Katholiken: Missbrauchs-Skandal erschüttert Europa
Der Skandal um den Kindsmissbrauch durch katholische Geistliche breitet sich in Europa immer weiter aus. Beobachter erwarten, dass Papst Benedikt der XVI dazu eine Erklärung abgeben wird. Kann er die Wunden bei den Betroffenen heilen?
Nach Irland, Deutschland, den Niederlanden, Österreich und Polen hat der Skandal die Schweiz erreicht, wo 60 neue Fälle untersucht werden. Anfang Woche war in der Churer Diözese ein Priester zurück getreten, nachdem er den sexuellen Missbrauch von Kindern zugegeben hatte.
Die katholische Kirche sieht sich durch die fehlbaren Geistlichen in eine der grössten Krisen der Gegenwart gestürzt. Der Papst hatte sich «tief besorgt» gezeigt, sich aber bisher nicht weiter dazu geäussert.
Er will sich aber am Samstag in einem Hirtenbrief an die irischen Katholiken wenden. Damit will er zur «Busse, Heilung der Wunden und Erneuerung» beitragen. Auf der Insel missbrauchten katholische Kirchenmänner von den 1930er- bis in die 1990er-Jahre über 15’000 Kinder und Jugendliche.
Hoffnung und Skepsis
Beobachter erwarten, dass die Erklärung Benedikts das bisherige Schweigen über Pädophilie innerhalb der katholischen Kirche durchbrechen werde. Sie gehen weiter davon aus, dass es dem Heiligen Stuhl damit gelingen werde, eine Wende in der Krise herbeizuführen.
Nicht dieser Meinung ist Theologieprofessor Edmund Arens von der Universität Luzern. «Ich denke, dass der Papst sich im Namen der Kirche entschuldigen sollte», sagt Arens gegenüber swissinfo.ch.
Es sei höchste Zeit, dass die Institution die Schuld eingestehe an diesen Verbrechen, deren Verschleierung und dem Umstand, dass sie Opfer am Gang vor ein Gericht gehindert hatte.
Arens glaubt aber nicht daran, dass der «idealistische» Papst so weit gehen wird. «Die Kirche verliert Glaubwürdigkeit», sagt er. Arens macht einen eklatanten Unterschied aus zwischen ihrer Lehre, wo sie Liebe, Solidarität und Mitgefühl predigt, und dem, was sie lebt.
Einmalige Situation
Arens ist mit seiner Skepsis nicht allein. Der kritische Schweizer Theologe Hans Küng sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, dass der Papst persönlich Abbitte leisten solle, denn vor ihm habe sich noch niemand in der Kirche mit so vielen Fällen von Kindsmissbrauch konfrontiert gesehen.
Joseph Ratzinger war 24 Jahre Präfekt der Kongregation über die Glaubenslehre gewesen. Dieses Gremium wacht über Kirchendoktrin und Rechtssprechung. In dessen Zuständigkeitsbereich fällt auch sexuelles Fehlverhalten der Geistlichen.
Papst-Bruder verstrickt
«Der Schutz der eigenen Priester scheint wichtiger gewesen zu sein als der Schutz der Kinder», sagte Küng. Unter den Institutionen, wo Kindsmissbrauch vorkam, rangiert auch der Chor der Regensburger Domspatzen. Der Leiter von 1964 bis 1994 hiess Georg Ratzinger, ein Bruder Benedikts. Insgesamt sind in Deutschland seit Januar rund 300 Fälle von Missbrauch bekannt geworden.
Am vergangenen Wochenende hatte ein Sprecher des Vatikans den Papst vehement verteidigt, indem er von «aggressiven Bestrebungen» seitens der Medien sprach. Deren Ziel sei es, eine persönliche Mitverantwortung des Papstes an der Krise in Deutschland und andernorts zu suggerieren.
Viel Arbeit auch in der Schweiz
Inzwischen hat der Skandal auch die Schweiz erreicht. Am Mittwoch nahm ein Priester aus der Churer Diözese den Hut, nachdem er zugegeben hatte, dass er in den 1970er-Jahren Schutzbefohlene missbraucht hatte. Dies nicht nur in der Schweiz, sondern auch im angrenzenden Österreich und Deutschland.
Die Katholische Kirche spricht in der Schweiz von 60 Fällen von Missbrauch, die von der Schweizerischen Bischofskonferenz untersucht werden.
«Nur die Spitze des Eisbergs»
Dabei handle es sich nur um die Spitze des Eisbergs, glaubt Andrea Hauri von der Stiftung Kinderschutz Schweiz.
«Die tatsächlichen Zahlen sind viel höher, da Kindsmissbrauch häufig geschieht, nicht nur in religiösen Kreisen, sondern auch im schulischen Umfeld.» Von der laufenden Debatte erhofft sie sich, dass mehr Opfer ermutigt werden, über die erlittene Schmach zu sprechen.
In Deutschland hat Kanzlerin Angela Merkel Klartext gesprochen und die Taten aufs Schärfste verurteilt.
«Die Schweizer sind zögerlich, moderat und ruhig», sagt Theologieprofessor Edmund Arens, «sie behandeln sämtliche Angelegenheiten mit grosser Diskretion.» Dem pflichtet Andrea Hauri bei, wenn sie sagt: «Wir wissen nicht, was in der katholischen Kirche vorgeht.»
«Opferzentrierte Strategie»
Walter Müller, Sprecher der Schweizerischen Bischofskonferenz, verteidigt die Strategie der katholischen Kirche. In deren Zentrum stünden die Opfer von Kindsmissbrauch, betont er.
«Wie der kürzliche Fall in Chur gezeigt hat, werden die Opfer sofort nach Bekanntwerden angehört und betreut. Auch werden sie ermutigt, Anzeige bei der Polizei einzureichen», sagte Müller am Schweizer Fernsehen. Jede Diözese verfüge überdies über Kontaktstellen für Opfer und Zeugen, die über Kindsmissbrauch aussagen wollten.
Das sei ein Schritt in die richtige Richtung, aber reiche noch nicht aus, findet Natalie Rickli von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP).
«Es reicht nicht, wenn man im Internet einen Hinweis platziert und eine Beratungsgruppe initiiert, aber dann die Opfer in ihrer Entscheidung allein lässt, ob sie Klage einreichen wollen», sagt Rickli.
Simon Bradley, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Künzi
Schweiz: Das Bistum Chur untersucht derzeit rund zehn Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch in den Kantonen Graubünden, Zürich und Schwyz.
Mindestens weitere sechs Fälle sind bereits abgeschlossen, ebenso wie fünf Übergriffe im Kloster Einsiedeln.
USA: Aufbrechen des Skandals 2002 in Boston. Untersuchungen förderten zu Tage, dass zwischen 1950 und 2002 über das ganze Land 4400 Geistliche rund 11’000 Kinder missbraucht hatten. Die Kirche zahlte zwei Mrd. Dollar an Entschädigungen, Priester wanderten ins Gefängnis.
Irland: Von den 1930er- bis in die 1990er-Jahre missbrauchten katholische Kirchenmänner über 15’000 Kinder und Jugendliche. Vier Bischöfe traten zurück.
Australien: Jüngst wurden Fälle bekannt, die bis in die 1970er- und 1980er-Jahre zurückgehen.
Kanada: Ende der 1980er-Jahre wurden Hunderte von Fällen bekannt. 2002 zahlten Katholische Kirche und Staat den Opfern 700 Mio. Euro Entschädigungen.
Österreich: 1995 trat Kardinal Hans Hermann Groer, der Erzbischof von Wien, nach Vorwürfen von sexuellem Fehlverhalten zurück.
Frankreich: Zwölf Priester sind in laufende Verfahren wegen Pädophilie involviert.
Deutschland: Es wurden über 100 Fälle von Kindsmissbrauch an katholischen Institutionen bekannt. Betroffen ist auch der Chor der Regensburger Domspatzen. Dessen Leiter von 1964 bis 1994 war Georg Ratzinger, ein Bruder Papst Benedikts.
Seit 2001 sah sich der Vatikan mit 3000 Fällen von sexuellem Fehlverhalten konfrontiert, die Delikte wurden in den letzten 50 Jahren verübt. Diese Angaben machte Charles Scicluna, offizieller Kläger des Vatikans, in Avvenire, de Zeitung der Italiensichen Bischöfe.
Davon hätten nur 300 Fälle von «tatsächlicher Pädophilie» an Kindern vor der Pubertät betroffen. 60% hätten Jugendliche betroffen. Den Rest machten heterosexuelle Beziehungen aus.
Nur in einem Fünftel der Fälle kam es zu einem Gerichtsverfahren. Nur in zehn Prozent wurde der fehlbare Priester vom Papst seiner Funktion enthoben.
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