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Jeanne Hersch – ein Schweizer Philosophie-Monument

Jeanne Hersch bei einem Referat im Zürcher Stadthaus. Beat Marti

Die 1910 in Genf geborene und 2000 ebenda verstorbene Jeanne Hersch war eine der grössten, wenn auch umstrittenen Schweizer Philosophinnen. Zu ihrem 100. Geburtstag wurde eine Jeanne Hersch-Gesellschaft gegründet. Ein Rückblick.

«Die Idee der Jeanne Hersch-Gesellschaft (JHG) ist ganz natürlich entstanden», sagt die Gründerin Monika Weber, alt Ständerätin und alt Zürcher Stadträtin des damaligen Landesrings der Unabhängigen (LdU) gegenüber swissinfo.ch. «Ich war 1973/74 in Genf eine Studentin von Jeanne Hersch. Ich habe sie als sehr eindrückliche Person erlebt. Sie ist aus meinem Leben gar nie mehr verschwunden.»

Monika Weber hat Jeanne Hersch oft zitiert, zum Beispiel diesen Satz: «Der Mensch, wenn er geboren wird, ist eigentlich noch gar kein Mensch. Er wird erst ein Mensch, wenn er sich bildet, indem er Grenzen erfährt, indem er Freude erlebt, Leid oder Trauer spürt, liebt und Verantwortung übernimmt – der Mensch wird zu einem Menschen.»

«In der Deutschschweiz wieder lebendig machen»

Als Monika Weber vor vier Jahren pensioniert wurde und wusste, dass der Nachlass von Jeanne Hersch in die Zentralbibliothek Zürich kommt, hat sie sich gesagt: «Ich lese diesen Nachlass und gebe auf ihren 100. Geburtstag ein Buch heraus, damit Jeanne Hersch und ihre Gedanken auch in der Deutschschweiz wieder lebendig werden.»

Das war ein Motiv für die Gründung der JHG, deren Hauptzweck die Durchführung des Gedenkjahres zum 100. Geburtstag von Jeanne Hersch ist. «Und wenn wir den Verein länger erhalten, möchte ich, dass er eine, zwei oder mehrere Dissertationen über Jeanne Hersch im deutschsprachigen Raum unterstützt. Laut Weber zählt die JHG bereits über 140 Mitglieder.

Einmischung in die Tagespolitik

Jeanne Hersch mischte sich als Philosophin stets auch in die Tagespolitik ein. «Sie ging immer vom gleichen Prinzip aus: von der Freiheit und der Verantwortung. Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung.»

Hersch polemisierte gegen die 68er-Bewegung, die Frauenbewegung, die 80er-Jugendbewegung. Deswegen wurde sie von der Linken scharf kritisiert. Monika Weber relativiert: «Bei den Jugendunruhen kritisierte sie eigentlich nicht die Jugendlichen, sondern die Eltern und die Lehrpersonen, die für sie vor der Jugend kapitulierten.»

Festes Weltbild

Die harte Haltung gegenüber der 80er-Jugendbewegung erklärt sich Publizist und Hersch-Biograf Charles Linsmayer mit den persönlichen Faschismus-Erfahrungen der Philosophin. «Sie hatte 1933 in Freiburg im Breisgau studiert und dort gesehen, wie eine reaktionäre Ideologie quasi an die Macht kommt. Das war für sie als junge jüdische Frau eindrücklich», sagt Linsmayer gegenüber swissinfo.ch. «Von dieser Erfahrung her muss man die kontroversen Reaktionen von Jeanne Hersch sehen.»

Sie habe im Grunde genommen immer Angst gehabt, es könnte erneut zu einer totalitären Entwicklung kommen. «Bei der 68er-Bewegung, bei der 80er-Jugendbewegung mit den verschiedenen Krawallen hat sie gemeint, faschistische Anzeichen identifizieren zu können», so Linsmayer. «Sie hat mit einem Bierernst auf diese Chaoten reagiert, weil sie eine Beeinträchtigung der Freiheit des Menschen befürchtete.»

Für Linsmayer ist klar, dass ein derart festes Weltbild mit der Zeit überholt wird. «Jeanne Herschs grosse Periode war im Grunde genommen die Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Später hat sie aus ihrer sehr intelligenten, aber in einem geschlossenen System fixierten Denkweise heraus nicht mehr alles so unmittelbar und spontan pragmatisch zu verstehen vermocht, wie das jüngere Leute konnten.»

«Sozialdemokraten können stolz auf sie sein»

Auch in der Sozialdemokratischen Partei (SP), der sie 1939 beigetreten war, war Jeanne Hersch umstritten, vor allem beim linken Flügel. Sie war für Atomkraftwerke, für eine starke Landesverteidigung, gegen die Straffreiheit des Drogenkonsums. Hätte sie nicht besser in eine bürgerliche Partei gepasst?

Dazu Monika Weber: «Nein, ich glaube nicht, obwohl das aus heutiger Sicht schwierig zu sagen ist. Jeanne Hersch vertrat immer die Idee eines demokratischen Sozialismus. Sie war sicher in der richtigen Partei, aber sie hatte ihre eigenen Gedanken. Jeanne Hersch lag damals einfach in verschiedenen Fragen quer zur Parteidoktrin, quer zum Zeitgeist.»

Aber die Zeiten hätten sich geändert, und heute sei Jeanne Hersch wieder aktuell, betont Weber. «Sie ist eigentlich eine Klassikerin: Ihre grossen Themen waren Freiheit und Verantwortung, die Sinnfrage, Erziehung, Demokratie, Europa, auch die Schweiz und Europa, die Menschenrechte. Sie war eine grossartige Frau, die Sozialdemokraten können stolz auf sie sein.»

Als die Genfer SP 1971 eine Wahlkoalition mit den Kommunisten einging, verliess Jeanne Hersch die Partei und trat dem Parti socialiste suisse groupe romand de Berne bei. Dort blieb sie Mitglied bis 1992, als die SP Schweiz an einem Parteitag den straffreien Konsum von Drogen befürwortete. Das erschütterte sie, und sie verabschiedete sich nach einer über 50-jährigen Mitgliedschaft von der SP.»

Hochachtung trotz Streit

Der langjährige Genfer SP-Nationalrat und Soziologieprofessor Jean Ziegler und seine Parteikollegin Jeanne Hersch hatten das politische Heu nicht auf der gleichen Bühne. Sie lagen oft miteinander im ideologischen Streit. Gegenüber swissinfo.ch mochte sich Ziegler zur Bedeutung der Philosophin nicht äussern.

Zieglers Nachruf bei ihrem Tod im Jahr 2000 sei aber «sehr fair» gewesen, sagt Hersch-Biograf Linsmayer. «Obwohl sie offenbar die Professur Zieglers an der Universität Genf zu verhindern versucht hatte, hat Ziegler Jeanne Hersch als eine der grössten Philosophinnen und Persönlichkeiten der Schweiz bezeichnet.»

Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch

Jeanne Hersch, geboren am 13. Juli 1910 in Genf, war die Tochter jüdischer russisch-polnischer Immigranten.

Sie studierte in Genf, Paris, Heidelberg und Freiburg im Breisgau Philosophie und Literaturwissenschaft.

1931 wurde sie Bürgerin von Genf.

1932 fuhr die junge Genferin nach Heidelberg, wo der Existenzphilosoph Karl Jaspers lehrte. Sie wurde seine Schülerin, und er blieb ihr lebenslanges Vorbild.

Sie promovierte in Philosophie und unterrichtete ab 1956 an der Universität Genf, wo sie 1962 die Professur für Systematische Philosophie erhielt.

Von 1966 bis 1968 war sie Direktorin der Abteilung Philosophie der Unesco in Paris.

Aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums der UNO-Menschenrechtsdeklaration publizierte sie im Jahre 1968 das Grundlagenwerk «Das Recht ein Mensch zu sein».

Von 1970 bis 1972 vertrat Jeanne Hersch die Schweiz im Exekutivrat der Unesco.

Sie unterrichtete an der Universität Genf bis 1977.

Am 5. Juni 2000 starb Jeanne Hersch, kurz vor ihrem 90. Geburtstag.

Annemarie Pieper/Monika Weber (Hrg.), «Jeanne Hersch – Erlebte Zeit, Menschsein im Hier und Jetzt», mit 20 Vorträgen von Jeanne Hersch, NZZ-Verlag.

Charles Linsmayer (Hrg.), Neuausgabe von «Erste Liebe» («Temps alternés») von Jeanne Hersch, mit Biografie über Jeanne Hersch, Huber-Verlag.

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