Roma in der Schweiz: Eine Minderheit kämpft um Anerkennung
Sie sind in Wohnwagen unterwegs, hinterlassen Müllberge, wollen sich nicht integrieren und sind kriminell: Das Bild, das Schweizerinnen und Schweizer von Roma haben, könnte klischeehafter nicht sein. Was die meisten nicht wissen: Roma leben seit Jahrhunderten in der Schweiz, viele geben sich aber nicht zu erkennen, aus Angst ihre Arbeit oder die Wohnung zu verlieren.
Der gelernte Sozialpädagoge Kemal Sadulov arbeitet als Radiojournalist, Übersetzer und Kulturvermittler. Als Roma setzt er sich für die Anerkennung dieser seit Jahrhunderten in der Schweiz präsenten Minderheit ein – nicht nur am internationalen Tag der Roma. Der Weg sei steinig und die Schweiz tue sich schwer mit der Aufarbeitung ihrer wenig ruhmreichen Geschichte im Umgang mit dieser Bevölkerungsgruppe, sagt er im Interview mit swissinfo.ch.
«Die Anerkennung der Roma als nationale Minderheit der Schweiz wäre das Startsignal für ein neues Zeitalter!»
swissinfo.ch: Sie sind Rom. Woran merke ich das, wenn ich Sie nicht kenne und Ihnen auf der Strasse begegne?
Kemal Sadulov: Wenn ich auf der Strasse unterwegs bin, sieht man mir nicht an, dass ich Roma bin. Es gibt keine für alle geltenden, sichtbaren äusserlichen Merkmale. Nicht alle Roma haben beispielsweise eine dunkle Hautfarbe. Auch wir haben uns über die Jahrhunderte mit anderen Bevölkerungsgruppen vermischt.
swissinfo.ch: Die Anzahl Roma, die in der Schweiz leben, wird auf 80’000 geschätzt. Die meisten besitzen wie Sie einen Schweizer Pass, sind sesshaft und gehen einer Arbeit nach. Die breite Öffentlichkeit nimmt diese Menschen aber kaum als Roma wahr. Weshalb?
K. S.: Hierfür gibt es zwei Gründe: Einerseits entsprechen wir nicht dem vorherrschenden, klischeebeladenen Bild, das die Schweizer und Schweizerinnen von den Roma haben. Andererseits sind die Schweizer Roma vorsichtig, denn Ablehnung, Misstrauen und Rassismus gegenüber Roma sind in der Schweizer Gesellschaft tief verwurzelt: Wenn man Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt haben will, hängt man seinen Roma-Hintergrund besser nicht an die grosse Glocke.
Kriminalität, Bettelei, Prostitution und Asyl- oder Sozialhilfemissbrauch: Wenn Schweizer Medien über Roma berichten, thematisieren sie in 80 Prozent der Fälle auffälliges und kriminelles Verhalten. Zu diesem Schluss kam Ende 2013 eine StudieExterner Link im Auftrag der Eidgenössischen Kommission gegen RassismusExterner Link. Jeder zweite Beitrag enthalte pauschalisierende Aussagen und jeder achte Beitrag sei diskriminierend.
swissinfo.ch: In der Tat sind die Schlagzeilen oft negativ gefärbt, wenn in der Schweiz die Rede von den Roma ist. Die Meldungen beziehen sich meist auf temporär anwesende Roma aus dem Ausland. Man liest dann etwa von organisierten Bettlerbanden aus Rumänien oder vom Streit um sogenannte Durchgangsplätze. Ärgert Sie das?
K. S.: Ja, das ärgert mich! Liest man nur Polizeimeldungen, dann ist klar, dass ein solches Bild entsteht. Würden die Medien aber zum Beispiel vermehrt auch über Kulturanlässe berichten, wäre das anders. Doch das vorherrschend negative Bild von den Roma hat in der Schweiz eine jahrhundertealte Geschichte. Denken Sie nur an das von der Regierung mitfinanzierte Projekt «Kinder der Landstrasse»: Zwischen 1926 und 1972 wurden rund 600 sogenannte «Zigeuner-Kinder» in Heime gesteckt oder zu Pflegeeltern gebracht, um aus ihnen «brauchbare Bürger» zu machen!
swissinfo.ch: Diese lange Geschichte der Verfolgung teilen die Roma in Europa über die Landesgrenzen hinweg. Was verbindet einen Schweizer Roma und einen Roma beispielsweise aus Rumänien sonst noch?
K. S.: In erster Linie die gemeinsame Sprache Romanes. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der Identität der Roma. Es verbindet sie aber auch eine Geschichte der Migration. Und ein Bestreben nach grenzübergreifender Kooperation. Diese haben die europäischen Regierungen noch bis in die 1990er-Jahre unterbunden. Heute kämpfen Europas Roma gemeinsam im Europarat gegen Diskriminierung und für mehr Rechte. In mehreren europäischen Ländern sind die Roma inzwischen als nationale Minderheit anerkannt.
Behörden und Roma an einem Tisch
Seiner Herkunft und seiner Kultur bewusst sein: So lautet gegenwärtig das Credo von Schweizer Roma-Organisationen. Es steht im Zusammenhang mit einem vor rund drei Jahren lancierten Prozess zur offiziellen Anerkennung der Roma als nationale Minderheit der Schweiz. «Der Bund ist endlich bereit, die Frage anzugehen», sagt Angela Mattli. Sie ist Kampagnenleiterin Minderheiten und Diskriminierung bei der Gesellschaft für bedrohte VölkerExterner Link in Bern. Die Nichtregierungsorganisation ist bei den Gesprächen der Schweizer Roma mit den Regierungsbehörden dabei, die im Rahmen einer 2014 gegründeten Arbeitsgruppe stattfinden. Nicht nur die Regierung sondern auch die Roma seien sich nun am Positionieren, so Mattli. Das wecke insbesondere bei jüngeren Roma ein stärkeres Selbstbewusstsein, das sie auch vermehrt an die Öffentlichkeit tragen wollten. Ein Antrag auf eine offizielle Anerkennung als Minderheit ist seit 2015 beim Aussendepartement pendent. Auch Abgeordnete des Schweizer Parlaments haben die Frage einer Anerkennung jüngst in der Frühjahressession aufgegriffen, sowohl mit Blick auf die BevölkerungsgruppeExterner Link als auch die SpracheExterner Link Romanes.
Bereits offiziell als Minderheiten anerkannt hat die Regierung im vergangenen Jahr die Jenischen und die Sinti. «Wir haben uns sehr über diese Anerkennung gefreut, sagt Kemal Sadulov, Präsident von Romano DialogExterner Link. Allerdings sei für ihn nicht nachvollziehbar, weshalb nur die Sinti herausgepickt worden seien. Die Sinti sind eine Gruppe der Roma. «Die naheliegende Lösung wäre die Anerkennung der Roma. Die Sinti würden auch dazugehören. So aber haben die Roma nochmals eine Ausgrenzung erlitten», so Sadulov.
Das AussendepartementExterner Link (EDA) sagt dazu, die grosse Mehrheit der Sinti in der Schweiz bezeichne sich nicht als Roma. Als die Schweiz 1998 das Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten ratifizierte und die «Fahrenden» als solche anerkannte, habe man Jenische und Sinti und deren fahrende Lebensweise schützen wollen. Roma-Organisationen würden sich erst seit kurzem für das Rahmenabkommen interessieren, so das EDA.
swissinfo.ch: Was ist zu tun, um diese von negativen Klischees behafteten Vorstellungen über Roma in der Schweiz zu ändern?
K. S.: Das Problem ist, dass in der Schweiz die Geschichte dieser Minderheit nicht vermittelt wird und die Bevölkerung deshalb praktisch nichts über die Roma weiss. Obwohl bereits 1418 erste Roma-Gruppen urkundlich in der Schweiz dokumentiert wurden und wir folglich seit 600 Jahren Teil dieser Gesellschaft sind! Das Unwissen spricht für sich. Das Bewusstsein dafür, wie die Schweiz mit dieser Minderheit umgegangen ist und immer noch umgeht, muss gestärkt werden.
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swissinfo.ch: Wäre es hierfür nicht sinnvoll, wenn die «unsichtbaren» Schweizer Roma die Öffentlichkeit mehr suchen und laut sagen würden: «He, schaut her, wir sind gar nicht so, wie ihr denkt!»?
K. S.: An der öffentlichen Präsenz fehlt es nicht. Wir sind seit Jahren politisch sehr aktiv, ein Antrag zur Anerkennung der Roma als Minderheit in der Schweiz ist seit 2015 bei den zuständigen Behörden deponiert. Wir wollen offiziell Teil der Schweizer Vielfalt sein!
swissinfo.ch: Die Bedeutung einer solchen Anerkennung wäre vor allem symbolisch, oder?
K. S.: Es wäre das Startsignal für ein neues Zeitalter! Bis jetzt war die Schweizer Politik gegenüber Roma gekennzeichnet durch Verfolgung und Verbote. Durch eine Anerkennung würde uns die Schweiz sagen, dass die Roma und deren Kultur auch zu ihr gehören und dass sie diese schützen und fördern will.
swissinfo.ch: Im Alltag fürchten sich die Schweizer Roma aber vor Diskriminierung, vor dem Verlust der Arbeitsstelle und vor Mobbing ihrer Kinder in der Schule. Würde eine Anerkennung durch die Regierung diese Probleme auch lösen?
K. S.: Eine Anerkennung würde die Rahmenbedingungen stecken, wir wären offiziell Teil der Schweizer Vielfalt. Es wäre aber nur der Beginn einer Lösung. Die grosse Arbeit würde erst danach beginnen, denn die ganze Schweizer Gesellschaft müsste einen Schritt nach vorne wagen: Sie müsste bereit dazu sein, die vorherrschenden Klischees anzugehen und die eigene Geschichte des Umgangs mit den Roma aufzuarbeiten. Ansonsten kann keine Normalisierung stattfinden, trotz Anerkennung. Wir Roma allein können das nicht richten.
swissinfo.ch: Sie selber sind sehr aktiv: Sie sind Präsident von Romano DialogExterner Link, einem Verein, der den Austausch zwischen Schweizer Roma und Nicht-Roma fördert. Was tun Sie konkret?
K. S.: Wir suchen den Dialog mit der Bevölkerung und organisieren beispielsweise Musikworkshops oder Sprachkurse. Es sind vor allem Nicht-Roma, die sich etwa mit unserer Musik beschäftigen, die daran teilnehmen. Es gibt Lesungen zur Roma-Poesie und wir kooperieren mit anderen Organisationen und machen Aufklärungsarbeit.
swissinfo.ch: Ziel ihres jahrelangen Einsatzes für die Schweizer Roma ist in erster Linie eine Normalisierung mit Blick auf die klischeehaften Bilder über die Minderheit, die in der Schweizer Bevölkerung vorherrschen. Was wünschen Sie sich sonst noch für die nächste Generation der Schweizer Roma?
K. S.: Ich wünsche mir, dass unsere Kinder mit allen Anderen die kulturelle Vielfalt in der Schweiz mitgestalten und stärken.
Kampagnen-Video der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV):
ROMA ist ein von der International Roma Union gewählter Begriff, der zahlreiche Bevölkerungsgruppen mit einer gemeinsamen indischen Herkunft und Sprache bezeichnet. Gruppen von Roma zogen im 10. Jahrhundert von Nordwest-Indien nach Europa. Schätzungen gehen davon aus, dass in Europa acht bis zehn Millionen Roma leben. Sie bilden damit die grösste Minderheit in Europa. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung sind die meisten Roma sesshaft.
ROMANES ist die traditionelle Sprache der Roma. Es handelt sich um eine indoarische Sprache aus der gleichen Gruppe wie Hindi oder Sanskrit. Im Zuge der Wanderung der Roma hat sich die Sprache mit Entlehnungen und Elementen verschiedener Sprachen bereichert. Nicht alle Roma sprechen indes Romanes.
JENISCHE sind eine anerkannte kulturelle Minderheit. Sie haben schon immer in der Schweiz gelebt. Sie sind zumeist katholisch oder evangelisch. Das Jenische ist eine auf dem Deutschen gründende Sprache mit Lehnwörtern aus dem Romanes, dem Jiddischen und dem spätmittelalterlichen Rotwelschen. In Österreich, Deutschland und der Schweiz gibt es rund 100’000 Jenische – darunter 3000 bis 5000 Fahrende.
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