«Hoffentlich war das der Tiefpunkt»
Am Wochenende musste erstmals in der höchsten Schweizer Fussball-Liga ein Spiel wegen Gewalt auf den Zuschauertribünen abgebrochen werden. Urs Frieden, Berner Fanarbeiter der ersten Stunde, hofft auf eine heilende Wirkung dieses Spielabbruchs.
Es waren bereits 77 Minuten gespielt im Zürcher Stadion Letzigrund, das die beiden Lokalklubs FC Zürich (FCZ) und Grasshopper Club (GC) wegen eines Stadionneubaus gegenwärtig gemeinsam nutzen.
Dann eskalierte die Situation auf der Tribüne: FCZ-Fans fühlten sich durch das Anzünden von FCZ-Fahnen provoziert und beschossen den Sektor der GC-Fans mit Feuerwerk. Mindestens sechs Personen wurden verletzt.
Für den Schiedsrichter war die Sicherheit der Spieler nicht mehr gewährleistet. Er unterbrach die Partie und beschloss nach kurzer Aussprache mit beiden Trainern, die Partie abzubrechen. Dass GC mit 2:1 geführt hatte, interessierte niemanden mehr.
Für Urs Frieden, anerkannter Experte für Fanarbeit und seit Jahren bei den Fans der Berner Young Boys (YB) engagiert, sind die Ausschreitungen vom Wochenende ein herber Rückschlag.
swissinfo.ch: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie hörten, was in Zürich geschehen ist?
Urs Frieden: Ich war sehr schockiert, dass so etwas in der Schweiz überhaupt möglich ist. Wir kennen dieses Phänomen etwa aus Österreich, wo das in letzter Zeit auch vorgekommen ist. Für uns alle, die in der Fanarbeit und im Fanbereich aktiv sind, ist es ein unglaublicher Rückschlag.
Das ist aber nur die fachliche Ebene. Es gibt ja auch die Image-Ebene für den Fussball: was das für den Schweizer Fussball alles bedeutet – im negativen Sinn.
Und es gibt die psychologische Ebene: All die jungen Leute und Familien, die dort waren, sind sicher sehr schockiert nach Hause gegangen. All die Einzelschicksale, die es dann gibt, die während Tagen aufgearbeitet werden müssen.
swissinfo.ch: Wurde mit dem Spielabbruch ein neues Kapitel im Schweizer Fussball aufgeschlagen?
U.F.: Man kann es als Signal nehmen: Jetzt ist fertig. Jetzt müssen wir vorwärts machen. Jetzt hat sich etwas zusammengebraut – gerade in Zürich.
Ich hoffe, dass es am Schluss eine heilende Wirkung haben könnte. Das wäre ein schwacher Trost, wenn man in späteren Jahren sagen könnte: «Das war der Tiefpunkt, und danach hat man sich endlich mal zusammengerauft.»
swissinfo.ch: Sie sagen, man müsse vorwärts machen. In welche Richtung könnte das gehen?
U.F.: Ich bin ein Gegner von verschärften Gesetzen. Man kann diese Personen mit all den Massnahmen, die man jetzt schon zur Verfügung hat, aus dem Verkehr ziehen. Dafür braucht es keine neuen Gesetze. Es gibt bereits die Hooligan Datenbank Hoogan, Stadionverbote, Rayonverbote, polizeiliche Massnahmen, Sicherheitsteams usw.
Gerade in Zürich gibt es verglichen mit der Anzahl problematischer Fans auffällig wenig Stadionverbote. Man hat es dort verpasst, gewisse Leute aus dem Verkehr zu ziehen.
swissinfo.ch: Die Fans der beiden Klubs GC und FCZ sind tief verfeindet. Fahnen verbrennen und andere Provokationen gehören zum Derby quasi dazu.
U.F.: Man weiss, dass sich diese Feindschaft seit Jahren hochgeschaukelt hat. Sie ist auch abzulesen an kriminellen Taten: Es gab eine Entführung, gegenseitige Einbrüche, man hat sich Fan-Utensilien gestohlen.
Ein altes Spiel, das man aus Italien kennt: Man stiehlt dem Gegner das Wichtigste, nämlich die Fahne, und hisst sie meist verkehrt herum während des Spiels. Quasi als Trophäe. Dann kennt die Gewalt keine Grenzen mehr. Das ist das Schlimmste, was man einander als Fangruppe antun kann.
swissinfo.ch: In Zürich ist es mit dem Spielabbruch jetzt zum Eklat gekommen. Viele andere Teams haben aber weniger gewalttätige Fans. Wie ist der Zustand gesamtschweizerisch gesehen?
U.F.: Vielerorts ist die Fanarbeit und die Zusammenarbeit mit dem Verein erst im Aufbau begriffen. Das merkt man. Es läuft nicht überall gleich gut.
Das sieht man auch bei den Extrazügen: Bei jenen Vereinen, wo sich Fanarbeit und Zusammenarbeit mit Polizei und Klub eingespielt haben, beobachten wir wenig Schäden. Wo es keine Fanarbeit gibt, haben wir viele Schäden.
swissinfo.ch: Für Sie ist die Fanarbeit also ein probates Mittel, um Gewalt einzudämmen?
U.F.: Mit der Fanarbeit hat man eine gute Handhabe. Für alles, was nicht über Fanarbeit erreichbar ist, bleibt nur noch die polizeiliche Repression.
In Zürich speziell ist, dass GC Ende der 1990er-Jahre die erste professionelle Fanarbeit hatte. Aus finanziellen Gründen hat es diese leider eingestellt.
Nachträglich hat man sie von oben mit Staatsgeldern angekurbelt. Sie hatte extrem Mühe, sich zu etablieren, denn sie kam nicht von unten. Im Nachhinein muss man sagen, man hat fast 10 Jahre mit der Fanarbeit verloren. Das erklärt vielleicht auch, warum sich über die Jahre so etwas zusammenbrauen konnte.
swissinfo.ch: Sie engagieren sich seit Jahren in der Fanarbeit und gegen Gewalt. Wie sieht das am Beispiel YB aus?
U.F.: Da wurde die Fanarbeit von unten her aufgebaut, zusammen mit Fans und Fan-Experten, Leuten, die bei «Gemeinsam gegen Rassismus» aktiv waren und mit Politikern aus dem rot-grünen Segment.
Dann hat man einen Verein gegründet und ging auf die verschiedenen Akteure zu – YB, Jugendamt, Kanton –, um erstens die Zusammenarbeit zu installieren und zweitens Geld zu erhalten.
swissinfo.ch: Sie sagen, schärfere Gesetze seien unnötig. Aber: Ist ein Dialog mit gewaltbereiten Hooligans überhaupt möglich?
U.F.: Der Dialog ist extrem schwierig. Die gewaltbereiten Leute befinden sich in der Klandestinität. Die sind vermummt. Es gehört zur Klandestinität und zur Vermummung, dass man sich auch dem Dialog verweigert.
Die Swiss Football League (SFL) zeigte sich sehr enttäuscht über die Ereignisse in Zürich, wie Sprecher Roger Müller gegenüber swissinfo.ch sagte.
Man werde nun drei Linien verfolgen: Zusammen mit den Behörden sicher stellen, dass die Schuldigen verfolgt würden, mit Klubs und Stadionbetreibern rekonstruieren, was geschehen sei und Disziplinar-Massnahmen gegen die Klubs ergreifen.
Nur mit intensiver Zusammenarbeit zwischen Fussball-Liga, Klubs, Polizei, öffentlichem Verkehr und lokalen Behörden sei dem Problem Herr zu werden. In einigen Städten sei die Koordination zwischen Klubs und Polizei aber noch nicht gut genug, so Müller.
Seit drei Jahren haben die Young Boys die Fanarbeit etabliert.
Die Kosten belaufen sich auf knapp 120’000 Fr.: 50’000 steuert der Klub bei, Kanton und Stadt Bern je 30’000. Der Rest kommt über Spenden zusammen.
Zwei Personen sind zu je 40% angestellt.
Der 55-Jährige ist Berner Stadtrat des Grünen Bündnisses (GB). 2010 präsidierte er den Stadtrat.
Bei den Nationalratswahlen 2011 kandidiert er für die Grüne Partei.
Frieden gründete 1996 den Verein «Gemeinsam gegen Rassismus», der sich gegen die Ausgrenzung von dunkelhäutigen Spielern beim Berner Klub YB einsetzt. Der Verein trifft sich im Fussballtreff «Halbzeit».
Der ehemalige Sportjournalist gilt als Fanarbeiter der ersten Stunde.
Mitarbeit: Matthew Allen, Zürich
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