«Ich habe mich bewusst für diesen Weg entschieden»
Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, lebt in Zürich und arbeitet Vollzeit – bei Scientology. Das beinahe perfekt anmutende Leben und Wirken einer Frau im Dienste einer Organisation, die in der Öffentlichkeit höchst umstritten ist.
Sie hat 18 Bücher von L. Ron Hubbard, dem Vielschreiber und Gründer von ScientologyExterner Link, gelesen und 20 seiner Kurse absolviert. J.W.*, 36 Jahre jung, wurde in eine Scientology-Familie in Deutschland hineingeboren. Seit 19 Jahren lebt sie in der Schweiz und wohnt zusammen mit ihrem Mann, ebenfalls ein Scientologe, und ihren zwei kleinen Kindern im Kanton Zürich. Während sie an fünf Tagen die Woche bei der Scientology-KircheExterner Link arbeitet und sich weiterbildet, werden ihre Kinder in einer privaten Krippe betreut, die Scientology nahe steht.
«Wir führen ein ganz normales Leben, gehen am Wochenende wandern oder ins Kino, pflegen gute Kontakte zu unseren Nachbarn und haben mehrheitlich Freunde, die auch bei Scientology sind, aber nicht nur», erzählt J.W. mit einer gewissen Scheu und Zurückhaltung, aber stets freundlich lächelnd.
Wir treffen uns in der Scientology-Kirche in einem Zürcher Gewerbequartier. Freundlich-grüssende junge Frauen am Empfang, ein reges Hin und Her in den Korridoren, Geplauder in der Cafeteria, hochkonzentrierte Studierende jeden Alters in den Räumen im oberen Stock. Und überall Bilder und Weisheiten und Bücher und DVDs des verehrten Gründers, an den Wänden Organigramme und Diagramme und Angaben über Lernprozesse, die helfen sollen, Stufe um Stufe nach oben zu gelangen.
In diesen Räumen verbringt J.W. viel Zeit. Sie arbeitet als Auditorin, eine Art Seelsorgerin. «Hier kann ich den Menschen helfen, Probleme und vergangene Verstimmungen, die sie blockieren, aufzulösen, damit sie sich persönlich, auch spirituell, weiterentwickeln und in der Gegenwart glücklich sein können.»
Beim so genannten Auditing kommt das E-Meter zum Einsatz. Ein Gerät, das von Gegnern als Lügendetektor und Scharlatanerie bezeichnet wird. Wenn der Zeiger des E-Meters ausschlägt, soll das bedeuten, dass die auditierte Person emotional «geladen» ist. J.W. findet es genial. «Hubbard hat es über Jahrzehnte erforscht, es funktioniert, das weiss ich aus eigener Erfahrung. Es geht nicht um das Aufdecken von Lügen, im Gegenteil, sondern darum, dass es den Leuten besser geht.»
Eine ganz normale Familie
In Deutschland hat J.W. die öffentliche Schule besucht. Auch wenn sie die einzige Scientologin in der Klasse war, sei das nie ein Thema gewesen. «Ich habe mich nicht abgekapselt.» Schlimm für sie war, als die Mutter einer nahen Freundin dieser den Verkehr mit dem Scientologen-Mädchen untersagte. «Das war die einzige negative Erfahrung bisher.» Damals war sie etwa 10.
«Wir führten ein normales Familienleben. Ab und zu hat meine Mutter ganz einfache Scientology-Methoden angewendet, um Konflikte zu lösen.» Mit 11 Jahren besuchte sie zusammen mit ihrem Bruder einen ersten Kurs, der beim Lernen helfen und das Selbstvertrauen fördern sollte. Ihre Schwester interessierte sich damals noch nicht für Scientology, erst viel später.
Über ihren Weg habe sie total frei entscheiden können, betont J.W. «Hätten mich meine Eltern gegen meinen Willen gezwungen, hätte ich rebelliert. Ich hatte nie das Bedürfnis auszubrechen.»
Als sie sechs war, trennten sich die Eltern. Der Vater ist heute nicht mehr bei Scientology. J.W. ging eine Zeitlang in England auf eine Privatschule, die mit Hubbards Lernmethoden arbeitete.
Diese Freiheit, den eigenen Weg zu gehen, will sie auch ihren eigenen Kindern garantieren. «Jeder Mensch ist selbstbestimmend. Ich werde sie dorthin gehen lassen, wo sie hinwollen. Sie bleiben so oder so meine Söhne.»
Was stimmt? Was nicht?
Wenn man dieser feingliedrigen, höflichen, dezent gekleideten Frau zuhört, gleichzeitig aber all die negative Kritik über Scientology im Kopf hat, die in den Medien und der Öffentlichkeit kursieren, dann bringt man das irgendwie nicht zusammen. Da soll alles freier Wille sein? Keine Repression, keine Gehirnwäsche? Und es werden keine Leute in den Ruin getrieben?
«Wenn ich die Berichterstattung über Scientology lese, stelle ich immer wieder fest, dass Vieles nicht stimmt. Es ist so, dass es Interessengruppen gibt, denen nicht gefällt, was wir sagen, z.B. dass man auch ohne Drogen glücklich sein kann.»
Und Gehirnwäsche? «Das finde ich furchtbar. Nie würde ich mir vorschreiben lassen, was ich denken soll», sagt sie. Auch Kritik dürfe man äussern. «Es geht ja nicht darum, sich zu unterwerfen, im Gegenteil Ziel ist es, selbstbestimmt zu werden.»
Und das Geld, das den Leuten offenbar aus der Tasche gezogen wird? «Wir bieten auch günstige Kurse für 55 Franken, Lebensverbesserungskurse etwa. Die Leute bestimmen selbst, was sie wollen. Unsere Familie ist jedenfalls nicht verschuldet.» Die Scientologin arbeitet wie gesagt als Auditorin, Weiterbildungskurse sind für sie gratis. Ihr Lohn ist klein. «Zum Leben reicht er nicht aus. Mein Mann aber verdient normal.»
Rezepte fürs Leben
J.W. scheint mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Sie bezeichnet sich als «ausgeglichenen» Menschen mit relativ wenig Problemen. «Wenn solche auftauchen, versuche ich sie aufzulösen und nicht hängenzulassen. Wir stellen uns immer die Frage, wie gehen wir die Sache an, um sie zu lösen.»
Scientology bietet also Rezepte, die helfen, ein besseres Leben zu führen? «Absolut», meint sie. «Wir sind zwar keine perfekten Menschen, aber ich wäre wohl eine andere Person, wenn ich nicht all das gelernt hätte.»
*Name und Foto der Person wurden am 26.08.2020 aus dem Artikel entfernt.
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