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In Ruanda heilen die seelischen Wunden nur langsam

Insel der Hilfe für 250 Traumatisierte: Ndera, die einzige psychiatrische Klinik Ruandas. swissinfo.ch

Am Ende des Genozids verwüstet, gilt die einzige psychiatrische Klinik Ruandas heute als Modell für ganz Afrika. Um die schweren Fälle kümmern sich auch Spezialisten aus Genf. Was aber passiert mit den verlorenen Seelen ausserhalb der Institution?

Auf einem Hügelzug nahe des internationalen Flughafens von Kigali gelegen, strahlt die Ndera-Klinik eine beruhigende Gelassenheit aus. Die Pavillons, umgeben von viel Grün, scheinen ideal zur Bewältigung von Alpträumen. Welch ein Kontrast zum nur wenige Kilometer entfernten, chaotisch-turbulenten Zentrum der ruandischen Hauptstadt.

Beim Besuch jedoch lastet eine schwere Stille über dem Anwesen. Mit verstörten Blicken aus glasigen Augen – die Wirkung der Medikamente – fixieren Männer, die in mehreren Gruppen zusammenstehen, den Besucher.

«In den 14 Jahren, die ich hier arbeite, bin ich nie Opfer einer Aggression geworden», beruhigt Jean-Michel Iyamuremye, Direktor der Pflege im Ndera-Spital. «Die Patienten brauchen vor allem ein offenes Ohr und viel Verständnis.» 250 Patienten zählt das Haus, von denen im Ambulatorium täglich über 100 behandelt werden.

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Die schwersten Fälle

«Wir kümmern uns um die komplexesten Fälle», sagt er. Die Patienten litten meist unter psychischen Krankheiten wie Schizophrenie, verbunden mit schweren Traumata, die vom Genozid 1994 herrührten.

Laut Schätzung der Weltgesundheits-Organisation (WHO) ist auch 20 Jahre nach dem Völkermord an Tutsis und moderaten Hutus immer noch knapp ein Drittel der Bevölkerung schwer traumatisiert.

«Alle waren auf eine Weise vom Genozid betroffen», sagt Iyamuremye. «Aber Menschen, die aufgrund ihrer Arbeit und ihres sozialen Netzes gut in der Gesellschaft verankert waren, konnten leichter über die tragischen Ereignisse hinweg kommen.»

Nach Ndera kommen solche, welche die Polizei aus dem Stadtzentrum jagt. Die meisten der Menschen aber, die noch immer mit den Dämonen der blutigen Vergangenheit kämpfen, sind draussen und immer noch ohne sorgende Pflege. Viele bleiben stumm, weil sie das Unfassbare nicht in Worten fassen wollen und können.

Jedes Jahr im April, wenn die offiziellen Feiern zum Gedenken an die Opfer des Mordens begangen werden, bricht das kollektive Trauma wieder auf und schlägt wie ein Bumerang ins gesellschaftliche Bewusstsein Ruandas ein.

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Traumatisierte Kinder

Die Klinik schickt deshalb eine grosse Zahl von Pflegern hinaus, um sich direkt vor Ort, also bei den Gedenkstätten, um die Kranken zu kümmern. «Einige sind durch die Flashbacks aus der Vergangenheit wie gelähmt. Man muss sie sorgfältig an der Hand nehmen, damit sie wieder in der Realität Fuss fassen können», erklärt Alphonse Nkurunziza, Psychotherapeut bei einer lokalen Organisation, die auf die Behandlung von Traumatisierten spezialisiert ist.

 

Die Wunden der Vergangenheit sind aber nicht immer sichtbar. «Viele Einwohner wollen nicht an den Gedenkveranstaltungen teilnehmen. Sie wählen den Weg des Verdrängens und verweigern sich der Trauerarbeit. Dies ist oft ein indirekter Hinweis auf schwere Traumata», weiss Nkurunziza.

Im Alltag kann ein grosser Teil der Bevölkerung keinen Frieden finden. Stets angespannt, reagieren die Überlebenden auf das geringste Geräusch, das sie an den Völkermord erinnert. Dies können schon nur einfache Pfiffe von Kindern sein, und die schlimmsten Erinnerungen an die mordenden Hutu-Milizen sind wieder präsent.

Ein neues Phänomen kommt hinzu, das Jean-Michel Iyamuremye beunruhigt. «Kinder, die nach dem Genozid geboren sind, zeigen Symptome von post-traumatischem Stress, weil sie die Geschichten nicht ertragen können, die ältere Verwandte erzählen.»

Internationale Organisationen, die in Ruanda im Bereich mentale Gesundheit tätig sind, müssen von ihren gewohnten Ansätzen abrücken. Ihr westlicher Ansatz, das Individuum ins Zentrum zu stellen, lässt sich nicht unbedingt auf die dortigen lokalen Realitäten übertragen.

Für die Behandlung von traumatisierten Menschen musste ein gemeinschaftlicher Ansatz entwickelt werden, der biologische, soziale und spirituelle Aspekte mit einbezieht.

In der ruandischen Kultur sprechen die Menschen nicht über ihre Gefühle. Zum Abbau von Spannungen empfehlen sich deshalb Techniken wie Atemübungen.

Um die dörflichen Strukturen zu bewahren, setzt die Regierung ihrerseits auf das Konzept der Ubudehe, wonach Probleme auf kleiner Ebene gemeinschaftlich gelöst werden. Dies geschieht beispielsweise bei der Arbeit auf dem Feld. Täter wie Opfer können so erreicht und Eskalationen verhindert werden.

«Nachhaltige» Gewalt 

Verheerend sind auch andere Auswirkungen der kollektiven Verletzungen. «Die Traumata ziehen sich bis in die Familienstrukturen hinein, wo sie für Konflikte verantwortlich sind», schildert Alphonse Nkurunziza. Diese manifestierten sich in häuslicher Gewalt, Drogen- oder Alkoholkonsum.

In ganz Ruanda praktizieren weniger als zehn Psychiater, und nur einer davon ist Kinder- und Jugendpsychiater. Angesichts der Probleme erscheint dies auf den ersten Blick äusserst dürftig. Die Zahlen täuschen aber darüber hinweg, dass das Land riesige Anstrengungen unternommen hat, um das System der mentalen Gesundheit wieder auf die Beine zu stellen, das nach dem Völkermord in Trümmern lag.

Zwar wurde der Regierung auch vorgeworfen, den Schrecken der Vergangenheit allzu schnell begraben zu wollen. Iyamuremye hebt aber die Anstrengungen der Behörden hervor, die Bevölkerung für das Problem der psychischen Verletzungen und Krankheiten zu sensibilisieren. So steht rechtlich die Diskriminierung von physisch und psychisch Kranken unter Strafe. Auch wurde eine Versicherung zur Übernahme von Behandlungskosten eingeführt. Dies habe den Zugang zu Hilfe wesentlich erleichtert, lobt der Pflegeverantwortliche der Ndera-Klinik.

Hilfe aus der Schweiz

Dort stehen den Patienten zahlreiche neue Hilfeleistungen zur Verfügung. Darunter sind Abteilungen für klinische Psychologie, Suchtprobleme, psychische Krankheiten und HIV, Psychotherapie sowie neurologische Dienste für Epileptiker, wie Iyamuremye stolz aufzählt.

Spezialisten aus den benachbarten Ländern kämen hierher, um ihr Erfahrungswissen zu vergrössern. «Wir haben aber auch regelmässig Studenten aus dem übrigen Afrika und Europa.»

Ohne internationale finanzielle Unterstützung wäre ein Betrieb der Institution auf diesem Niveau aber nicht möglich. Von 1996 bis 2008 haben die Genfer Universitätsklinik (HUG) sowie die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit des Bundes (Deza) mitgeholfen, in Ruanda ein Netz von psychiatrischen Diensten mit der Ndera-Klinik als Dreh- und Angelpunkt aufzubauen.

Inzwischen liegt das Projekt in den Händen der ruandischen Behörden, was vom Vertrauen der Geber in die lokalen Partner zeugt. «Im Bereich Ausbildung führen wir die Zusammenarbeit fort», erklärt André Laubscher, Projektverantwortlicher im Genfer Universitätsspital.

Auf der ruhigen Anhöhe des Ndera-Spitals lässt Pflegeleiter Jean-Michel Iyamuremye seinen Blick in die Zukunft schweifen. «Ideal wäre eine Zimmerbelegung mit zwei Patienten statt acht wie heute. Aber dies übersteigt natürlich unsere Mittel.»

Die limitierten finanziellen Ressourcen sind für ihn dennoch kein Grund, nicht felsenfest an die Zukunft Ruandas zu glauben. «Jeder will zeigen, dass er der Beste ist. Der Bereich der mentalen Gesundheit ist keine Ausnahme von dieser Regel.»

Ruanda, die Demokratische Republik Kongo und Burundi haben für die Schweiz hinsichtlich Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe einen hohen Stellenwert.

2012 unterstützte der Bund in dieser Region Projekte im Umfang von knapp 38 Mio. Franken, hauptsächlich in den Bereichen Gesundheit und gute Regierungsführung.

Seit diesem Jahr zählt das Gebiet der Grossen Seen zu den Schwerpunktregionen der Schweizer Entwicklungspolitik. Gefördert werden wirtschaftliche Entwicklung, Berufsbildung, Landwirtschaft oder die ökologische Herstellung von Baumaterialien.

Das Schweizerische Aussenministerium (EDA) anerkennt, dass Ruanda seit dem Völkermord von 1994 «bemerkenswerte Resultate» auf den Gebieten Gesundheit, Bildung und Landwirtschaft erreicht habe.

Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung dürfe aber nicht auf Kosten demokratischer Mitwirkung gehen, wie dies in Ruanda tendenziell zu beobachten sei, mahnt das EDA. So sei die Meinungsäusserungsfreiheit weiter eingeschränkt und die Medien könnten ihre Rolle nicht vollumfänglich wahrnehmen.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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