Immer mehr Schweizer im Lauffieber
Jogging ist beliebt. Und die grossen Volksläufe brechen jedes Jahr neue Teilnehmerrekorde. Dieses Phänomen ist international festzustellen, aber in der Schweiz besonders ausgeprägt. Was sind die Gründe dafür?
«Wenn mir 1982 jemand gesagt hätte, dass sich die Teilnehmerzahl in 30 Jahren verzehnfacht hätte, hätte ich diese Person damals wohl kaum ernst genommen», sagt Heinz Schild. Er ist Gründer des Lauf-Events Grand Prix von Bern, der jeweils Anfang Mai stattfindet. Der Zehn-Meilen-Lauf (16km) ist mit mittlerweile über 32’000 Angemeldeten zur grössten Laufveranstaltung der Schweiz avanciert, zumindest faktisch.
«Das war schlicht unvorstellbar», meint auch Markus Ryffel, Gewinner des ersten Grand Prix im Jahr 1982 (sowie der späteren Austragungen von 1985, 1986 und 1989) und Silbermedaillengewinner über 5000 Meter bei den Olympischen Sommerspielen von Los Angeles im Jahr 1984.
In der ersten Auflage starteten 2991 Laufbegeisterte zu den «schönsten 10 Meilen der Welt», wie der Grand Prix für sich selbst in Anspruch nimmt. Der Lauf führt durch die historische Altstadt von Bern, die auf der Liste des Unesco-Welterbes steht, und entlang der Aare.
Von Rekord zu Rekord
Auch andere grosse Volksläufe in der Schweiz erleben eine ähnliche Entwicklung. Jedes Jahr wird ein neuer Rekord an Teilnehmern aufgestellt. «Dieses Phänomen trifft man auch international an. Beim ersten Marathon von New York im Jahr 1970 gab es gerade mal 127 Teilnehmer. 2013 waren es mehr als 50’000», sagt Heinz Schild. Der Schweizer Laufpionier hatte als Trainer den jungen Markus Ryffel in die Weltspitze der Langstreckler geführt.
Fabien Ohl, Professor am Institut für Sportwissenschaft der Universität Lausanne, hält fest, dass sich der Strassenlauf – ausserhalb der Sportstadien – in den 1970er-Jahren entwickelt hat, «in einem gesellschaftlichen Kontext, der von einer anti-institutionellen Haltung geprägt war und vom Desinteresse der Sportvereine für diese kaum reglementierte Sportart.»
In der Schweiz erlebte der Strassenlauf auf alle Fälle einen aussergewöhnlichen Boom. «Wenn ich eine Rangliste zur Beteiligungsquote der Bevölkerung eines Landes an dieser Art von Läufen aufstellen müsste, wäre die Schweiz sehr wahrscheinlich Weltmeister», betont Schild, der detaillierte Statistiken zu den weltweit wichtigsten Volksläufen führt.
Im Jahr 2013 beteiligten sich 232’771 Personen an den 20 wichtigsten Volksläufen der Schweiz. «Insgesamt kann man davon ausgehen, dass 400’000 Personen an den 700-800 Wettläufen eingeschrieben sind, die jährlich in der Schweiz stattfinden. 700’000 Personen joggen regelmässig. In den 1980er-Jahren gab es rund 50 Volksläufe – nur ganz wenige mit mehr als 1000 Teilnehmern», weiss Schild.
Die grosse Zahl von Volksläufen in der Schweiz könnte zur Annahme verleiten, dass diese Events für die Organisatoren eine lukrative Sache sind.
«Das stimmt leider nicht, mit Läufen kann man kein Geld verdienen», sagt Heinz Schild. Ohne Sponsoren, Freiwillige und die Unterstützung der Behörden könnten rote Zahlen kaum vermieden werden.
«Bei Sportarten, bei denen kein Fernsehen dabei ist – und somit keine TV-Rechte im Spiel sind – lässt sich kein Geld verdienen», sagt Markus Ryffel. Sein Laufsport-Fachgeschäft (Ryffel Running, gehört mittlerweile zur Migros-Gruppe) organisiere den Frauenlauf von Bern oder den internationalen Greifenseelauf nicht aus kommerziellen Gründen.
Der Organisator setzt aber auf positive Effekte für sein Verkaufsgeschäft, wobei die Ausrüstung wie Laufschuhe oder Laufbekleidung im Vordergrund stehen.
Ryffels Unternehmen bietet zudem Laufwochen sowie Reisen zu Städtemarathons an (v.a. New York).
Nicht nur der Gesundheit zuliebe
Markus Ryffel erinnert sich daran, wie in den 1970er- und 1980er-Jahren Jogger wie ausserirdische Wesen betrachtet wurden. «Man schaute mit ein wenig Mitleid auf uns. Inzwischen hat sich das in Bewunderung gewandelt.»
Ausschlaggebend für diesen Wandel ist sicherlich die gesellschaftlich gewachsene Überzeugung von der Wichtigkeit, etwas für die Gesundheit zu tun. Auch die zunehmende Freizeit sowie der Mangel an körperlicher Tätigkeit im Beruf spielen eine Rolle. Das sind aber nur ganz wenige Gründe, die den Erfolg des Joggens erklären können.
«Die subjektive Wahrnehmung des Laufens hat sich grundsätzlich gewandelt. In den 1960er-Jahren war der Lauf ein rein physischer Akt. Es herrscht Askese. Laufen wurde mit Leiden und Opferbereitschaft identifiziert. Ab den 1970er-Jahren kam das Bewusstsein für den eigenen Körper auf. Der Lauf wurde zu einer Wohltat. Man lief, um sich gut zu fühlen», analysiert Fabien Ohl.
Dabei ist es natürlich wichtig, auf die Signale des Körpers zu hören, sich vielleicht auch mal klinischen Tests zu unterziehen. Solche Analysen sind vor allem ab einem Alter von 35 Jahren wichtig, «wenn Herzkranzgefäss-Krankheiten oder Arterienverkalkung im Anfangsstadium auftreten können», wie Lukas Trachsel von der kardiologischen Abteilung des Universitätsspital Bern in diesem Video erklärt.
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Fit genug für einen Marathonlauf?
Ein Individualsport?
«In unseren Zeiten einer fast totalen Mobilität, in der man in wenig Zeit und für wenig Geld fast überall hin kommt, ist Rennen eine Möglichkeit, zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren», meint Markus Ryffel. «An einem Volkslauf teilzunehmen, stellt zudem eine aussergewöhnliche kollektive Erfahrung dar», hält er fest.
Aber ist Laufen nicht eigentlich ein Individualsport? «Unsere Gesellschaft zeigt einen Trend zur Individualisierung und Laufen passt sehr gut in diesen Trend. Aber es ist nicht notwendigerweise ein Einzelsport, wie der Erfolg der Volksläufe zeigt», sagt Fabien Ohl.
«Rund um einen sportlichen Anlass werden auch soziale Beziehungen aufgebaut», meint der Soziologe, «man kann allein, mit Freunden, als Paar oder mit der Familie laufen. Jeder läuft zudem im eigenen Rhythmus. Auch wenn es eine Rangliste gibt, setzt sich jeder Teilnehmer eigene Ziele. Manche wollen vielleicht unter den ersten 1000 klassifiziert sein, andere einen Marathon in weniger als vier Stunden laufen. In Sportarten wie Fussball ist das anders, weil es im Prinzip immer einen Gewinner und einen Verlierer gibt.
Immer mehr Frauen
Der Laufsport-Boom verdankt sich laut Heinz Schild auch einem exponentiellen Zuwachs an Frauen. Bis vor einigen Jahrzehnten waren Langstreckenläufe ausschliesslich Männern vorbehalten. «Als 1973 Marijke Moser den Murtenlauf absolvierte, wurde sie wenige Meter vor Erreichen des Ziels von den Organisatoren erwischt und aus dem Rennen genommen», erinnert sich Schild. Sie hatte die 17km von Murten nach Freiburg «illegal» absolviert, weil sie sich unter einem Männernamen angemeldet hatte.
In der Tat: Erst ab 1977 war es Frauen offiziell erlaubt, an dem Rennen teilzunehmen. Der Marathon für Frauen wurde bei Olympischen Spielen erstmals 1984 in Los Angeles durchgeführt. Inzwischen nimmt der Anteil der Frauen stets zu. Schild wäre nicht überrascht, wenn der Frauenanteil jenen der Männer an den Volksläufen bald übersteigen würde. In einigen Wettkämpfen ist dies bereits geschehen.
Wesentlich schwieriger ist es, Jugendliche zu gewinnen. «Es gibt immer sehr viele Kinder, doch dann geht die Beteiligung in der Kategorie zwischen 15 und 30 Jahren schlagartig zurück», sagt Schild. Das sei aber auch in anderen Sportarten so, insbesondere in Individualsportarten.
Um Teilnehmer aus dieser Alterskategorie zu gewinnen, haben einige Organisatoren neue Formen von Volksläufen erdacht, beispielsweise den Survival Run, einen 16-Kilometer-Lauf in Thun, bei dem man etliche Hindernisse überwinden muss und das Ziel schmutzig und schlammüberzogen erreicht. «Beim Grand Prix von Bern beträgt der Altersdurchschnitt 45 Jahre; beim Survival Run sind es 29 Jahre», meint Markus Ryffel, dessen Gesellschaft Ryffel Running den abenteuerlichen Lauf-Event von Thun organisiert.
In der Regel kehren die meisten Leute aber wieder zu den traditionellen Läufen zurück. Für Heinz Schild, mittlerweile 72 Jahre alt, ist der Laufsport jedenfalls eine Aktivität, «die man das ganze Leben ausüben kann, auch noch im fortgeschrittenen Alter.» Er will seine Laufschuhe auf alle Fälle noch lange nicht an den Nagel hängen.
Der Älteste
Der Murtenlauf ist der älteste Volkslauf der Schweiz. Er führt von Murten nach Freiburg und wurde erstmals 1933 ausgetragen. Er erinnert an den Sieg der Eidgenossen gegen Karl den Kühnen im Jahr 1476 in der Schlacht bei Murten. Einer der siegreichen Eidgenossen war damals die 17 Kilometer nach Freiburg gerannt, um die grosse Neuigkeit bekanntzugeben. Er trug als Siegeszeichen einen Lindenzweig in der Hand, den er auf dem Schlachtfeld abgebrochen hatte. Der erste Erinnerungslauf wurde vom Basler Alexandre Zosso gewonnen. Damals gab es aber nur 14 Teilnehmer. Im Jahr 2013 beteiligten sich mehr als 11’000 Personen am Murtenlauf.
Der Längste und Härteste
Die 100km von Biel stellen den längsten – und wohl auch härtesten – Lauf der Schweiz dar. Er wird dieses Jahr zum 56. Mal durchgeführt; der Wettkampf findet vor allem nachts statt. 2013 erreichten 801 Männer und 153 Frauen das Ziel. Den Streckenrekord hält der Schweizer Walter Jenni, der im Jahr 2008 nur 6 Stunden, 49 Minuten und 43 Sekunden brauchte.
Als härtester Lauf der Schweiz wird neben den 100km von Biel auch der Swiss Alpine Marathon in Davos gehandelt. Die längste Strecke dieses Wettkampfs im Engadin misst 78 Kilometer und 2260 Höhenmeter. Streckenrekordhalter ist der Russe Grigori Mursin mit einer Zeit von 5 Stunden, 42 Minuten und 34 Sekunden (2002).
Daneben kamen in jüngster Zeit auch Ultra-Distanzläufe auf, deren Strecken bis zu 200km oder mehr messen.
«Der Schönste»
Die Rangliste der schönsten Läufe ist schwierig festzulegen, da sie subjektiven Kriterien unterliegt. Wir haben uns angesichts des spektakulären Panoramas mit dem Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau für den Jungfrau-Marathon entschieden. Er beginnt in Interlaken und endet nach 1823 Höhenmetern im Schatten der bekanntesten Berge des Berner Oberlandes. Die amerikanische Fachzeitschrift «Marathon» nannte diesen Lauf «den schönsten der Welt». Das Rennen wurde 1993 von Heinz Schild ins Leben gerufen.
Der Weiblichste
Am Schweizer Frauenlauf Bern, der erstmals 1987 durchgeführt wurde, dürfen nur Frauen teilnehmen. Die Ausgabe 2013 erreichte eine Rekordbeteiligung: Mehr als 15’000 Frauen und Mädchen waren am Start.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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