihnen nahmen an Haus- und Grundstücksbesetzungen teil.
In den Städten der Deutschschweiz und besonders in Genf gewannen die «Squatter», Anhänger einer europaweiten Bewegung, die noch vor den 80er-Jahren entstanden war, massiv an Zulauf – begünstigt durch die Haltung der städtischen Behörden, welche die Besetzung leerstehender Liegenschaften duldeten oder auf Vertrauensbasis gar Verträge mit den Besetzern abschlossen. Einige dieser besetzten Liegenschaften wurden später in Wohnbau-Genossenschaften umgewandelt, so etwa der Squat Lissignol in GenfExterner Link.
Nicht alle Wohnbau-Genossenschaften, die in jenen Jahren in der Schweiz entstanden, sind aus einer Hausbesetzung hervorgegangen, doch viele von ihnen sind die natürliche Fortsetzung, besser gesagt, eine Art Institutionalisierung der die Hausbesetzer-Szene bildenden Jugendbewegungen.
Heutzutage erfreuen sich die Wohnbau-Genossenschaften in den urbanen Kontexten unseres Landes grosser Beliebtheit. Es existiert eine eigentliche Bewegung von Menschen, die sich innerhalb der Genossenschaften oder in anderen Zusammenschlüssen dafür einsetzen, das genossenschaftliche Wohnen zu fördern. Dieselben Bewegungen kämpfen auch für eine Eindämmung der Finanzspekulation im Wohnungswesen und haben in den vergangenen Jahren mehrere Initiativen zugunsten des sozialen Wohnungsbaus lanciert, die an Abstimmungen weit mehr als nur Achtungserfolge erzielten.
(Übertragung aus dem Italienischen: Cornelia Schlegel)
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