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James Bonds Skiclub feiert 100 Jahre Rennsport – und Partys

Skifahrer bei einem Sprung, im Hintergrund zwei Zuschauer am Pistenrand
Der Schweizer Skifahrer Willy Forrer in Aktion beim Kandahar-Skirennen in Mürren 1961. Keystone / Str

Im sonst verschlafenen Schweizer Dorf Mürren bereitet sich der für den Skisport wegweisende Kandahar Club auf sein 100-jähriges Bestehen vor.

«Ich habe die Nummern von etwa fünf Bond-Girls in meinem Telefon», sagt Alan Ramsay, als wir in der Dämmerung den Berg hinaufgleiten. «Aber sie sind alle über 70.»

Trotz der frühen Stunde ist der in Schottland geborene Ehren-Mürrener schon gut in Form. Seinen Kilt – das Outfit, das er beim Inferno, dem verrücktesten Amateur-Skirennen der Welt, anhat (dazu später mehr) –  trägt er nicht. Heute hat er sich für die schlichte Eleganz einer knallroten Skihose mit Schottenmuster entschieden.

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FT

Wir fahren hinauf zum Gipfel des Schilthorns und zum Drehrestaurant, das mit dem Film «Im Geheimdienst Ihrer Majestät» unsterblich wurde.

In den späten 1960er-Jahren brauchte Mürren dringend eine Finanzierung, um die letzte, ehrgeizigste Etappe des völlig überteuerten Seilbahnprojekts fertig zu stellen, während die Bond-Produzenten einen Ort auf dem Gipfel brauchten, wo Telly Savalas› Blofeld seine weise Perserkatze streicheln und seine teuflischen Pläne ausarbeiten konnte.

Es war eine Zusammenarbeit, die eine dauerhafte Verbindung zwischen den Darstellern und dem Drehort herstellte, und seither gab es mehrere offizielle Wiedersehen. Daher auch die Liste mit Ramsays bemerkenswerten Kontakten.

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Ich bin genauso Bond-fixiert wie jeder andere Mann mittleren Alters, aber deshalb bin ich nicht hier.

Ich bin gekommen, um die Ursprünge eines exklusiven Skiclubs zu erforschen, der in diesem intimen Berner Oberländer Skigebiet vor einem Jahrhundert gegründet wurde und dessen Ruf so verwegen war, dass Bond-Schöpfer Ian Fleming nicht anders konnte, als seine berühmteste Kreation zu einem Mitglied zu machen.

Die Gondel kommt zum Stehen, und mit den Skiern auf den Schultern treten wir auf den Piz Gloria hinaus. Damals, im Winter 1969, war dieser elegante, kegelförmige Rückzugsort voller Bond-Girls, darunter Joanna Lumley und Diana Rigg, die sich auf mit goldenen Wänden getrennten Möbeln im Bergschick räkelten.

Touristen liegen auf dem Schilthorn vor dem Drehrestaurant in der Sonne, dahinter die Bergkulisse
Das Drehrestaurant Piz Gloria auf dem Gipfel des Schilthorns, das im Bond-Film «Im Geheimdienst Ihrer Majestät von 1969» als Blofelds Versteck diente. © Keystone / Christian Beutler

Im Osten klettert die Sonne hinter Eiger, Mönch und Jungfrau hervor und verleiht dem Dreigestirn einen messianischen Glanz.

Im Norden, wo der Thunersee noch nicht aus seinem kuscheligen Morgennebel aufgetaucht ist, sieht man das Schweizer Mittelland und den deutschen Schwarzwald.

Ramsay zeigt auf den Mont Blanc im Südwesten, einen von mehr als 200 Alpengipfeln, die von diesem 2970 Meter hohen Aussichtspunkt aus sichtbar sind. Weit unten, hinter einem Felsgrat verborgen, liegt der Felsvorsprung von Mürren, der sich 800 Meter über dem Talboden von Lauterbrunnen erhebt.

Vor einem Jahrhundert versuchten britische Tweed-Anzugträger, den Skisport zu revolutionieren, und zwar inmitten dieser unglaublichen Kulisse. Ihre treibende Kraft war Arnold Lunn, ein charismatischer Bergsteiger mit dem Aussehen eines gütigen Schuldirektors und der wilden Adrenalinsucht eines Basejumpers.

Lunn, dessen Vater Henry um die Jahrhundertwende den Winterurlaub in den Alpen populär machte und das Unternehmen gründete, aus dem später das britische Reisebüro Lunn Poly hervorging, hatte keine Zeit für die nordischen Sportarten Langlauf und Skispringen. Auch nicht für den frühen Slalom der Skandinavier, der mehr Wert auf Stil als auf Geschwindigkeit legte.

Arnold Lunn posiert im Anzug mit Skistöcken neben einer jungen Frau auf der Piste für die Kamera
Arnold Lunn, Autor, Alpinist, Pionier des modernen Skisports und Gründer des Kandahar Ski Club, 1962 in Mürren. Keystone / Str

Hänge hinunter zu rasen war sein Ding – vielleicht als Ablenkung von den unablässigen Schmerzen eines Kletterunfalls, der ein Bein fünf Zentimeter kürzer zurückliess als das andere.

Er kämpfte lange dafür, dass Slalom und Abfahrt, wie wir sie heute kennen, als olympische Sportarten anerkannt wurden (was ihm schliesslich 1936 gelang).

Um die noch in den Kinderschuhen steckenden Disziplinen zu fördern und die Briten schnell an das erforderliche Niveau heranzuführen, gründete er am 30. Januar 1924 im Zimmer 4 des Hotels Palace in Mürren den Kandahar Ski Club.

«Ein schneller, hässlicher Schwung ist besser als ein langsamer, schöner Schwung», lautete Lunns Diktum. Und in diesem Sinne fahren Ramsay und ich die Pisten hinunter.

Die schwarze Piste vom Gipfel des Schilthorns ist eine der symbolträchtigsten der Alpen: ein Steilstück, bei dem einem das Herz stehen bleibt, das sich gegen den Uhrzeigersinn dreht und dann in einer riesigen, kurvenreichen Schüssel endet, die Lunn und seine Pionierfreunde «Happy Valley» getauft haben.

Es ist ein euphorischer Start in einen mitreissenden Tag, an dem ich die abwechslungsreichen 52 Kilometer Pisten in Mürren erkunde: breite, anregende rote Pisten, die von mächtigen Steilwänden überragt werden; ruhige blaue Pisten, die sich durch dichte Wälder schlängeln, die vor Stille zu vibrieren scheinen.

Ramsay, der 1990 für eine Skisaison hierher kam und nie wieder abreiste – er arbeitet heute als Verkaufsleiter für die Schilthornbahn –, führt mich zum Schiltgrathüsi, einem winzigen Bergrestaurant, das unter einer dicken Schneedecke liegt.

Von der Bergstation der Allmendhubelbahn – 1912 vor allem für die Bobbahn des Dorfes gebaut – geht es gemächlich und hinunter zu Mürrens aufgeräumter Häusergruppe am Rande der Felsen.

In der kleinen Skischule spornen rüstige Siebzigjährige entschlossene Vorschulkinder in bauchigen Skianzügen an. Von der glänzenden Eisbahn dringen freudige Schreie herüber. Die Chalets aus dicken Brettern sind charakteristisch, vom Lauf der Zeit geformt.

Abgesehen von den Kranen, die am Ausbau der Schilthornbahn arbeiten, die bis Ende 2026 den Weg vom Tal zum Gipfel von vier auf drei Etappen verkürzen wird, unterscheidet sich die Szene nicht wesentlich von derjenigen, die Lunn vor einem Jahrhundert erlebte, als er zielstrebig mit seinen Klemmbrettern und Fähnchen herumschlich.

Das Hotel Eiger, ein mit Lärchenholz verkleidetes Wahrzeichen am nördlichen Rand des Dorfes, ist so etwas wie die geistige Heimat der Kandahar.

Ich sitze mit anderen Gästen auf der Terrasse und trinke einen Glühwein zum Sonnenuntergang. Ein kleines Feuer vertreibt die Kälte.

Unter die Menge mischt sich Annelis Stähli, die ehemalige Managerin, deren Grosseltern das Hotel 1892 gegründet haben. Die 86-Jährige erinnert sich an den Bond-Winter, als die Dreharbeiten das Dorf in Beschlag nahmen.

Auch an Lunn («ein reizender Mann») und seine berühmte Zerstreutheit. «Ich erinnere mich, dass er einmal in Smoking und Pyjamahose zum Abendessen kam», sagt sie. «Ich musste es ihm sagen.»

Später in der Woche fahre ich mit Christian Edalini Ski, einem teakfarbenen Skichampion, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Blofeld-Darsteller Telly Savalas hat.

Der 66-jährige Italiener wird Ende des Monats zum 43. Mal beim Inferno an den Start gehen.

Das Rennen wurde vier Jahre nach der Kandahar von einer Gruppe von 17 Clubmitgliedern ins Leben gerufen, die zwei Tage lang auf den Gipfel des Schilthorns wanderten und mit Skiern hinunterfuhren.

Heute ist es nach eigenen Angaben das grösste Amateurrennen im Skisport, bei dem 1850 Teilnehmer in 12-Sekunden-Intervallen auf eine Strecke geschickt werden, die über 14,9 km und 2170 Höhenmeter nach Lauterbrunnen führt.

Renn-Tor des Inferno-Skirennens, im Hintergrund zwei Skifahrer, von denen einer in einer Kurve stürzt
Im Inferno-Rennen auf den Beinen zu bleiben, ist leichter gesagt als getan. © Keystone

Als langjähriges Kandahar-Mitglied und Skilehrer hat Edalini «Hunderte» von Mitgliedern auf das Rennen vorbereitet. «Ich sage ihnen immer: ‹Wenn du mich schlagen kannst, kannst du Ski fahren!'»

Beim Mittagessen in der Schilthornhütte, hoch oben auf dem Grat an der Mündung des Happy Valley, frage ich ihn nach Kandahar. Nach einem Jahrhundert scheint der Club mit seinen rund 1650 aktiven Mitgliedern kerngesund zu sein.

Er vergleicht ihn mit einer grossen Familie. Aber nicht jeder ist so enthusiastisch. Eine Organisation, die von der britischen Lifestyle-Zeitschrift Tatler als «der vornehmste Skiclub der Welt» bezeichnet wird und deren Fundamente zum Teil auf Henry Lunns nicht ganz integren Public Schools Alpine Sports Club zurückgehen, muss sich einiges an Kritik gefallen lassen.

Aber die Behauptung, es handele sich um einen Trinkerclub mit einem Skiproblem, ist einfach nicht stichhaltig.

Zum einen beträgt der Jahresbeitrag bescheidene 60 CHF, und die Mitgliedschaft ist breit gefächert: Derzeit sind 15% Nicht-Briten, etwa ein Drittel sind Frauen.

Und obwohl in der Inferno-Woche ein hedonistischer Sturm der Kategorie 4 durch das Dorf fegt, scheinen die Einheimischen darauf zu beharren, dass es auf der richtigen Seite der Ausschweifung bleibt.

«Wir wissen, dass wir während der Inferno-Woche nicht in die Restaurants gehen sollten. Das ist verrückt», sagt mir ein Ladenbesitzer. «Gut verrückt?» Breites Lächeln: «Gut verrückt.»

Zwei traditionelle Schweizer Holzhäuser
Mürren im Sommer. Susan Misicka

An meinem letzten Abend treffe ich Bernie Lunn, Arnolds Enkel, einen pensionierten Tech-Unternehmer, der im Dorf lebt.

Der liebenswürdige 69-Jährige trägt eine Schiebermütze, die vor hundert Jahren in dieser Gegend wohl zum guten Ton gehörte, und bietet mir an, mir das Clubhaus der Kandahar zu zeigen.

Es ist, wie überall in Mürren, nur einen kurzen Spaziergang entfernt, gleich hinter der Curlingbahn auf der Rückseite des Sportzentrums.

Im Innern steht ein riesiger Glasschrank voller Silberbesteck. An der Wand hängt ein Satz von Lunns Holzskiern und Stöcken. Von einem kleinen Schwarz-Weiss-Porträt starrt Lord Roberts von Kandahar herab, der skibegeisterte General mit Schnauzbart, dessen Spitzname – von einem siegreichen Feldzug in Afghanistan herrührend – vom Club übernommen wurde.

Aus dem Regal nehme ich die allererste, in blaues Leder eingefasste Kandahar Ski Club Review heraus. Die Seiten strotzen nur so vor veralteten Ausdrücken.

«Skirennfahrer» zeigen «Mut» und «Elan». Die lässig anmutenden Rennberichte sind ein Genuss. «Bei unwichtigen Wettkämpfen schlägt sich Barratt, der Kapitän der Vereinsmannschaft, immer gut, aber bei grossen Ereignissen verliert er die Nerven.»

Barratt, der arme Kerl, stürzte mehrfach «ohne ersichtlichen Grund».

In der Liste der 56 Gründungsmitglieder ist ein einziger Name kursiv gedruckt. Andrew Irvine, genannt Sandy, der weniger als einen Monat nach seinem Beitritt zum Club in den Himalaya aufbrach und zuletzt am 8. Juni 1924 kurz nach Mittag gesehen wurde, als er an der Seite von George Mallory den Gipfel des Everest erklomm.

«Irvine, A. C. (gestorben am Everest)» lautet der Eintrag. Seine Leiche wurde nie gefunden.

Der Rückblick spricht den Eltern des 22-Jährigen das tief empfundene Mitgefühl des Clubs aus.

Sie mögen Trost in Bernies Lieblingspassage aus dem Werk seines Grossvaters gefunden haben, die von Lunns quasi-religiöser Verbundenheit mit den berauschenden Konturen dieser Ecke der Schweiz spricht: «Nur wer die Nacht durchklettert hat, kann den Segen der Morgendämmerung wirklich verstehen.»

Dem grössten britischen Skifahrer, Dave Ryding, mangelt es sicherlich nicht an Mut und Wagemut. Als langjähriges Mitglied der Kandahar ist er unendlich dankbar für die finanzielle Unterstützung, die ihm half, die Kluft zwischen dem Erlernen des Skifahrens auf trockenen Pisten im Ribble Valley in Lancashire und dem Wettkampf mit den besten Alpinskifahrern zu überbrücken und sie gelegentlich zu schlagen.

Als er 2022 den prestigeträchtigen Slalom in Kitzbühel, Österreich, gewann – eine Premiere für einen britischen Skifahrer in der Weltcupgeschichte – war das ein Jahrhundert und einen Tag, nachdem Lunn den ersten modernen Slalom in Mürren durchgeführt hatte.

Fühlt sich der vierfache Olympiasieger mit Lunn verbunden? Sogar eine Dankbarkeit?» Auf jeden Fall. Wenn man mit der Kandahar unterwegs ist, wird man immer an ihn erinnert», sagt er. «Der ganze Sport ist aus seiner Leidenschaft erwachsen.

Es ärgert Ryding sichtlich, dass er nie die Gelegenheit hatte, das Inferno in vollen Zügen zu geniessen. Normalerweise kollidiert es mit einem Rennwochenende, und als Profi ist er sowieso ausgeschlossen.

Aber das will er im Ruhestand ändern, und als jemand, der sich in der Tradition der Kandahar nicht allzu ernst nimmt – «37-jähriger glatzköpfiger Discotänzer» steht auf seinem Instagram-Profil – wäre er auf beiden Seiten der Ziellinie eine willkommene Bereicherung, wie man meint.

«Sie sind genauso leidenschaftlich im Skirennsport wie ich», sagt Ryding. «Sie verstehen, dass es wie eine Droge ist: das Gefühl der Freiheit, den Berg hinunterzustürzen. Daran muss man einfach Spass haben.»

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