Basisprojekte bringen Einheimische und Immigranten zusammen
Auf welchem Weg finden Zuwanderer am einfachsten einen Platz in der Schweizer Gesellschaft? "Hilf ihnen, sich selbst zu helfen", lautet das Motto einer neuen Generation von Basisprojekten, die das Ziel verfolgen, Einheimische und Immigranten zu integrieren. Die besten Projekte werden von höchster Stelle unterstützt.
«Wer von Ihnen hat schon einmal an einem Jass-Spiel teilgenommen?», fragt Simon Marti die rund 40 Leute, die sich an einem grossen Tisch niedergelassen haben, der von Spielkarten übersät ist. Einige Hände gehen in die Höhe.
Facebook-Gruppen und -Botschaften hatten diese Asylsuchenden und Schweizer Bürger für das Projekt «Active Asyl» zusammengebracht. Computer-Kenntnisse einzuüben, ist einer der Eckpfeiler bei den regelmässigen Gruppentreffen, aber heute Abend geht es darum, allen Beteiligten das traditionsreiche Kartenspiel «Jass» beizubringen, das vor allem von älteren Generationen oft bei einem Bier in Kneipen gespielt wird.
Laut Marti haben die Gruppenleiter nach einigen Treffen festgestellt, dass sich Spiele – vorzugsweise typisch schweizerische – besonders dafür eignen, Menschen mit unterschiedlichen Lebenswegen an einen gemeinsamen Tisch zu bringen. Das Projekt richtet sich nicht nur an Asylsuchende, sondern an alle, die in der Schweiz – wo 25% der Bevölkerung Wurzeln im Ausland haben – eine Gemeinschaft suchen.
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Integration mit Computer und Kartenspiel
Szenenwechsel: An einem Tisch in Zürich sitzen Entscheidungsträger der Schweizer Behörden, des Privatsektors und von Hilfsorganisationen, um über die Frage zu diskutieren, ob sich eine App realisieren liesse, anhand derer stellensuchende Einwanderer mit Schweizer Stellenvermittlern in Verbindung gebracht werden können. An einem anderen Tisch ist eine hitzige Diskussion über einen Start-Up-Wettbewerb für Immigranten im Gang.
Eine der beteiligten Personen fordert eine Gesetzesänderung zugunsten eines Ausländerwahlrechts, eine andere macht Vorschläge für einen besseren Zugang zur Berufsbildung. Einige Ideen scheinen realisierbar, andere eher Wunschvorstellungen zu sein.
Alle 15 Projekte, über die debattiert wird, gehören zu den Finalisten eines Wettbewerbs von «foraus», einer aussenpolitischen Denkfabrik, die sich für einen unkonventionellen Umgang mit Immigrationsfragen stark macht. Auf der Plattform konnten Bürgerinnen und Bürger drei Monate lang visionäre Ideen einreichen. Die Finalisten wurden aus über hundert Vorschlägen ausgemacht. Bevor die Gewinner bestimmt werden, dürfen sich am heutigen Abend alle Teilnehmenden zu den letzten 15 Projekten äussern.
«Die Schweiz ist ein Land von Einwanderern. Um es in den Griff zu bekommen, brauchen wir Lösungen», sagt Nicola Forster, der Moderator der Veranstaltung, nachdem alle Projekte diskutiert worden sind.
Zu dieser Erkenntnis sind auch einige Schweizer Entscheidungsträger gekommen, sagt Gianni D’Amato, Direktor des Schweizer Forums für Migrations- und Bevölkerungsstudien, angesichts der wachsenden Bevölkerung ohne Schweizer Pass.
«Vor vierzig Jahren gab es keine Integrationspolitik. Man ging nicht davon aus, dass die Leute im Land bleiben würden», sagt er. «In den letzten zwanzig Jahren hat ein Wandel stattgefunden. Die Entscheidungsträger haben akzeptiert, dass es eine Realität ist, und zwar eine sehr unberechenbare.»
Entscheidungen wie jene vom 9. Februar 2014, als das Schweizer Stimmvolk eine Volksinitiative zur Begrenzung der Zuwanderung guthiess, zeigten die Unberechenbarkeit auf, sagt er. Die Schranken seien sehr hochangesetzt worden für Personen, die sich integrieren möchten, sagt D’Amato.
«Wie überall in Europa steuert die Entwicklung auf eine verhärtete Debatte zu, zumindest symbolisch: Man will zeigen, dass wir hier die Gastgeber sind und von jeder und jedem wissen wollen, ob er oder sie die Fähigkeiten hat, sich unserer Gesellschaft anzupassen.»
Die Schweizer Regierung verfolgt in ihrer Integrationspolitik einen Bottom-Up-Ansatz mit Schwerpunkt auf lokale Initiativen, bei welchen die Kantone die Verantwortung tragen. Sie stellt sich aber hinter Basisprojekte wie Active Asyl in der Hoffnung, dass diese in den Gemeinden das Nötige tun, um Immigranten bei der Integration zu unterstützen.
Simon Martis Projekt ist eines von 56 Basisprojekten im ganzen Land, das von der Eidgenössische Migrationskommission und anderen Partnerorganisationen mitfinanziert wird.
Laut D’Amato zahlen sich Investitionen in Basis-Integrationsprojekte bereits aus. Er gehört zu einem Team, das ähnliche Projekte in Deutschland prüft, die er als viel weniger fortgeschritten als die schweizerischen beurteilt. «Dort helfen Leute anderen Leuten. Aber hier ermöglichen die Projekte den Leuten, sich selbst zu helfen», sagt er.
Nächster Schritt: Handlung
Zurück zum Wettbewerb in Zürich, wo Forster die Gewinner des Abends ankündigt. Drei junge Frauen betreten die Bühne, während sie erfahren, dass die Projekte, die sie vor vielen Monaten online eingereicht hatten, der Realisierung näher gerückt seien.
Eines der Projekte macht die Vielseitigkeit der Schweiz auf einer Website sichtbar. Es dient als Lerninstrument für Schulen. Ein anderes versucht anhand einer App stellensuchende Immigranten mit freiwilligen Stellenvermittlern in Verbindung zu bringen. Ein drittes will Zuwanderern helfen, Berufsausbildungsplätze in der Schweizer Wirtschaft zu finden.
«Es gibt bestehende Strukturen, die etwas Ähnliches machen. Sie müssten nur noch finanziert werden», sagt Milena Müller, die das Projekt mit den Ausbildungsplätzen mitentwickelt hat. «Es war interessant, darüber zu diskutieren, was jetzt gemacht werden könnte, um es funktionstüchtig zu machen. Dies obwohl sich die Leute an der Debatte beteiligten, weil sie von der Idee bereits überzeugt sind. Kritische Stimmen fehlten.»
«Ich hatte nicht mit einer so vielbeachteten Veranstaltung gerechnet», sagt Miriam Walser, die hinter der Stellenvermittlungs-App steht. «Das Projekt vor so vielen Leuten präsentieren zu können, ist eine grossartige Chance, die ich nicht erwartet hatte.» Trotzdem sei der Weg bis zur Realisierung noch lang.
«Ich hoffe, dass wir uns unter der Regie von foraus wieder treffen und die entscheidenden politischen Kräfte zusammenkommen, um die Idee weiterzuentwickeln.» Die Denkfabrik hat versprochen, das Siegerprojekt mit der Unterstützung der Müller-Möhl-Stiftung und von wichtigen Entscheidungsträgern aus Behörden und Wirtschaft weiterzuverfolgen.
Nicht nur ein Spiel
Am Berner Tisch haben sich die Beteiligten inzwischen in Gruppen von vier Spielern aufgeteilt, um zu jassen. Obwohl sie voneinander zu Beginn der Veranstaltung nicht einmal die Namen kannten, werden sie in den kommenden Wochen während den Mahlzeiten zusammenkommen, um sich auf ein grosses Turnier vorzubereiten, das von Active Asyl organisiert wird.
Im Hintergrund des Raums sitzt ein Asylsuchender namens Madhani vor einem der restaurierten Laptops, welche die Gruppe für Ausbildungen am Computer nutzen. Er ignoriert das Geschehen hinter seinem Rücken am Jasstisch und konzentriert sich auf die Sprachübungen auf dem Bildschirm. Im Moment hat er nur ein einziges Ziel im Kopf: Deutsch lernen. «Ich konnte vorher ein paar Deutschlektionen nehmen, aber jetzt bin ich auf mich selbst gestellt», erklärt er.
Nächste, übernächste, über-übernächste Woche wird er wieder hier sein – bis er sein Ziel erreicht hat.
Together
«together»: eine App über das Zusammenleben in der Schweiz
Wie lerne ich eine Lokalsprache? Wie gehe ich am besten mit meinen Nachbarn um? Das sind nur zwei von vielen Fragen, mit denen Zuwanderer in der Schweiz konfrontiert sein können.
Unter der Federführung von swissinfo.ch, entwickelt die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) sein eigenes Integrationsprojekt in Form einer App namens «together».
Das Projekt, das 2017 lanciert wird, gibt Antworten auf Fragen der Zuwanderer über das Leben in der Schweiz anhand eines Quiz. Es ermöglicht den Teilnehmenden, selber Fragen zu stellen, die Antworten zu erfahren und sich nützliche Informationen über den Alltag im Land zu merken.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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