«Ich war Studierende, nicht Rollstuhlfahrerin»
Als behinderter Mensch ein Universitätsstudium zu absolvieren ist heute einfacher als früher. Trotz dem Gleichstellungsgesetz sind aber noch nicht alle Barrieren aus dem Weg geräumt.
Der Anwalt und ehemalige Nationalrat Marc F. Suter hat ab 1972 an der Universität Bern als Rollstuhlfahrer Jura studiert.
Ohne hilfsbereite Kommilitonen, die ihn mit seinem Rollstuhl die Treppen zu den Hörsälen hoch- und hinunterschleppten, hätte er sein Studium nicht machen können (mehr im Audio in der rechten Spalte).
Aber Suters negative Erlebnisse begründeten sein Engagement für eine bessere Integration der Behinderten.
«Die Geburtsstunde des BehiG (Behindertengleichstellungsgesetz) ist auf meine 1995 eingereichte parlamentarische Initiative zurückzuführen, die ich nach umfangreichen Vorarbeiten und auch mit Hilfe von behinderten Juristenkollegen einreichte», sagt Suter.
Sein Vorstoss sollte Rahmenbedingungen schaffen, damit Hindernisse für Rollstuhlfahrende, aber auch sinnbehinderte Personen, beseitigt würden. «Es ging mir um den freien Zugang zu Bauten, Anlagen, Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen, die ja für alle geschaffen wurden.»
Auch der Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung, Artikel 8, Absatz 2 und 4, der 1999 in Kraft trat, ist inhaltlich Suters Vorschlag entnommen worden. «Ich wollte eigentlich ein Stück weiter gehen und ein Klagerecht integrieren. Das ist jedoch an der Urne gescheitert», kommentiert der Jurist.
«Dank der Verfassungsbestimmung muss man sich als Behinderter nicht mehr für seine berechtigten Anliegen rechtfertigen. Und es gibt einen Perspektivenwechsel, indem die Gesellschaft heute die Beweislast dafür trägt, dass sie etwas nicht machen kann. Wir verlangen nichts Unmögliches,» so Suter.
Keine Gesamtbilanz möglich
Seit Januar 2004 ist das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG) in Kraft. Damit sollten eigentlich die Barrieren für Rollstuhlfahrende an den Universitäten abgebaut worden sein.
«Man kann, sechs Jahre nach der Einführung des BehiG, keine für das ganze Land geltende Bilanz ziehen, denn die Gleichstellung steht und fällt mit den Kantonen», sagt die Juristin Olga Manfredi. Die Rollstuhlfahrerin sitzt im Gleichstellungsrat der Fachstelle Égalité Handicap.
Sie bezeichnet die Uni Zürich als sehr weit fortgeschritten, da die Gleichstellung in der Universitätsverordnung festgehalten sei. Zudem führe sie eine professionelle Beratungsstelle.
«Ich hatte nie den Eindruck, wegen meiner Behinderung von Professoren anders behandelt zu werden. Ich war Studierende, nicht Rollstuhlfahrerin.»
Fehlendes Bewusstsein
Doch das ist nicht in jedem Fall und überall so. Gabriela Blatter von Egalité Handicap führt als Beispiel den Neubau der ETH Lausanne an: «Beim Architekturwettbewerb wurde ein optisch sehr schönes Gebäude ausgewählt. Leider waren Steigungen zwischen einzelnen Gebäudeteilen viel zu steil für Rollstuhlfahrende.»
Man musste nachträglich Beschwerde einreichen. «Es waren harte Einigungsverhandlungen nötig, so Gabriela Blatter. «An und für sich müsste eine Prüfung der Behindertentauglichkeit von Amtes wegen erfolgen, bereits wenn man ein Baugesuch einreicht. Aber das geht auch heute noch manchmal irgendwie vergessen.»
Anpassungsschwierigkeiten
Während Rollstuhlfahrenden meist Verständnis entgegengebracht wird, entspricht man Anliegen von Menschen mit psychischen Behinderungen weniger oft. «Da hilft manchmal nicht einmal die Beilage eines ärztlichen Zeugnisses» sagt Olga Manfredi.
«Auch Sehbehinderte müssen unabhängig und selbständig in einen Hörsaal gelangen können», ergänzt Gabriela Blatter. «Für Hörbehinderte sollten so genannte Induktionsanlagen zur Verfügung stehen, welche die Stimme der Dozierenden auf das Hörgerät oder das Cochlea-Implantat übertragen.»
Weiter muss das Unterrichtsmaterial, das in unterschiedlichster Art und Weise präsentiert wird, auch angepasst werden. «Hier gibt es vor allem Probleme für Menschen mit Sinnesbehinderungen, also Sprech-, Seh- oder Hörbehinderungen.»
Unbefriedigend sei auch, dass normale Vorlesungs-Scripts nicht gelesen werden könnten und deshalb von Kommilitonen eingescannt oder kopiert werden müssten.
Knacknuss Prüfungen
Wie kann ein Stummer aber eine mündliche Prüfung ablegen? «Da muss es die Möglichkeit geben, dass die entsprechende Person die Prüfung schriftlich ablegen kann» so Olga Manfredi.
Sehbehinderte oder Blinde sollten auch Anspruch auf mehr Zeit haben. Weiter sollten sie ihren Computer beiziehen dürfen, der ihnen Sachen vorliest. Dazu müssten sie sich eventuell in einen separaten Raum begeben, um die Kommilitonen nicht zu stören. Dafür müssten Behinderte teilweise auch heute noch kämpfen.
Die Gleichstellung beginnt früher
Für Marc F. Suter tritt das Hauptproblem aber schon vor der Hochschule auf: «Wie kommt jemand bis zur Universität oder an eine Fachhochschule? Das Vorher ist das Problem.»
Da müsse noch mehr getan werden, in der Regelschule, in der Grundausbildung, im Zugang zur Mittelschule. Denn die Karriere der meisten Menschen, die mit einer schweren Behinderung konfrontiert sind, besteht aus Sonderschule, Heim, Geschützter Werkstatt.
«Wenn einer es geschafft hat, bis an die Universität vorzudringen, dann hat er das Gröbste nämlich hinter sich.»
Etienne Strebel, swissinfo.ch
Laut Gaudenz Henzi von der Sozialberatung der Uni Basel litten im Jahr 2005 rund 10% der Studierenden an der Universität Basel an chronischen Erkrankungen.
2% wiesen klassische Behinderungen auf, wie Geh-, Seh-oder Hörbehinderungen.
Diese Zahlen gelten auch heute noch und auch für andere Universitäten.
An der Aargauischen Maturitätsschule für Erwachsene können im Rahmen eines Pilotprojektes ab sofort Gehörlose eine Matura in Gebärdensprache erwerben.
Zur Seite stehen den Gehörlosen zwei Gebärdensprachen-Dolmetscher, die das Gesprochene simultan übersetzen.
Im «Normalfall» müssen Gehörlose dem Unterricht über Lippenlesen folgen, was ausserordentlich anstrengend ist.
1999: Die Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen wird in die Schweizerische Bundesverfassung aufgenommen.
Januar 2004: Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG).
Es «setzt Rahmenbedingungen, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und insbesondere selbstständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und fortzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben».
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