«Japan am Rand von Atom-Desaster»
Nach dem verheerenden Erdbeben und dem darauf folgenden Tsunami steht Japan vor einer drohenden Kernschmelze zweier Atomreaktoren. Die Schweizer Sonntagspresse berichtet über die Situation vor Ort. Aber auch von Folgen für die Schweiz.
Erschütternde Bilderstrecken der katastrophalen Auswirkungen des Erdbebens von vergangenem Freitag in Japan zeigen die Schweizer Sonntagszeitungen. Davon zeugen auch die Titel: «Nach Erdbeben droht Atom-Gau», schreibt die Sonntags Zeitung. «Atomunfall hält Japan in Atem», titelt die Zentralschweiz amSonntag. In der NZZ am Sonntag steht: «Japan am Rand von Atom-Desaster.»
Einen Schritt weiter geht der Sonntags Blick mit seinem Titel: «Angst vor neuem Tschernobyl» und Le Matin Dimanche schreibt: «Et maintenant la menace nucléaire» – «Und jetzt die nukleare Bedrohung».
«Japan zählt seine Toten», beginnt die NZZ am Sonntag ihren Bericht über Rettungsbemühungen und Schadensausmass in den betroffenen Gebieten. Eine Bilanz sei zur Zeit nicht möglich, denn die Meldungen über weitere Tote, Vermisste und Schäden würden vorderhand nicht abreissen.
Berichtet wird auch über die internationale Hilfe, die angelaufen ist. Rund 70 Such- und Rettungsteams aus 45 verschiedenen haben ihre Unterstützung zugesichert. Darunter auch die Schweiz, die ein 25-köpfiges Aufklärungsteam und neun Suchhunden ins Katastrophengebiet entsandt hat.
«Wir fliegen mit gemischten Gefühlen nach Japan», sagt der Schweizer Einsatzleiter Martin Jaggi im Sonntags Blick. Jedes Mitglied habe vor dem Abflug ein Strahlenmessgerät und Jodtabletten erhalten, aber bei Gefahr werde das Team sofort zurück in die Schweiz geholt.
Atom-GAU als grösste Gefahr
Am meisten Platz nehmen die Berichte ein über das direkte Ausmass der nuklearen Bedrohung für Japan und die ganze Welt und insbesondere auch für die Schweiz. Wie sicher können AKW überhaupt sein, so die grundsätzliche Frage.
Die drohende Atomkatastrophe in Japan weckt auch Erinnerungen an den schweren Atomunfall von Tschernobyl 1986. Der Sonntag fragt den Nuklear-Experten Georg Schwarz, ob sich die beiden Ereignisse miteinander vergleichen liessen. «Nein, es besteht ein riesiger Unterschied zwischen diesen zwei Fällen. Der Unfall in Tschernobyl war um den Faktor 100 schlimmer.» Aber er meint auch: «AKWs sind für solche Erdbeben nicht gebaut.»
Schweizer Atompolitik unter Druck
Dass der schwere Atomunfall in Japan auf die künftige Atompolitik der Schweiz Auswirkungen haben wird, ist sich die Presse einig.
«Bürgerliche Euphorie schwindet», schreibt etwa die Sonntags Zeitung. Der Sonntags Blick ist überzeugt: «Die Atomindustrie stellt sich auf härtere Zeiten ein.»
Klar ist für die die Sonntagspresse, dass die Ereignisse in Japan den Atomkraftwerk-Gegnern grossen Auftrieb verleihen werden.
Rolf Büttiker, Freisinniger Solothurner Ständerat und Verwaltungsratsmitglied des Kernkraftwerks Leibstadt, meint im Sonntag, es sei nun die Aufgabe der Politik, «unangenehme Fragen zu stellen, die auch zu unangenehmen Antworten führen können». Er bezieht sich dabei auf den geplanten Bau von zwei Atomkraftwerken in den nächsten Jahren in der Schweiz.
Die NZZ am Sonntag bemüht sich, Panik zu vermeiden. Sie gibt zu bedenken, dass «das bisher schwerste Erdbeben in der Schweiz vor 655 Jahren in Basel stattfand und eine Stärke von rund 7,0 erreichte. Dagegen handelt es sich beim jüngsten Beben in Japan mit einer Stärke von 8,9 um das fünftstärkste überhaupt je gemessene Erdbeben der Welt.» Aber: «Ohne umfassende und ehrliche Antworten auf die Fragen, welche die Katastrophe in Japan provoziert, wird das Volk schwerlich einfach Ja zu neuen Atomkraftwerken sagen.»
Vor vorschnellen Schlüssen warnt auch die Sonntags Zeitung: «Mühleberg muss nicht sofort abgestellt werden, nur weil es sich um einen baugleichen Reaktor handelt wie bei Fukushima 1. Erst nach einer detaillierten Analyse des Unfalls (…) sollten zukünftige Schritte erwogen werden.»
Nicht nur die Auswirkungen eines Erdbebens auf nukleare Einrichtungen werden diskutiert. Die Sonntags Zeitung kommt zum Schluss:»Die meisten Häuser in der Schweiz sind nicht sicher.» So seien «90 Prozent des Baubestandes noch vor der Einführung von Erdbebennormen entstanden und weisen eine mangelhafte Erdbebensicherheit auf», zitiert sie den Direktor des Hauseigentümerverbandes.
Ruhe und Besonnenheit
Beeindruckt zeigen sich die Zeitungen auch von der Ruhe und Besonnenheit der japanischen Bevölkerung. Einzig der Sonntags Blick spricht von «Panik im ganzen Land». In der Zentralschweiz amSonntag sagt der Japanologe David Chiavacci: «Die Japaner sind in vieler Hinsicht gut trainiert.» Da die Japaner in extrem dicht besiedelten Regionen miteinander lebten, seien sie es gewohnt Rücksicht aufeinander zu nehmen. Doch trotz ihrer Ruhe und Besonnenheit seien «Japaner nicht immun gegen Leid», sagt der Japanologe.
«Wohl nirgendwo auf dem Erdball gewinnt man die Erfahrung, nochmals mit dem Leben davon gekommen zu sein, nochmals eine Chance zu erhalten, mit der unschätzbar wertvollen Lebenszeit sinnvoller umzugehen, so häufig wie in Japan. In diesem Frühjahr wird man die Kirschblüte als Alternative zu Tod und Zerstörung mit besonderer Intensität feiern», schreibt der Japankenner Urs Schoettli in der NZZ am Sonntag.
Das Erdbeben von der Stärke 8,9 und der darauf folgende Tsunami, eine Flutwelle von rund 10 Meter Höhe, zerstörten am Freitag, 11. März, weite Teile der Nordostküste Japans. Klare Aussagen zu Toten, Vermissten oder Schäden lassen sich zur Zeit noch nicht machen.
Schätzungen sprechen von möglicherweise über 10’000 Toten.
Landesweit sollen mindestens 300’000 Menschen in Sicherheit gebracht worden, sein, rund 5,5 Millionen Menschen müssten vorerst ohne Strom auskommen und mindestens 3400 Gebäude sollen zerstört oder beschädigt sein.
Das Kernkraftwerk von Fukushima ist schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Nach einer Explosion im Reaktorgebäude wurde eine mögliche Kernschmelze befürchtet. Darüber liegen derzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse vor.
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