Wie Ausländerinnen die Emanzipation in der Schweiz förderten
Die Migration wird heute häufig als Bedrohung für die Frauenrechte gesehen. Doch ein neuer Blick in die Schweizer Geschichte zeigt, dass Immigration, insbesondere aus Italien und Russland, ein wichtiger Katalysator für die Emanzipation der Frau und die Geschlechtergleichheit in der Schweiz war. Die Historikerin Francesca Falk hat diese Entwicklung detailliert untersucht.
Falk ist Historikerin an der Universität Freiburg. Vor kurzem hat sie das Buch «Gender Innovation and Migration in SwitzerlandExterner Link» veröffentlicht, dass sich insbesondere mit der italienischen Migration in die Schweiz auseinandersetzt. Dabei kommt die Wissenschaftlerin, die selbst italienische Wurzeln hat, zum Schluss, dass diese Migration der Schweizer Frauenbewegung Schub gegeben hat und die Emanzipation in der Schweiz positiv beeinflusste: «Denn häufig wird vergessen, dass die rechtliche Stellung der Frau in Italien damals besser war als in der Schweiz.»
swissinfo.ch: In einer Rezension Ihres neuen Buchs ist zu lesen, dass Sie ein Fundament giessen, um eine neue Geschichte der Schweiz zu schreiben. Was ist so neu an Ihrem Ansatz?
Francesca Falk: Die Immigration hat für die Schweiz auf mehreren Ebenen sehr grosse Bedeutung. Häufig spricht man von den positiven Auswirkungen auf die Wirtschaft. Man denke nur an die Rolle der Hugenotten auf die Entwicklung der Schweizer Uhrenindustrie. Viel weniger bekannt ist die Tatsache, dass Immigration auch einen wichtigen Faktor für die sozio-politische Entwicklung und soziale Erneuerung des Landes darstellte. Die Immigration war beispielsweise ein Katalysator für die Emanzipation der Frauen in der Schweiz.
swissinfo.ch: Wie kam es dazu, dass Sie sich mit dem Thema der Immigration in die Schweiz beschäftigt haben?
F.F.: Ich wuchs in den 1980er-Jahren in der Gemeinde Rheineck im Kanton St. Gallen auf, aus der mein Vater stammte. Viele in meiner Klasse verfügten über Migrationserfahrung. Für uns Kinder war das ganz normal, aber zugleich bemerkte ich, dass es in der Schule so etwas wie eine strukturelle Diskriminierung gab. Beispielsweise war es nur sehr wenigen Kindern von eingewanderten Familien vergönnt, höhere Studien zu absolvieren.
Später bemerkte ich, dass viele Entscheide zu Einbürgerungsanträgen in unserer Gemeinde willkürlich getroffen wurden. Das gab mir zu denken. Entscheidend war allerdings die Erfahrung meiner Mutter, die von Parma (Italien) in die Schweiz gekommen war. Sie erzählte mir, dass sie ihre Ankunft in der Schweiz wie eine Zeitreise von 50 Jahren in die Vergangenheit erlebte.
swissinfo.ch: Können Sie erklären, was mit dieser «Zeitreise» gemeint ist?
F.F.: Ich muss vorausschicken, dass das Dorf meines Vaters in der Ostschweiz sehr konservativ war. Meine Mutter bemerkte sofort, dass die Geschlechtergleichheit im Alltag dort nicht sehr fortgeschritten war.
swissinfo.ch: Können Sie dies an einem Beispiel verdeutlichen?
F.F.: Es galt als ausgemacht, dass die Mütter einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht zu Hause blieben. Eine berufstätige Mutter wurde als Rabenmutter gesehen. Dieses Frauenbild gab es in der italienischen Heimatstadt meiner Mutter nicht. Man stelle sich vor: Auf der Grundlage des Schweizer Familienrechts, das bis 1988 in Kraft war, musst eine Ehefrau, die berufstätig sein wollte, zuerst die Erlaubnis des Ehegatten einholen.
Die Schulzeiten waren damals sehr unregelmässig, ausserdem gab es praktisch keine externen Betreuungsstrukturen wie Kindertagesstätten. Im Unterricht gab es noch eine klare Trennung zwischen Jungen und Mädchen. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1968 in St. Gallen zeigt auf, dass Mädchen damals weniger Unterrichtsstunden in Fächern erhielten, die nötig waren, um auf weiterführende Schulen zu gelangen.
swissinfo.ch: Hatten Frauen in Italien denn mehr Rechte als Frauen in der Schweiz?
F.F.: Einige soziale und politische Rechte der Frauen, wie das Frauenstimmrecht und die Mutterschaftsversicherung, wurden in Italien viel früher eingeführt als in der Schweiz. Der Grundsatz der Geschlechtergleichheit wurde schon 1948 in die italienische Verfassung aufgenommen. In der Schweiz geschah dies erst 1981. Das Frauenstimmrecht wurde in Italien bereits nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt. In der Schweiz kam das Frauenstimmrecht auf Bundesebene erst 1971.
swissinfo.ch: Wie erklären Sie sich, dass die Schweiz so sehr im Hintertreffen war?
F.F.: Es gibt mehrere Gründe. Ein Grund war sicherlich, dass die Schweiz nicht aktiv an den beiden Weltkriegen beteiligt war. Es gab keine Notwendigkeit, die Gesellschaft zu ändern. Und der Wirtschaftsboom hatte konservativen Kräften Aufschwung verliehen. Andere Gründe sind in der direkten Demokratie und im Föderalismus zu finden. Es gab viele Abstimmungen zum Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene. Und regelmässig wurde die Einführung dieses Rechts abgelehnt.
«Als die Italienerinnen und Italiener in die Schweiz kamen, hätte niemand gedacht, dass dies Impulse zu einer gesellschaftlichen Erneuerung der Eidgenossenschaft geben könnte.»
swissinfo.ch: In Ihrem Buch vertreten Sie die These, dass die Migration in die Schweiz ein Motor für die Geschlechtergleichheit war. Wie sind Sie zu dieser Auffassung gelangt?
F.F.: Nehmen wir das Beispiel der Kindertagesstätten, von denen es damals in der Schweiz nur sehr wenige gab. Den migrantischen Familien stellte sich das Problem der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, da viele Immigrantinnen in der Industrie beschäftigt waren.
Um die Nachfrage der Schweizer Wirtschaft nach ausländischen Arbeitskräften stillen zu können, wurde das Netzwerk von Kindertagesstätten ausgebaut. Ein interessantes Detail: Die Situation änderte sich just in den 1980er-Jahren, als in Folge der Ölkrise viele der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nach Italien zurückkehrten. Die Kindertagesstätten hatten plötzlich viel Platz. Und es kam erstmals die Idee auf, diese Plätze auch Schweizer Familien der Mittelschicht zur Verfügung zu stellen.
Die Existenz dieser Infrastrukturen sowie die Frauenbewegung führten zu einer Normalisierung der ausserhäuslichen Betreuung von Kindern, so wie wir sie heute kennen. Die Einstellung der Gesellschaft hat sich verändert.
swissinfo.ch: Gab es bestimmte Ausländerinnen, die einen entscheidenden Beitrag zur Emanzipation der Frauen in der Schweiz geleistet haben?
F.F.: Die Schweiz gab als eines der ersten Länder Europas Frauen die Möglichkeit, sich an Universitäten einzuschreiben. Es waren allerdings russische Studentinnen, welche sich für dieses Recht eingesetzt haben. Im Jahr 1867 promovierte Nadežda Suslova als erste Frau in der Schweiz. Ihre Geschichte wiederum war eine Inspiration für Marie Heim Vögtlin, die erste Schweizer Ärztin.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hatten 70 Prozent des weiblichen Lehrpersonals an Schweizer Universitäten ausländische Wurzeln. Beispielsweise die in Weissrussland geborene Anna Tumarkin: Sie war die erste Universitätsprofessorin in der Schweiz und in ganz Europa, bei der Studierende promovieren konnten.
swissinfo.ch: Auf welche Art und Weise verändert die heutige Immigration die Gesellschaft in der Schweiz?
F.F.: Es scheint, als ob junge Männer mit Migrationshintergrund vermehrt in traditionellen Frauenberufen tätig sind, beispielsweise in Kindertagesstätten. Aber warum ist das so? Wahrscheinlich liegt es daran, dass es schlecht bezahlte Berufe sind. Und wer einen ausländischen Namen trägt, hat häufig Mühe, andere Jobs zu finden. Das heisst, dass Immigration auch einen direkten Einfluss auf Veränderungen in der Arbeitswelt nehmen kann.
swissinfo.ch: Lässt sich somit behaupten, dass Migration immer auch positiv ist?
F.F.: Migration ist nicht an und für sich positiv oder negativ. Die Bedingungen der Migration können gut oder schlecht sein. Als die Italienerinnen und Italiener in die Schweiz kamen, hätte niemand gedacht, dass dies Impulse zu einer gesellschaftlichen Erneuerung der Eidgenossenschaft geben könnte. Ihr Image war alles andere als gut, teilweise vergleichbar mit der Wahrnehmung der heute als muslimisch etikettierten Migration.
Gleichwohl: Wer die Migration heute nur als Problem sieht, das gelöst werden muss, missachtet den historischen Sachverhalt, wonach soziopolitische Innovation manchmal durch Migrationsflüsse ausgelöst werden kann. Wer die Geschichte durch die Brille der Migration betrachtet, fügt nicht nur neue Erkenntnisse hinzu, sondern verändert auch die Perspektive, um Geschichte und Gegenwart zu erzählen. Und dies verändert auch unsere Sicht auf die Zukunft.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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