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Hilfsorganisationen in der Kritik

The Oxfam logo at a store in London, Britain, 14 February 2018.
Viele UNO-Hilfsorganisationen in Genf nutzen zur Umsetzung ihrer Projekte die britische Hilfsorganisation Oxfam, die jüngst in einem Skandal um sexuellen Missbrauch verwickelt war, als Partnerin. Keystone

Es ist der perfekte Skandal: Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, in den Augen vieler die heutigen Heiligen, werden in Schlagzeilen plötzlich als abscheulichste Sünder dargestellt.

Der Skandal, der die britische Wohltätigkeitsorganisation Oxfam erschüttert, bei der leitende Angestellte in Haiti 2011 angeblich Prostituierte engagiert haben sollen, erregte weltweit Aufmerksamkeit – und Missbilligung.

Der Gedanke, dass Menschen, die sich in ein Katastrophengebiet begaben, scheinbar um den Ärmsten und Schwächsten zu helfen, und nun stattdessen in sexuellen Missbrauch verwickelt sein sollen, widerte zahlreiche treue Unterstützer von Oxfam an und feuerte in Grossbritannien eine bereits heftig laufende Debatte über den Wert der Entwicklungshilfe weiter an.

In Genf stellten sich UNO-Hilfsorganisationen, von denen viele Oxfam zur Umsetzung von Projekten als Partnerorganisation nutzen, auf die unausweichliche Flut von Fragen wie «wer, wann, wie viele, wieso?» und andere mehr ein.

Gefährlich verwirrende Debatte

Und während sich die Sprecher der Agenturen in Genf geduldig mit diesen Fragen auseinandersetzten und immer wieder darauf verwiesen, dass die UNO gegenüber jeglicher Form von sexueller Ausbeutung oder Misshandlung eine Politik der Nulltoleranz verfolge, wurde rasch klar, dass diese Debatte weltweit gefährlich verwirrend geworden ist.

Sensationelle Schlagzeilen in der britischen Boulevardpresse, in denen behauptet wurde, «UNO-Mitarbeiter vergewaltigten 60’000 Menschen», oder die suggerierten, dass UNO-Agenturen Tausende von «Pädophilen» angestellt hatten, richteten Schaden an, den noch so viele Richtigstellungen nicht einfach wieder rückgängig machen können.

Es spielt keine Rolle, dass die Methodik des langjährigen UNO-Kritikers Andrew MacLeod, mit der dieser auf die Zahl von 60’000 kam, völlig aus der Luft gegriffen ist; und es spielt keine Rolle, dass er sich seither selber von diesen Schlagzeilen distanzierte, Millionen von Leuten haben diese Schlagzeilen gelesen.

«Alle denken, dass diese Zahlen absolut irre sind», ärgert sich eine erfahrene UNO-Entwicklungshelferin. «Und das ist bedauerlich, weil sich dies sich negativ auf die Glaubwürdigkeit eines sehr ernsthaften Themas auswirkt.»

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Friedenstruppen oder Entwicklungshelfer?

Ein Hauptproblem der aktuellen Debatte, erklären einige UNO-Beamte, ist, wie dabei Fälle von sexuellem Missbrauch durch UNO-Friedenstruppen [Blauhelme, N.d.R.] mit ähnlichen Vorwürfen gegen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen vermischt wurden.

Als Andrew MacLeod mit seiner Zahl von 60’000 Vergewaltigern in den Studios der weltweit bedeutendsten Fernsehsender auftauchte, sah er sich gezwungen, zu erklären, dass diese Zahl von 60’000 auf einer viel geringeren Zahl von Missbrauchsfällen durch Blauhelme fusste, die er mehrmals multipliziert und dann Entwicklungshelfern zugeschrieben hatte.

Verschiedene Fälle von sexuellem Missbrauch durch UNO-Friedenstruppen in Bosnien, in Liberia und in der Zentralafrikanischen Republik sind gut dokumentiert und führten die UNO dazu, einen strikten Verhaltenskodex und einen rigorosen Ermittlungsprozess zu entwickeln.

UNO-Friedenstruppen bleiben aber der Gerichtsbarkeit jener Länder unterstellt, aus denen sie stammen. Das bedeutet, dass die UNO zwar eine erste Untersuchung durchführen und Beweismittel vorlegen kann. Die eigentliche Strafverfolgung muss aber in dem Staat erfolgen, welcher den angeschuldigten Friedenssoldat entsandt hat. Immer wieder haben ernsthafte Anschuldigungen nur dazu geführt, dass – im besten Fall – ein Blauhelm nach Hause geschickt wird.

Und die UNO ist, während sie ihre Politik der Nulltoleranz bekräftigt, auf UNO-Friedenstruppen angewiesen. Die unausgesprochene Befürchtung ist, dass gewisse Länder schlicht keine Friedenstruppen mehr stellen werden, falls die UNO auf sehr öffentlichen Strafverfolgungen beharren würde, bei denen die Bestrafung dem Verbrechen auch tatsächlich gerecht würde.

Missbrauch, Ausbeutung, Belästigung

Das separate, aber nicht weniger reale Thema von Missbrauch, Ausbeutung oder Belästigung durch Entwicklungshelfer hingegen ist ein Problem, gegen das die UNO und Hilfsorganisationen wie Oxfam viel wirksamer vorgehen können.

«Jeder einzelne Bericht oder Vorwurf im Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung, Belästigung oder Missbrauch wird sorgfältig untersucht», erklärte Andrej Mahecic vom UNO-Flüchtlingshilfswerk gegenüber Medienschaffenden in Genf. «Erhärten sich die Vorwürfe, kommt es zu Sanktionen und fristloser Kündigung.»

Wie gross ist das Problem also tatsächlich? Als die Nachricht über den Oxfam-Skandal bekannt wurde, schienen die Reaktionen unter Entwicklungshelfern gespalten. Gewisse deuteten an, sie seien nicht erstaunt, andere wie Judith Greenwood von der Core Humanitarian Standards Alliance CHS (Dachnetzwerk für Hilfsorganisationen, die sich auf die Einhaltung einer Reihe von gemeinsamen Standards und Prinzipien verpflichten), erklärte, sie sei erstaunt gewesen.

«Ich habe in vielen Ländern gearbeitet, in denen ich Kontakt zu Oxfam hatte. Es war eine Überraschung, und schockierend. Ich denke, es ist für uns alle im Hilfssektor ein Schock.»

Oxfam hat sich der CHS angeschlossen und alle Mitglieder der Allianz müssen klare Richtlinien haben, was sexuelle Ausbeutung und Missbraucht angeht.

«Ich denke, wir verfügen über die Instrumente [gegen Missbrauch vorzugehen]», sagte Greenwood. «Aber wenn es immer noch zu solchen Fällen kommt, tun wir nicht genug, um die Standards und Richtlinien auch tatsächlich durchzusetzen.»

«Sexueller Missbrauch durch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ist inakzeptabel», erklärte Greenwood. Unabhängig davon für welche Organisation jemand arbeite, die betroffene Organisation habe eine Verpflichtung, Anschuldigungen zu überprüfen und den Informationen nachzugehen. «Der Gedanke, dass Menschen von denen verletzt werden, die gekommen sind, um ihnen zu helfen, ist inakzeptabel.»

Position der Schweizer Regierung

Letzten Dienstag erklärte die Schweizer Regierung, dass sie ihre Zahlungen an Oxfam sistiert, wie die deutsche Nachrichtenagentur DPA und die Neue Zürcher ZeitungExterner Link berichteten. Das Schweizer Aussenministerium (EDA) forderte eine «lückenlose Aufklärung der Vorwürfe», bevor Zahlungen an Oxfam wiederaufgenommen werden könnten.

Mangelnde Transparenz?

Ironischerweise zeigt der Oxfam-Fall, dass die Organisation die Richtlinien angewandt hat: Die Angestellten in Haiti wurden entlassen und Oxfam informierte die für die Aufsicht über Hilfsorganisationen zuständige britische Behörde.

Weil aber die Öffentlichkeit von Entwicklungshelfern zu Recht die höchstmöglichen Standards erwartet, besteht dennoch der Eindruck, dass, wenn etwas schiefgeht, die Tendenz besteht, dies geheim zu halten. Die Reaktion auf den Skandal um Oxfam, die ziemlich sicher zu weniger Spenden für die Hilfsorganisation führen dürfte, könnte solche Zurückhaltung noch verstärken.

«Diese Fälle müssen korrekt und transparent behandelt werden», sagte Judith Greenwood weiter. «Und sie müssen an die relevante zuständige Behörde weitergeleitet werden.»

Dieser letzte Punkt könnte jedoch ein weiteres Problem darstellen. Die Regierung Haitis erklärte, Oxfam hätte den Fall an die Polizei in Haiti weiterleiten sollen, weil Prostitution in Haiti illegal sei. Vielleicht wäre das die richtige Vorgehensweise gewesen. Aber was soll zum Beispiel eine Hilfsorganisation tun, wenn gegen einen ihrer Angestellten in einer Kriegsregion oder in einem gescheiterten Staat der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs erhoben wird? In einem solchen Fall jenen Kriegsherrn zu informieren, der zu der Zeit gerade die Oberhand hat, könnte sogar mehr Schaden nach sich ziehen als Nutzen.

Dennoch scheint es einen Konsens zu geben, dass aus dem, was sich zum #metoo-Moment im Hilfssektor zu entwickeln scheint, Lehren gezogen werden müssen.

Es wird weitere Fälle geben: Schon jetzt werden Fragen gestellt, wie es in dem Zusammenhang etwa bei der Hilfsorganisation Médecins sans Frontières in Haiti aussehe.

Es wäre ein grosser Fehler, zu versuchen, dieses Thema herunterzuspielen. Selbst auf die Gefahr hin, dass die Finanzierung schrumpft, muss der Hilfssektor sehr offen darüber informieren, wie er gegen sexuellen Missbrauch und gegen Ausbeutung vorgeht und klarer aufzeigen, wie die vielfach bekräftigte Politik der «Nulltoleranz» tatsächlich funktioniert.

Vielleicht wäre es am mutigsten, wenn die Hilfsorganisationen das Image der Heiligen ablegen würde und gleichzeitig aufzeigen würde, dass Missbrauch oder Ausbeutung nicht toleriert werden.

Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch

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