Kinder-Bettler sind Opfer, nicht Täter
In verschiedenen Schweizer Städten treten Kinder als Bettler auf. Es sind meistens Roma-Kinder. Menschenhändler kaufen sie den Eltern ab. Die Stadt Bern entzieht diese Kinder den Händlern und gilt als Vorbild. Es gibt aber auch skeptische Stimmen.
Wenn die Berner Polizei ein bettelndes oder stehlendes Kind aufgreift, dann «kommt es in ein Heim und wird dort professionell betreut», sagt Alexander Ott, der Leiter der Berner Fremdenpolizei.
Das Kind kann theoretisch bis zu drei Monaten im Heim bleiben. Dort wird es laut Ott «professionell» betreut. «Wir klären ab, ob es ins Heimatland zurückgeschafft werden kann. Falls ja, versuchen wir die Rückführung möglichst schnell umzusetzen. Falls nein, wird eine mögliche Aufenthaltsbewilligung geprüft.»
Ziel sei es, das Kind, «möglichst rasch in seine gewohnten Strukturen einzubinden. Das heisst, es soll in seinem Heimatland in die Schule gehen können und eine Ausbildung bekommen, damit es nicht rückfällig wird».
Dahinter stehen die Täter
Die Berner Behörden haben 2009 ein Pilotprojekt lanciert. Ziel war es, die Strassen von bettelnden Kindern zu räumen und die Kinder zu schützen. Seither gibt es in Bern keine bettelnden Kinder mehr. «Wir haben in Rumänien gewissermassen Werbung gemacht, dass sich das Betteln in unserer Stadt nicht lohnt», sagt Ott.
Die Kinder, die in der Schweiz betteln, stammen zum grossen Teil aus Rumänien u und Bulgarien. Die meisten gehören der ethnischen Minderheit der Roma an.
Laut einem Informationspapier des Schweizerischen Städteverbands befinden sie sich » in den Fängen von kriminellen, stark hierarchisch organisierten Täternetzwerken». Diese kaufen die Kinder kinderreichen Familien ab oder leihen sie aus. Sie werden im Betteln und im Stehlen ausgebildet. Wenn sie nicht genügend Geld einbringen, werden sie bestraft. Das heisst, sie werden geschlagen, eingesperrt oder bekommen nichts zu essen.
Opfer, nicht Täter
Der Städteverband versteht das Positionspapier als Empfehlung an die Behörden. Die zuständige Arbeitsgruppe orientierte sich an den Erfahrungen der Stadt Bern, die bei der Bekämpfung der organisierten Bettelei und Kleinkriminalität als Vorreiterin gilt.
Das Papier stellt den Kinderschutz in den Vordergrund indem es grundsätzlich festhält, die Kinder seien nicht Täter, sondern Opfer. Lösungen müssten deshalb den Schutz der Kinder vor den Hintermännern umfassen und könnten sich nicht auf rein polizeiliche und ausländerrechtliche Massnahmen beschränken.
Ziel: Rückkehr
Zu den Zielen gehören die freiwillige Rückkehr der Kinder und Jugendlichen in ihre Herkunftsländer sowie ihre Reintegration in die dortige Gesellschaft; ein Unterfangen, das vielfach schwierig ist, denn «die Minderjährigen und auch die Erwachsenen sind im Herkunftsland oft nicht registriert», hält der Bericht fest. Zudem gebe es Fälle, in denen keine Familien oder Verwandten im Herkunftsland verfügbar oder diese nicht fähig seien, für die Zurückkehrenden zu sorgen.
Die Stadt Bern bietet anderen Städten, die selber über keine entsprechenden Infrastrukturen verfügen nun Plätze in einem Kinderheim an. Damit sollen die Kinder der Kontrolle der Menschenhändler entzogen werden.
«Diese Kinder sind höchst wahrscheinlich Opfer von Menschenhandel. Das ist ein enormes Problem, und wir müssen sie schützen», sagt der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause gegenüber swissinfo.ch.
Laut der Fernsehsendung «Schweiz aktuell» befürchtet die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, das Kinderheim sei lediglich dazu da, die Kinder möglichst schnell wieder auszuschaffen. «Genau das wollen wir nicht», sagt hingegen Ott.
Grenzüberschreitendes Problem
Es sei Entscheidend, dass der Kindesschutz Vorrang habe und es sei besser, etwas zu unternehmen, als gar nichts, sagte der Mediensprecher des Kinderhilfswerks Terre des Hommes, Rudolf Gafner der Berner Zeitung Der Bund. Das Problem müsse grenzüberschreitend angegangen werden, denn die organisierte Bettelei verlagere sich nicht nur zwischen Städten, sondern auch zwischen Ländern.
Gemäss Boris Mesaric, dem Geschäftsführer der Koordinationsstelle gegen Menschenhandel und Menschenschmuggel des Bundes, sind Kinder-Bettler ein immer wiederkehrendes Problem in Genf, Lausanne, St Gallen, Basel und Luzern.
Die Schweiz sei nicht weniger und nicht mehr betroffen von diesem Problem als die anderen westeuropäischen Länder. Spanien, Italien, Frankreich hätten dieselben Problem, so Mesaric: «Ich würde nicht sagen, die Schweiz sei eines der Hauptziele. Wir müssen jedoch vorbereitet sein, wenn sich das ändern würde. Die grösste Herausforderung für die Behörden ist es, das Phänomen als Menschenhandel zu begreifen.»
Roma ist der Oberbegriff für eine Reihe ethnisch miteinander verwandter, ursprünglich aus dem indischen Subkontinent stammender Bevölkerungsgruppen, die ab dem 14. Jahrhundert in mehreren Migrationsschüben über Vorderasien nach Nordafrika und Europa sowie in der Moderne auch nach Amerika und Australien gelangten.
Roma leben als ethnisch-kulturelle Minderheit auf allen Kontinenten, in ihrer grossen Mehrheit jedoch in Europa und dort vor allem in den südosteuropäischen und einigen mitteleuropäischen Staaten, sowie in Spanien und Frankreich.
Die in eine Vielfalt von Dialekten ausgeformte gemeinsame Sprache der Roma ist das Romani/Romanes.
Sehr viele Angehörige der Minderheit werden sowohl aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als auch aufgrund ihrer sozialen Situation marginalisiert und stehen so im Schnittpunkt zweier Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung.
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