«Ich möchte meinen Freund an Weihnachten zu meinen Eltern einladen»
Er träumt von Heirat und vielleicht auch von Kindern. Zwei Rechte, welche die Schweiz homosexuellen Paaren nicht zugesteht. Obwohl David Leuenberger manchmal kämpfen musste, bezeichnet er die Schweizer Gesellschaft als offen und tolerant. Er ist überzeugt, dass die Gesetze geändert werden. Nicht zu spät, hofft er.
«Die einzige Ablehnung, die ich erfahren musste, beruhte auf der Liebe meiner Eltern.» David Leuenberger blickt mit Optimismus, Leichtigkeit und Sensibilität auf das Leben und dessen Überraschungen.
Der 30-jährige Projekt Design Manager erzählt seine Geschichte ungezwungen auf der Terrasse seiner Wohnung im Zentrum von Bern, der Hauptstadt der Schweiz, während die letzten Sonnenstrahlen eines warmen Sommerabends für Ferienstimmung sorgen. «Homosexuell zu sein, ist in der Schweiz kein Problem. Ich fühle mich überall akzeptiert, auch auf der Arbeit. Es gibt Gleichberechtigung, einzig die Gesetze müssen noch angepasst werden», sagt er.
Was bedeutet LGBTIQ?
Das aus dem Englischen stammende Kürzel LGBTIQ steht für lesbische, schwule (gay), bisexuelle, transsexuelle, intersexuelle und queere Personen. Im Lauf der Zeit sind andere Begriffe erschienen, um die verschiedenen sexuellen Orientierungen und Geschlechts-Identitäten zu definieren.
Hinter diesen Buchstaben stehen viele Lebensgeschichten. Manchmal sind sie schmerzhaft, manchmal einfach, aber immer einzigartig. swissinfo.ch widmet in den nächsten Wochen jedem Begriff, der in diesem Akronym enthalten ist, ein Porträt. Wir wollen LGBTIQ-Personen eine Stimme geben und ihre Träume, Errungenschaften und Forderungen zur Sprache bringen. Die Serie versteht sich als Beitrag zur Meinungsbildung in einer äusserst aktuellen Gesellschaftsdebatte.
Trotzdem gibt es einige Schatten in seiner Geschichte, die es zu überwinden gilt. Bei David beruhen sie auf der Zerrüttung, die sich nach seinem Coming-out ergab. «Meine Mutter erfuhr zufällig von meiner Homosexualität, als ich 20-jährig war. Sie rief mich umgehend an, weinend, um mich nach Hause zu rufen», erinnert er sich.
An diesem Tag bricht für David eine Welt zusammen. Die Eltern verstehen ihn nicht, versuchen ihn zur Vernunft zu bringen in der Annahme, er sei auf eine schiefe Bahn geraten, als ob er wählen könnte, sich zu ändern, zur «Norm zurückzukehren».
Auf das Unverständnis folgt eine bedrückende Stille, die sich mit der Zeit in ein Tabu verwandelt. «Wir sind dem Thema ausgewichen. Während zehn Jahren haben wir nie mehr darüber gesprochen. Es war beklemmend, wenn das Thema am Fernsehen zur Sprache kam. Nachdem ich den elterlichen Haushalt verlassen hatte, fühlte ich mich bei Treffen mit meinen Eltern weiterhin angespannt.» Ein latenter Konflikt, der die Beziehungen zu seinen Eltern stark belastet und ihn von seiner Familie entfernt, an der er so sehr hängt.
«Ich fühlte mich ‘normal’»
Als im Alter von rund zwölf Jahren die ersten Fragen zur sexuellen Orientierung auftauchten, konnte er sich nicht vorstellen, dass er einst solchen Schwierigkeiten begegnen würde: «Ich hatte den Eindruck, dass alle so waren wie ich, und ich fühlte mich absolut ‘normal’.» Die Zweifel und die vielen Fragen, die sich im Kreis drehten, tauchten erst später auf. Wie und wo konnte man Antworten darauf finden? «Eine homosexuelle Person sah ich zum ersten Mal in einer Reality-TV-Sendung. Zuvor hatte niemand mit mir über Homosexualität gesprochen.»
Die Ankunft des Internets öffnete das Feld der Möglichkeiten. «Wie alle in meinem Aller fing ich an, bei ‘chats’ mitzumachen. Damals wurde mir bewusst, dass das, was ich für die Norm hielt, nicht so war, und dass ich nicht der Einzige in dieser Situation war», erzählt David.
Mit der Zeit verschwanden die Zweifel und machten der Gewissheit Platz. Es folgten die ersten Begegnungen, die erste Liebe, aber immer diese Stille, bis zu diesem Englischkurs am Gymnasium. «Ich musste einen Vortrag halten, obwohl ich Englisch nicht verstand. Ich bin in Tränen ausgebrochen, mitten im Kurs. Weil ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen, ging der Lehrer meine beste Kollegin holen, die in einer anderen Klasse war. Das war das erste Mal, dass ich jemandem sagen konnte, ich sei homosexuell.» Erleichterung!
«Die Reaktion meiner Eltern beruhte auf grosser Liebe. Sie liebten mich und wollten mich beschützen.»
«Seit dem 18. Altersjahr versuche ich – ausserhalb meiner Familie – nicht mehr, mich zu verstecken», sagt er. Ohne militant zu sein, macht er nie ein Geheimnis aus seiner Homosexualität, weder auf der Arbeit noch gegenüber Freunden. «Niemand hat je negativ darauf reagiert. Meine Freunde bedauerten vielmehr, dass sie nicht früher davon wussten, um mich unterstützen zu können», erinnert er sich.
Ehe für alle, auch in der Schweiz?
Laut seinem Umfeld fürchtet der junge Berner Herausforderungen nicht, weder auf sportlicher noch persönlicher Ebene. «Hinter dem Leistungsträger verbirgt sich eine sensible Person, die Zuneigung sucht und gern umschwärmt ist», sagt Isaline Mercerat, eine Jugendfreundin.
Heute lebt David ein Leben in Freiheit. Er träumt von Heirat und vielleicht von Kindern. «Letztlich wird die Schweiz Ja sagen zur «Ehe für alle». Schliesslich hat sie den Frauen das Stimmrecht auch erst spät zugestanden. Meine einzigen Bedenken sind, dass die Änderung zu spät kommt, als dass ich davon profitieren könnte.»
Viele Kinder seien bereits in Regenbogen-Familien aufgewachsen. Das sollte die Zweifler überzeugen, findet er.
David wirft regelmässig einen Blick auf sein Smartphone. Im Zeitalter der Sozialen Netzwerke werden Begegnungen fast ausschliesslich online aufgegleist. «Während bei den Heterosexuellen Tinder [mobile Dating-App, N.d.R.] in jüngster Zeit populär geworden ist, bedienen sich Schwule seit langem des Internets, um seriöse Partner zu finden», sagt er. Bars und Discotheken spielten heute eine geringere Rolle.
Das Eis brechen
Homosexuelle leben heute immer noch mit einem höheren Risiko, eine sexuell übertragbare Krankheit aufzulesen: «Weil ich vom Grundsatz ausgehe, dass jedermann zeropositiv sein kann, schütze ich mich systematisch. Ich habe den Eindruck, dass dies bei Heterosexuellen weniger der Fall ist. Diese fürchten sich vielleicht eher vor einer unerwünschten Schwangerschaft.»
Hinter dem Bedürfnis, sein Leben mit jemandem zu verbringen, versteckt sich ein anderer Traum. «Ich möchte meinen Eltern ungeniert von meinem Freund erzählen können, ihn an Weihnachten einladen, wie es mein Bruder mit seiner Freundin tut.» Inzwischen ist es ihm gelungen, das Eis ein wenig zu brechen und mit den Eltern über sein Leben zu sprechen. Der Dialog bleibt zwar schwierig, aber er ist möglich. «Ich hoffe weiterhin, dass wir uns eines Tages wieder so nahe sind, wie wir es einst waren», sagt er.
Seine Vergangenheit betrachtet er wohlwollend: «Es ist wichtig zu verstehen, dass die Reaktion meiner Eltern auf grosser Liebe beruhte. Sie liebten mich und wollten mich beschützen.»
Die Schweiz und Italien im Verzug
Die Schweiz anerkennt die homosexuelle Ehe nicht. Am 1. Februar 2007 wurde für gleichgeschlechtliche Paare immerhin die eingetragene Partnerschaft eingeführt, eine «PACS-Version light» (pacte civile de solidarité). Die Rechte und Pflichten, die daraus entstehen, sind aber nicht die gleichen wie für eine zivile Heirat, insbesondere was die künstliche Befruchtung oder die erleichterte Einbürgerung des Partners oder der Partnerin betrifft. Auch die Adoption ist gleichgeschlechtlichen Paaren grundsätzlich nicht erlaubt. Aber ab Januar 2018 können Personen, die an eine eingetragene Partnerschaft gebunden sind, Kinder ihres Partners oder ihrer Partnerin adoptieren.
Was eine «Ehe für alle» betrifft, könnte die Debatte in Folge des Legalisierungsentscheids Deutschlands auch in der Schweiz neu lanciert werden. Eine entsprechende parlamentarische Initiative wurde im Dezember 2013 eingereicht. Die Initiative der Grünliberalen Partei verlangt nicht nur eine Heirat für alle, sondern auch eine Erweiterung der eingetragenen Partnerschaft für Heterosexuelle (wie die PACs in Frankreich).
Seit etwas mehr als einem Jahr kennt auch Italien eine zivile Lebenspartnerschaft für Heterosexuelle. Aber die Rechte sind – wie im Fall der Schweiz – nicht die gleichen wie bei einer Ehe. Ausserdem ist die Adoption eines Kindes des Partners nicht erlaubt.
In Frankreich können homosexuelle Paare seit Mai 2013 heiraten und Kinder adoptieren. Die Einführung des Gesetzes war auf heftigen Widerstand gestossen und hatte heftige Debatten zur Folge.
(Text: Stefania Summermatter)
(Übertragen aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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