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Tibetische Kinder für Schweizer Familien

Tibetisches kleines Mädchen auf dem Rücken einer Schweizer Frau, spielend
Die kleine Yangchen mit ihrer Adoptivmutter 1964. Yangchen Waldburger Zahn, collection privée

Ein dunkles und wenig bekanntes Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte betrifft die ausserfamiliären Platzierungen und internationalen Adoptionen von Tibeterkindern. Auf Initiative des Oltner Industriellen Charles Aeschimann wurden zwischen 1961 und 1964 insgesamt 160 tibetische Kinder in Pflegefamilien bei Schweizer Familien untergebracht. Die meisten waren keine Waisen.

Lange Menschenkarawanen von Kindern, Frauen und Männern auf der Flucht. Zu Fuss oder auf dem Rücken von Lasttieren. Diese Bilder aus Tibet Externer Linkerreichten im Frühling 1959 den Westen. Sie erschütterten die öffentliche Meinung tief.

Das Volk floh vom Himalaya-Plateau, das 1950 von chinesischen Truppen besetzt worden war und wo die Armee am 10. März 1959 den Aufstand mit Waffen zum Schweigen brachte und den Unabhängigkeits-Bestrebungen des Staats auf dem Dach der Welt ein Ende setzte.

Eine Woche später, am 17. März, verlässt der damals 24-jährige Dalai Lama die tibetische Hauptstadt Lhasa, um im indischen Dharamsala Zuflucht zu finden. In den folgenden Wochen und Monaten folgen ihm Zehntausende Tibeter ins Exil, wo sie unter katastrophalen Bedingungen leben.

Deshalb ruft der ältere Bruder des spirituellen Führers des tibetischen Volkes, Thubten Jigme Norbe, aus London die westlichen Staaten dazu auf, 14’000 Flüchtlinge aufzunehmen.

Das Schicksal der exilierten Tibeter führt zu einer Solidaritätswelle in der Schweiz. Die Menschen identifizieren sich leicht mit diesem Bergvolk, das gegen das kommunistische China um seine Unabhängigkeit kämpft. Ein ungleicher Kampf zwischen David und Goliath.

Verschiedene Schweizer Organisationen lancieren humanitäre Initiativen zur Unterstützung tibetischer Flüchtlinge in Nepal, Indien und der Schweiz. Auch der Industrielle Charles AeschimannExterner Link aus Olten engagierte sich, wie die Journalistinnen Nathalie Nad-Abonji und Sabine Bitter in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Tibetische Kinder für Schweizer Familien» berichten.

Buchcover von Tibetische Kinder für Schweizer Familien – Die Aktion Aeschimann : Foto mit tibetischen Kindern in einem Flugzeug
Das Buch «Tibetische Kinder für Schweizer Familien – Die Aktion Aeschimann» von Sabine Bitter und Nathalie Nad-Abonji erschien 2018 im Zürcher Rotpunktverlag. Rotpunktverlag

Tseten, das erste «Tibeterli» in der Schweiz

«Alles begann in den Ferien der Familie Aeschimann, die diese in Les Marécottes im Kanton Wallis verbrachte», sagt Sabine Bitter, Journalistin bei Schweizer Radio und Fernsehen SRF. «Charles Aeschimann stiess beim Blättern in der Neuen Zürcher Zeitung auf den Appell des Dalai Lama und beschloss spontan, ein tibetisches Kind zu adoptieren.»

Für die vermögende Oltner Familie ist diese Idee nicht neu, hatte sie doch zuvor die Adoption eines koreanischen Kindes beantragt. Dieses Ersuchen allerdings hatten die Schweizer Behörden den Aeschimanns verweigert. Dieses Mal wird ihr Wunsch erfüllt.

In Begleitung einer tibetischen Familie steigt im August 1960 Tseten, ein Junge von ungefähr dreieinhalb Jahren, in Zürich Kloten aus einem Flugzeug der Swissair und umarmt seine neue Mutter, die Ehefrau von Charles Aeschimann. Das kleine «Tibeterli», wie der Bub von allen genannt wird, bleibt keineswegs unbemerkt. Denn er ist eines der ersten Flüchtlingskinder aus einem aussereuropäischen Land.

In zahlreichen Reportagen wird seine Geschichte erzählt. «Diese Artikel weckten in vielen kinderlosen Schweizer Paaren den Wunsch, ein Kind zu adoptieren», sagt Bitter. Der Oltner Industrielle erhält innert kurzer Zeit mehr als hundert Adoptionsanträge. Mit diesen Briefen in der Tasche geht Aeschimann nach Bern, um die Erlaubnis zur Fortsetzung seiner humanitären Arbeit zu erhalten.

Erste Kritiken werden laut

«Charles Aeschimann war eine sehr einflussreiche Person, die in der Bundesverwaltung durch ihre berufliche Tätigkeit für das Elektrizitätsunternehmen Atel bekannt war. Dieses Unternehmen hatte bei der Planung des Kernkraftwerks Gösgen-Däniken mitgearbeitet», sagt Bitter. Zudem habe Bundesbern die verschiedenen humanitären Initiativen begrüsst, die in der Schweiz zugunsten der tibetischen Flüchtlinge lanciert wurden.

Nach der Kritik an der Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs erhält das Land hier die Möglichkeit, sich selbst zu rehabilitieren. Die Schweizer Behörden unterstützen diese private Initiative und erteilen eine allgemeine Einwanderungserlaubnis für 160 tibetische Kinder. Zwischen August 1961 und März 1964 werden diese Schweizer Familien anvertraut.

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Trotzdem gibt es bereits mehrere kritische Stimmen zur Aktion Aeschimann. Zum Beispiel von Verantwortlichen des Kinderdorfs Pestalozzi in Trogen, von Vertretern des Schweizerischen Roten Kreuzes oder des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS). Sie befürchten eine vollständige Entwurzelung der tibetischen Kinder aus ihrer Kultur und Sprache.

«Charles Aeschimann duldete aber keine Einmischung», sagt Bitter. «Er lud Schweizer Familien, die einen Antrag auf Pflege eines Kindes gestellt hatten, zum Essen ein und unterzog sie einer Art Prüfung. Da er keine Erfahrung hatte, liess er sich von seinem Instinkt leiten.»

Dabei fällt seine Wahl zuallererst auf eine Schweizer Elite: Rund 60 Prozent der Kinder kommen zu Paaren, von denen mindestens eine Person die Universität, eine Technische Hochschule oder Lehrerbildungsstätte besucht hatte.

Opfer unterschiedlicher Erwartungen

In Indien werden viele Kinder dem Dalai Lama und seiner Entourage anvertraut. Nach der Flucht werden ihre Eltern von der indischen Regierung als Arbeitskräfte im Strassenbau in der Himalaja-Region eingesetzt. Die in zwei Häusern in Dharamsala untergebrachten Kinder leben unter dramatischen Bedingungen, wie einige Ärzte des Schweizerischen Roten Kreuzes bezeugen. Zu acht schlafen sie in den Betten, sind von parasitären Würmern befallen, unterernährt und von einer Art Skorbut befallen.

«Der Dalai Lama wollte mehrere Hundert Kinder in die Schweiz schicken, die Intelligentesten, damit sie studieren und Ärzte oder Ingenieure werden können. Dann sollten sie nach Tibet zurückkehren, um ihn bei der Schaffung eines neuen Staates zu unterstützen oder der Gemeinschaft im Exil zu helfen», sagt Bitter.

«Doch von den 160 Kindern, die in der Schweiz ankamen, waren nur 19 Waisen. Der Grossteil von ihnen hatte noch eine Mutter, einen Vater oder beide Eltern in Indien.»

Arzt besucht tibetische Kinder
Der Arzt Oliver Senn besucht tibetische Kinder. Oliver Senn, collection privée

Die Kinder fanden sich somit inmitten unterschiedlicher Erwartungen: Einerseits war es die Idee des Dalai Lama, im Westen eine Art Elite zu bilden, die das tibetische Volk führen sollte. Auf der anderen Seite standen die Pflegefamilien, die wollten, dass ihr Kind eine erfolgreiche Ausbildung absolviert. Und schliesslich die natürlichen Eltern, die auch ein Wort bei der Erziehung ihrer Kinder mitreden wollten.

Diese unterschiedlichen Erwartungen führten bei vielen jungen Tibeterinnen und Tibetern zu einer Identitätskrise – besonders während der Pubertät. «Von den 160 mit der Aktion Aeschimann in die Schweiz geholten Kindern landeten mindestens 12 in einem Erziehungszentrum für Minderjährige, mehrere starben durch Missbrauch von Suchtmitteln, und neun nahmen sich das Leben», sagt Bitter. In den 1970er- und 80er-Jahren lag die Suizidrate in der Schweiz bei 0,035%, unter den jungen Tibeterinnen und Tibetern bei 5%.

«Man vergass, über die Interessen der Kinder nachzudenken und was für sie richtig gewesen wäre», schliesst Sabine Bitter. «Auch wenn heute viele der Tibeter Pflegekinder froh sind, dass sie Dharamsala verlassen und in die Schweiz kommen konnten, brachte die Aktion Aeschimann viel Leid.»

Tibeter Häuser

Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in Trogen im Kanton Appenzell Ausserrhoden das Kinderdorf PestalozziExterner Link gegründet, um Kindern aus kriegsbetroffenen Ländern Schutz zu bieten.

Anfang 1960 begann der Bau des ersten Gästehauses für Kinder aus aussereuropäischen Ländern.

Am 8. April 1961 wurde das erste Tibeter-Haus für 20 Kinder aus Tibet eröffnet, 1964 ein zweites für 16 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und zwölf Jahren.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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