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Diskriminierung oder schiere Notwendigkeit? Der Impfpass polarisiert

Impfpass
In vielen demokratischen Ländern spalten sich die Meinungen über eine potenzielle Diskriminierung und Verletzung der freiheitlichen Grundrechte durch einen Impfpass, der auch als verkappte Impfpflicht kritisiert wird. Imago Images / Christian Ohde

Für Kritiker kündigt sich mit dem Impfpass eine für Europa bisher beispiellose Diskriminierung an. Befürworter hingegen sehen die Grundrechte und die Verhältnismässigkeit gewahrt. Darüber diskutieren eine Ethikerin und ein Ethiker mit unterschiedlichen Positionen.

Mit einem digitalen Dokument sollen Corona-Geimpfte europaweit ihre Immunisierung nachweisen können. So will es die EU, die damit dem Vorbild Israels folgt. Was nach einem Jahr Hausarrest als Befreiungsschlag gedacht ist, und vom Europäischen Gerichtshof erst kürzlich für rechtmässig erklärt wurde, stösst in weiten Kreisen auf Kritik.

Die Streitfrage allenthalben lautet: Bleiben mit dem Impfpass die Grundrechte gewahrt. Die Frage zielt insbesondere auf das Verbot von Diskriminierung, das Gebot der Rechtsgleichheit und das Recht auf persönliche Freiheit, wie sie in der Schweiz durch die Bundesverfassung gewährleistet sind.

«Menschen aufgrund ihres Immunitätsstatus in Gruppen mit unterschiedlichen Freiheitsgraden aufzuteilen, führt zu Diskriminierung. Das ist sehr problematisch.» Adrienne Hochuli Stillhard

Die Antwort darauf ist nicht einfach. Auch Expertinnen und Experten streiten. Adrienne Hochuli StillhardExterner Link, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Sozialethik an der Universität Luzern, gehört zu den Kritikerinnen. Sie sagt, es sei grundsätzlich problematisch, wenn Geimpfte durch einen Ausweis mehr Freiheiten züruckbekommen als der Rest der Bevölkerung.

Das sich abzeichnende schnelle Handeln der EU schaffe Tatsachen, die für die wirtschaftlich und gesellschaftlich mit ihr eng verwobene Schweiz zwar nicht mehr umkehrbar seien. Trotzdem brauche es hier und heute einen Dialog.

Es sei zwar klar, dass nach Wegen gesucht würde, um eine wirtschaftliche Öffnung zu ermöglichen und zu einer freiheitlichen Gesellschaft zurückzukehren. Der Preis für den Rechtsstaat sei aber sehr hoch: «Menschen aufgrund ihres Immunitätsstatus› in Gruppen mit unterschiedlichen Freiheitsgradeb aufzuteilen, führt zu Diskriminierung. Das ist sehr problematisch.»

Wo enden die Grundrechte?

Hochuli stimmt dem Argument zu, dass Geimpfte keine Privilegien erhalten, sondern die Beschränkung ihrer Freiheitsrechte aufgehoben würde. Kritisch beurteilt sie jedoch die Aussage, Nicht-Geimpfte würden nur so weit in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt, als es keine wesentlichen Lebensbereiche treffe.

Die Diskussion müsse nuancierter geführt werden, sagt Hochuli. Es sei zu konkretisieren, was grundlegende Rechte seien und unter welchen Bedingungen ungleicher Zugang zu wesentlichen Lebensbereichen zu rechtfertigen sei. Für Hochuli zählen Entfaltungsmöglichkeiten zu den Menschenrechten: «Soziale Kontakte, die Möglichkeit den Beruf ausüben und am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen.»

Es würden viele Fragen aufgeworfen: Wann ist es gerechtfertigt, die Impfung zur Voraussetzung für die Ausübung eines Berufes oder für das Reisen zu machen? Was, wenn man nicht zum Vergnügen reist, sondern um einen Angehörigen zu pflegen? Ist es legitim, Menschen, die sich nicht impfen lassen können oder wollen, in ihren Freiheiten so einzuschränken, dass sie die Arbeit verlieren?

Für Hochuli ist darum klar, der Preis für die Aufhebung der Einschränkungen der einen würde mit einer Schwächung der persönliche Freiheitsrechte und Menschenrechte der anderen bezahlt.

«Wir müssen nicht fragen, ob jemand Privilegien erhalten sollte, sondern ob Freiheitseinschränkungen für Geimpfte noch rechtskonform sind.» Frank Mathwig

Die Unbekannte in der Gleichung

Frank MathwigExterner Link ist Mitglied der nationalen Ethik-Kommission. Er findet, die Debatte werde heute verkehrtherum geführt: «Wir müssen nicht fragen, ob jemand Privilegien erhalten sollte, sondern ob Freiheitseinschränkungen für Geimpfte noch rechtskonform sind.»

Unter den Bedingungen der Pandemie sei zu fragen, ob eine Ungleichbehandlung verhältnismässig sei, dem Gleichheitsgrundsatz genüge, ethisch gerechtfertigt werden könne und unseren moralischen Solidaritätsforderungen entspreche. Diese vier Grundsätze müssten im Hinblick auf alle Entscheidungen gelten, auch für einen möglichen Impfpass.

Sollte sich bestätigen, dass Geimpfte nicht nur selbst vor einem schweren Krankheitsverlauf geschützt sind, sondern auch keine Gefahr mehr für andere darstellen, weil von ihnen kein Ansteckungsrisiko mehr ausgeht, wäre es nicht mehr verhältnismässig, die Freiheiten dieser Menschen weiterhin zu beschränken, so Mathwig.

Noch gebe es dazu keine verlässlichen Daten. Ein Impfpass mache aber erst dann Sinn, wenn es diese medizinische Evidenz gebe. «Solange das nicht klar ist, diskutierten wir über ungelegte Eier.»

Zudem sei völlig klar, dass das Diskriminierungsverbot auch für Nicht-Geimpfte gelte. Sie müssen ihr Leben «mit angemessener Lebensqualität» führen können und dürfen nicht vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. Ob dazu auch Sportstudios und kulturelle Veranstaltungen gehören, sei allerdings fraglich.

Alternative Wege

Hochuli plädiert dafür, neben der Impfung alle Möglichkeiten des Infektionsschutzes auszuschöpfen, um in die Normalität zurückzukehren, etwa über Hygienemassnahmen und das Vorweisen eines negativen Corona-Tests, wie es im Luftverkehr bereits praktiziert wird. So könnten auch Nicht-Geimpfte am gesellschaftlichen Leben teilhaben.

Mathwig hingegen findet, es sei nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch die Gesellschaft, die eine Antwort auf die Frage der Ungleichbehandlung finden müsse. Geimpfte könnten etwa freiwillig auf die Inanspruchnahme ihrer zurückerhaltenen Freiheiten verzichten, um sich solidarisch zu zeigen mit jenen, die noch nicht geimpft wurden oder werden konnten.

Anders als Mathwig hat Hochuli eher auch jene im Blick, die an der Impfung zweifeln. Noch seien medizinische Fakten wie die Langzeitwirkung nicht geklärt, sagt sie . «Die Corona-Impfung ist mit einer Prise Unsicherheit verbunden. Auch ich werde mit einem anderen Gefühl dahin gehen, als wenn ich eine Tetanus-Impfung erhalte.»

Natürlich sei die Politik mit einer Ausnahmesituation konfrontiert und müsse vorausschauend handeln. Doch das Tempo sei zu forsch. Das vergrössere die Unsicherheit. «Es ist wichtig, im demokratischen Entscheidungsprozess auch Bedenken ernst zu nehmen.»

Zurück auf der Schulbank

Mathwig findet es im Gegenteil notwendig, dass die Politik «in dieser beispiellosen Ausnahmesituation» schnell handelt – etwa weil ein Impfpass gefordert werde, sobald die Grenzen öffneten. «Es ist eine rationale Überlegung und im Sinne der Bevölkerung richtig.»

Man erlebe im Augenblick Wissenschaft in Echtzeit. Das Virus habe Gesellschaft und Politik über Nacht quasi zurück auf die Schulbank geschickt. Alle gesellschaftlichen Bereiche handelten unter permanenter Unsicherheit, «und wir müssen die Situationen immer wieder neu beurteilen».

Der Staat, darüber sollte Konsens bestehen, agiere nicht als Spassbremse. «Wir müssen vor dem Hintergrund diskutieren, dass wir in einer Pandemie leben, in der viele Menschen schwer erkrankt und gestorben sind.» Der Bundesrat habe zudem – anders als die meisten europäischen Länder – eine hohe Sensibilität bewiesen, wenn es darum ging, die Freiheitsrechte zu schützen.

Eine Hintertür zur Impfplicht?

Mathwig ist sich sicher, dass es in der Schweiz keinen Impfzwang geben wird. Er widerspricht auch der Behauptung, der Impfpass sei eine “Hintertür”. Es brauche mehr Genauigkeit in der Diskussion. Zwar seien in der Schweiz Anreizsysteme denkbar, um mehr Menschen zu einer Impfung zu bewegen. «Belohnungen sind etwas völlig anderes als Zwangsmassnahmen.»

Für ihn ist die Impfbereitschaft letztlich eine Frage der Solidarität. Das Risiko immer gefährlicherer Mutationen sei theoretisch erst dann gebannt, wenn alle Personen weltweit geimpft sind.

Hochuli bezweifelt, dass der Impfpass das richtige Mittel ist, um die Impfbereitschaft zu fördern. Eine Belohnungssystem, das Ungleichheit schafft, könnte kontraproduktiv sein. Noch gebe es zum Impfpass zudem viele offen Fragen, etwa beim Datenschutz.

Mathwig plädiert für eine realistische Sicht auf den Datenschutz. Zweifellos sei der Schutz der persönlichen Daten ein hohes Rechtsgut, Aber vor der Pandemie waren Impfungen für Reisen in gewisse Regionen der Welt obligatorisch, auf die niemand aus Gründen des Datenschutzes verzichtet hätte. «Wie alles in der existenziell gefährlichen Pandemiesituation muss auch der Datenschutz vernünftig abgewogen werden.»

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