Kinder müssen beachtet und angehört werden
Auch 20 Jahre nach Verabschiedung der UNO-Kinderrechtskonvention gibt es in der Schweiz noch Mängel beim Kinderschutz. Dies steht in einem Bericht des Kinderhilfswerks Unicef Schweiz, das für mehr Respekt für Kinder plädiert.
Die Schweiz hat die Konvention 1997 ratifiziert. «Dennoch gibt es keine Strategie um sicherzustellen, dass die Konvention integral verwirklicht wird», sagt Michael Marugg von der Kinder- und Jugendorganisation Pro Juventute gegenüber swissinfo.ch.
In den vergangenen 12 Jahren habe es aber Fortschritte gegeben, wie zum Beispiel die Schaffung von speziellen Büros in grossen Städten, die sich für die Interessen der Kinder engagieren.
«Die Mängel liegen nicht in der Gesetzgebung, sondern eher in der Umsetzung», sagt Unicef-Geschäftsleiterin Elsbeth Müller gegenüber swissinfo.ch.
Ein Beispiel: Obwohl Kinder das Recht auf Anhörung in Scheidungsfällen haben, geschieht das in der Praxis ziemlich selten. Laut dem Bericht von Unicef Schweiz wird bloss in einem von zehn Fällen die Kinderstimme angehört. «Wir brauchen ein grösseres Bewusstsein und Training für die Richter.» Elsbeth Müller betont aber, den Behörden könne man kein mangelndes Interesse oder fehlenden Goodwill vorwerfen.
Föderalismus als Hemmschuh
Dennoch gibt es ernsthafte Probleme bei der Umsetzung der Gesetzgebung. Ein Beispiel: Die Konvention verlangt zum Beispiel, dass Minderjährige bei strafrechtlichen Ermittlungen getrennt von Erwachsenen untergebracht werden. Diese Ermittlungen werden in der Schweiz auf kantonaler Ebene geführt. Angesichts der relativ geringen Anzahl von solchen Ermittlungen braucht es Zeit für den Aufbau entsprechender getrennter Einrichtungen. Der Prozess ist aber in Gang.
Die mangelnde Zusammenarbeit zwischen den Kantonen ist ein weiteres Hindernis, wie Kinderrechts-Experten oft betonen. Denn viele Bereiche, die im Leben von Kindern zentral sind, inklusive Schule und Ausbildung, werden in der Schweiz auf kantonaler Ebene geregelt.
«Das föderalistische System der Schweiz erschwert eine effektive Koordination», bedauert Elsbeth Müller.
Rechtliche Hindernisse
Doch das ist nicht das einzige Problem. Das Übereinkommen gelte eben für alle Bereiche der Menschenrechte und deshalb sei es auch sehr breit angelegt, sagt Muriel Langenberger, zuständig für die Abteilung Kinder, Jugendliche und ältere Menschen im Bundesamt für Sozialversicherung.
Sie müsse ein breites Spektrum von Akteuren koordinieren, aber die Zuständigkeit des Bundes sei gesetzlich begrenzt.
«Wir können auf Bundesebene koordinieren, den Kantonen Vorschläge unterbreiten, sie bei ihren Vorhaben unterstützen und den Informationsaustausch zwischen ihnen verbessern. Aber wir können keine Massnahmen ergreifen», erklärt Langenberger.
Eine Änderung der Bundesverfassung, die dem Bund mehr direkte Einflussmöglichkeiten in Jugendangelegenheiten gäbe, würde viele Jahre brauchen. Deshalb ist man dabei, das geltende Recht zu revidieren, damit wenigstens die Rolle des Bundes geklärt wird.
Die Schwächsten erreichen
Langenberger ist sich bewusst, dass noch viel zu tun ist, um die Forderungen des Netzwerks Kinderrechte Schweiz, einer Koalition von 54 Nichtregierungsorganisationen (NGO), zu erfüllen. Ein Grossteil dieser Forderungen betrifft Kinder von Einwanderern, insbesondere von solchen ohne gültige Papiere, so genannten Sans Papiers.
Die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft zu erreichen ist eine besondere Herausforderung. Die Regierung hat wenig Geld um entsprechende Sensibilisierungskampagnen zu finanzieren. Langenberer räumt jedoch ein, dass entsprechende zielgerichtete Projekte nötig wären.
«Es ist eine Frage des Zugangs, eine Frage der Sprache. Aber es geht auch darum zu wissen, dass Informationen verfügbar sind. Viele NGOs arbeiten mit Kinderärzten und Hebammen zusammen. Auf diese Weise erreichen sie fast jedermann.»
Gefährdungen überwinden
Woher muss der Druck kommen, damit sich die Dinge ändern? Laut Marugg kann Pro Juventute nur Vorschläge machen. Er weist aber auch auf den Erfolg des im ganzen Land angebotenen Kindersorgentelefons 147 hin, das von seiner Organisation betrieben wird. Für die Anrufer seien Kantonsgrenzen irrelevant. Ginge es jedoch um die Erhöhung der finanziellen Zuwendungen, müssten 26 Kantone einzeln angegangen werden.
Vor zwei Jahren hat sich eine öffentlich-private Vereinigung gebildet. Sie brachte zwei Stiftungen mit dem Bundesamt für Sozialversicherungen zusammen. Dort werden zurzeit Ideen für ein nationales Programm zum Schutz der Kinder zusammengetragen.
«Kinderfreundliche Gemeinde»
Derweil hat Unicef Schweiz das Label «Kinderfreundliche Gemeinde» ins Leben gerufen. Die erste Gewinnerin, die am Tag der Kinderrechte offiziell bekannt gegeben wird, ist die Luzerner Gemeinde Wauwil. Dort werden die Kinder aufgefordert, aktiv am Dorf- und Schulleben teilzunehmen und für die Umwelt, in der sie gemeinsam leben, Verantwortung zu übernehmen.
Man hofft auf den Aufbau eines Netzwerkes solcher Gemeinden. «Diese Kommunen wollen Kinder nicht marginalisieren sondern sie sichtbar machen. Und dank dieser Transparenz wird man deren Situation verbessern können», erklärt Müller.
Denn letzten Endes müssen die Rechte der Kinder an den Orten umgesetzt werden, in denen sie leben.»
Julia Slater, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Etienne Strebel und Jean-Michel Berthoud)
Die Konvention trat 1989 in Kraft.
Sie wurde von 193 Staaten ratifiziert. Keine Menschenrechtskonvention erhielt mehr Zustimmung
Die USA und Somalia haben sie nicht ratifiziert, aber die Bereitschaft dazu angekündigt. Die Schweiz hat sie 1997 ratifiziert.
Die Konvention garantiert Kindern das Recht auf einen Namen, eine Nationalität, die bestmöglichsten Gesundheitsstandards sowie Schutz vor Missbrauch und Ausbeutung.
In ihrem Bericht zu 20 Jahren Kinderrechtskonvention stellt die Kinderhilfeorganisation Unicef fest, dass aufgrund des Übereinkommens zwischen 1990 und 2008 die Todesfälle bei Kindern um 28% abgenommen hätten.
Kinder sterben jedoch immer noch an vermeidbaren Krankheiten und viele leiden unter Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung.
Die Aufgaben zur Wahrung der Rechte der Kinder sind auf verschiedene Departemente und Bundesämter verteilt:
Das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) erstellt Berichte für internationale Organisationen.
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) ist nicht nur für das Straf- sondern auch für das Zivilrecht zuständig. Das EJPD beschäftigt sich auch mit der Vermittlung von Vormundschaften, Kindesentführung und internationaler Adoption.
Bundesamt für Polizei: Kinderhandel, Organisiertes Verbrechen gegen Kinder, Cyber-Pädophilie
Bundesamt für Gesundheit: Kampf gegen Alkohol- und Drogenmissbrauch, Suizidprävention.
Bundesamt für Sport: Sportförderung für Kinder und Jugendliche, Verhinderung von sexuellen Missbräuchen in Sportvereinen.
Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT): Arbeitsschutz für Lehrlinge
Bundesamt für Sozialversicherungen: Familienzulagen, Mutterschaftsurlaub, Kinderkrippen.
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