Hilfe für den «Wilden Westen» Myanmars
Die Schweiz verstärkt ihr Engagement in Myanmar. Als erstes Land Europas empfängt sie Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi. Die Arbeit der Hilfswerke im früheren Burma, einem Land im Umbruch, ist zwar einfacher geworden, doch es bleiben Unsicherheiten.
Die Antwort auf die Frage nach der auffälligsten Änderung der letzten Zeit lautet immer gleich: «Der Verkehr.» Der sprunghafte Anstieg der Zahl der Fahrzeuge ist in Yangon regelmässig Gesprächsthema. In den Strassen der früheren Hauptstadt rangeln übervolle Busse und ramponierte Autos um jeden Zentimeter, auch über den Strassenrand hinaus.
Eine weitere Neuheit legt klares Zeugnis des Wandels ab. Überall im Stadtzentrum sind Bilder von Aung San Suu Kyi zu sehen, der «Mutter der Menschen in Myanmar», wie sie hier genannt wird: Riesige Plakate hängen an Kreuzungen, und auf den Trottoirs werden T-Shirts und DVDs zum Kauf angeboten.
Vor dem Haus der Oppositionsführerin, das lange nicht zugänglich war, drängeln sich Busladungen von Touristen für ein Erinnerungsfoto. Die frühere Staatsfeindin ist zur Touristenattraktion geworden.
Weniger offensichtlich, aber genauso ein Zeichen des Wandels, ist die entspannte Art und Weise, wie die Menschen heute über Politik und die Probleme des Landes sprechen.
In den Teestuben sitzen die Leute an kleinen Tischen und diskutieren über steigende Preise und Lohnforderungen der Arbeiter. Berichte zur Unzufriedenheit der Bevölkerung über die häufigen Stromunterbrüche oder die Medienzensur sind auf den Titelseiten der englischsprachigen Zeitungen zu finden.
“Wir sind frei», jubelt ein alter Freund am Stadtrand von Yangon und bietet seine Gastfreundschaft für die Nacht an. «Wir müssen den Besuch eines Ausländers nicht mehr länger den lokalen Behörden melden.»
Nicht als Spione betrachtet
Auch Schweizer Hilfswerke vor Ort spüren die wachsende Freiheit. Neben der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), die seit 1998 in Myanmar ist, sind auch mehrere regierungsunabhängige Organisationen (NGO) in dem Land aktiv. Bei ihren Projekten geht es vor allem um die Bereiche Landwirtschaft, Bildung, Gesundheit, Bekämpfung der Armut und die Unterstützung besonders verletzlicher Bevölkerungsgruppen.
Die lokalen Behörden seien heute offener für einen Dialog, erklärt Mar Mar Oo, eine lokale Angestellte von Caritas Schweiz. «Sie räumen ein, dass es Probleme gibt und sie akzeptieren Hilfe.»
Man könne jetzt offen über Armut, Flüchtlinge und intern Vertriebene sprechen, fügt Thomas Fisler, der DEZA-Koordinator für humanitäre Hilfe in Südostasien, hinzu. «Das war bis vor wenigen Monaten noch undenkbar.»
«Als die Militärregierung an der Macht war, wurde die Arbeit mit ausländischen Gruppen argwöhnisch betrachtet», erklärt Kathy Shein, die lokale Direktorin der Schweizer Stiftung François-Xavier Bagnoud. «Wir werden nicht mehr als Spione betrachtet, unsere Arbeit ist heute weniger riskant.»
Mit den in Gang gekommenen demokratischen Reformen täten sich für die internationale Gemeinschaft und die NGO, die in dem Land aktiv sind, neue Möglichkeiten auf, sagt die Entwicklungsorganisation Swissaid.
Unterstützung für die Regierung
Aufgrund der jüngsten Fortschritte plant die Schweiz, ihre Beziehungen zum früheren Burma zu vertiefen. Nachdem sie einen Teil der Sanktionen aufgehoben hatte, kündigte die Schweizer Regierung auch an, in Myanmar eine Botschaft zu eröffnen.
Zudem will die Schweiz im nächsten Jahr die Entwicklungs-Zusammenarbeit mit Myanmar verstärken. Das Budget soll von 7 auf 25 Mio. Franken steigen. Zu den bisherigen humanitären Projekten – Wiederaufbau in vom Zyklon Nargis verwüsteten Regionen, Hilfe für Vertriebene und besonders verletzliche Personen – sollen neu auch Entwicklungsprojekte kommen.
Als Teil der globalen Strategie für 2013-2016, die noch vom Parlament verabschiedet werden muss, plant die DEZA Programme in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährungssicherheit und Berufsbildung. Auch will sie die Einbeziehung der Zivilgesellschaft, vor allem unter ethnischen Minderheiten, fördern.
«Wir wollen die zivile Regierung bei ihren Reformen unterstützen. Es ist nicht unsere Absicht, parallele Systeme zu schaffen, zum Beispiel im Bereich Bildung», erklärt der DEZA-Vertreter Fisler.
Von entscheidender Bedeutung seien Investitionen in soziale Infrastrukturen. Auch Aung San Suu Kyi habe erklärt, das Land brauche Schulen, Gesundheitszentren und eine ausreichende Wasserversorgung, sagt Fisler.
«Das Beste, das man sehen kann, ist eine Schule voller Kinder», sagt Fisler. Er weist gleichzeitig darauf hin, wie wichtig es sei, einen Fokus auf den Aufbau der Kapazitäten auf lokaler Ebene zu legen. «Denn eine neue Schule nützt nichts, wenn sie keine qualifizierten Lehrkräfte hat.»
Beat Nobs, Leiter der Abteilung Asien und Pazifik im Departement für auswärtige Angelegenheiten, hatte Ende April nach einem Besuch in Myanmar gesagt, die Schweiz könnte sich auch engagieren, um Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und ethnischen Volksgruppen zu erleichtern. Myanmars Präsident Thein Sein hatte zu einem solchen Dialog aufgerufen.
Die Hilfe an die ärmsten Bevölkerungsschichten sowie die Versöhnung mit den ethnischen Minderheiten sollten Priorität haben, sagt Caroline Morel, Chefin von Swissaid.
«Wilder Westen»
Gute Absichten allein werden jedoch nicht ausreichen, Vorsicht ist geboten. Myanmar steht weiterhin vor chronischen Problemen – Bürokratie, Korruption, Verletzungen der Menschenrechte und Straflosigkeit für Täter – und die Reformen kommen nur langsam voran.
«Es ist wie der chinesische Tanz des Drachen: Der Kopf bewegt sich, der Schwanz bleibt still», sagt Kathy Shein von der Stiftung François-Xavier Bagnoud.
Schweizer Hilfsorganisationen sind sich einig, dass in Myanmar zurzeit eine Art von «Wildem Westen» herrsche.
Wie in der Vergangenheit könnten sich Regeln ohne Vorankündigung über Nacht ändern, sagen die Hilfswerke, die daher einen Ad-hoc-Ansatz verfolgen. «Wir tun etwas solange, bis uns jemand explizit sagt, wir müssten aufhören», sagt Robert Millman, Delegierter von Terre des Hommes. Die Stiftung mit Sitz in der Schweiz kümmert sich vor allem um die Wiedereingliederung von Strassenkindern.
Für ausländisches Personal ist es auch nicht einfach, Visa oder Bewilligungen für Reisen innerhalb des Landes zu erhalten. Der Abschluss einer offiziellen Vereinbarung mit der Regierung (Memorandum of Understanding) involviert verschlungene, teils widersprüchliche Verfahren – persönliche Kontakte können in solchen Momenten noch immer entscheidend wirken.
Die institutionelle Verwirrung wird verschärft durch logistische Probleme. «Wir möchten in jenen ethnischen Regionen stärker präsent sein, wo die Bedürfnisse am grössten sind. Doch der Zugang zu den Staaten der Mon, Kayin und Kayah ist extrem schwierig, teilweise auch weil es kaum Strassen gibt», erklärt Fisler.
Im Staat der Kachin im Norden des Landes sei die humanitäre Lage für einige lokale Gemeinden schwieriger geworden, sagt Swissaid. Die Kämpfe zwischen Armee und bewaffneten ethnischen Gruppen hätten die Menschen gezwungen, aus ihren Dörfer zu fliehen. Einige Projekte mussten vorläufig ausgesetzt werden.
Soziale Spannungen, warnen humanitäre Organisationen, dürften durch eine unkontrollierte wirtschaftliche Entwicklung noch verschärft werden. Die ehemalige britische Kolonie, reich an Ressourcen wie Mineralien, Edelsteinen, Gas und Wasser, hat keine umfassenden Standards zum Schutz ihrer Bevölkerung und der Umwelt.
Lokale Gemeinschaften – und nicht nur ausländische Investoren – müssten vom politischen Wandel profitieren können, unterstreicht Swissaid.
November 2010: Erste Wahlen seit 20 Jahren, Hausarrest von Aung San Suu Kyi geht zu Ende.
Februar 2011: Thein Sein wird der erste zivile Präsident – nach einem halben Jahrhundert autoritärer Militärherrschaft.
August 2011: Der Präsident ruft die ethnischen Minderheiten zur Aufnahme von Friedensgesprächen auf.
Oktober 2011 und Januar 2012: Hunderte politische Gefangene werden freigelassen.
April 2012: Wahl von Aung San Suu Kyi ins Parlament. Ihre Partei, die Nationale Liga für Demokratie, kommt auf 43 der 44 Mandate, die zur Wahl standen.
Mai 2012: Die Schweiz hebt einen Grossteil der Sanktionen gegen Myanmar auf – Ausnahme Rüstungs- und Repressionsgüterbereich. Sie folgt damit einem ähnlichen Entscheid der Europäischen Union und anderer Staaten.
Juni 2012: Ihre erste Reise ins Ausland in 24 Jahren führt Aung San Suu Kyi nach Thailand.
13. – 15. Juni 2012: Die Oppositionsführerin besucht als erstes Land in Europa die Schweiz.
Ein Drittel der 50 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Myanmars gehört ethnischen Minderheiten an; die wichtigsten davon sind die Shan, Karen, Rakhine, Mon und Kachin.
Diese Volksgruppen leben auf etwa zwei Dritteln des Territoriums, oft in Regionen, die reich sind an natürlichen Ressourcen (Mineralien, Holz, Wasser, Gas etc.)
Jahrzehntelange bewaffnete Konflikte zwischen der Armee Myanmars und ethnischen Milizen sowie andauernde Verletzungen der Menschenrechte haben ganze Bevölkerungen in die Flucht getrieben.
Gemäss dem jüngsten Bericht des Thailand Burma Border Consortium, gab es Ende 2011 rund 450’000 intern Vertriebene. Die am stärksten betroffenen Regionen sind die Staaten der Shan und Kayin (Karen).
Gemäss der unabhängigen Organisation Refugees International wurden rund 3 Millionen Menschen zur Flucht in Nachbarländer gezwungen.
(Übersetzung und Adaption: Rita Emch)
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