Kinder werden geliebt, aber auch marginalisiert
Die heutige Gesellschaft zeigt ein ambivalentes Verhältnis gegenüber Kindern: Innerhalb der Familie seien die Bedingungen so gut wie noch nie, sagt der Schweizer Soziologe François Höpflinger. In der Gesellschaft sei die Toleranz Kindern gegenüber jedoch gering.
Mit einer historisch tiefen Geburtenrate von 1,48 Kindern pro Frau sind Kleinfamilien zur Norm geworden, was laut François Höpflinger den Einfluss und die Macht der Kinder in den Familien begünstigt. Eltern investierten viel in ihren Nachwuchs, sowohl finanziell wie auch emotional, sagt der Familienexperte.
Höpflinger, Professor am Soziologischen Institut der Universität Zürich und Experte für soziodemografische Veränderungen, Familien und Beziehungen zwischen den Generationen, erklärt, die gesamte Struktur des städtischen Lebens sei auf Erwachsene und nicht auf Kinder ausgerichtet.
swissinfo.ch: In der Schweiz sorgt Kinderlärm immer wieder für Reklamationen. Läuft da etwas falsch in der Beziehung zwischen den Generationen?
François Höpflinger: Das kommt darauf an: Wenn wir die Beziehungen in der Familie nehmen – zwischen Eltern und Kindern oder Grosseltern und Kindern – dann sind diese sehr positiv. Wir haben – wie auch in Deutschland und Frankreich – herausgefunden, dass sich die Beziehungen zwischen den Generationen verbessert haben. Der Bericht der Weltgesundheits-Organisation zeigt auf, dass die meisten Teenager eine sehr gute Beziehung zur ihrer Mutter oder ihrem Vater haben.
Auf der gesellschaftlichen Ebene sieht es jedoch weniger positiv aus. In der Gesellschaft finden Kinder wenig Beachtung. Familien mit Kindern sind in immer mehr Gegenden eine demografische Minderheit. Die Gesellschaft ist stark erwachsenenorientiert. Für Autos gibt es mehr Platz als für Kinder.
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Werden Kinder ins Abseits verbannt?
swissinfo.ch: Die Ein-Kind-Politik in China zeigt deutliche soziologische Konsequenzen. Welche Folgen hat die freiwillige 1,5-Kind-Politik der Schweiz?
F.H.: Die Kinder haben innerhalb der Familie an Bedeutung gewonnen. Die Eltern investieren enorm viel in ihre ein bis zwei Kinder, auch ökonomisch. Weil die Kinder weniger zahlreich sind, hat die Macht der Kinder in der Familie zugelegt.
Dasselbe gilt auch für China. In der Schweiz, wenn auch nicht in allen Familien, haben die Kinder einen sehr starken Einfluss auf ihre Eltern. Das hat damit zu tun, dass Kinder sehr früh mit modernen Kommunikations-Technologien, mit Medien und der Schule in Kontakt kommen, so dass der Einfluss der Eltern auf die Erziehung der Kinder abnimmt. In vielen Familien übernehmen die Eltern älterer Kinder die Rolle eines Betreuers und Vermittlers und sind weniger die erste Erziehungs-Instanz. Eltern haben also an Macht ein Stück eingebüsst.
Eltern sind gegenüber Kindern toleranter geworden, zumindest gegenüber den eigenen, nicht unbedingt in Bezug auf andere. In der Schweiz haben Jugendliche bei der erwachsenen Bevölkerung ein sehr negatives Image, es ist noch negativer als gegenüber älteren Menschen. Das hängt damit zusammen, dass sich die Gesellschaft stark an den Erwachsenen orientiert und gegenüber der Zukunft pessimistisch eingestellt ist. Wer kein Vertrauen in die Zukunft hat, traut auch den Jungen nicht.
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Für das Recht der Kinder, Lärm zu machen
swissinfo.ch: Mehr als die Hälfte der Schweizer Schulkinder macht irgendeine Therapie. Kann es sein, dass unsere Gesellschaft Kinder überanalysiert und unnötige Therapien und Medikamente verschreibt?
F.H.: Wir investieren mehr und vielleicht zu viel in die wenigen Kinder, die wir haben. Die Toleranz gegenüber unterschiedlichem Verhalten hat abgenommen. Alle Projektionen und Hoffnungen für die Zukunft konzentrieren sich auf ein oder zwei Kinder. Und weil unsere Gesellschaft eine starke Arbeitsmoral aufweist, ist die Toleranz gegenüber von der Norm abweichendem Verhalten gesunken, nicht nur bei jungen Menschen.
Gemäss dem Bericht der Weltgesundheits-Organisation WHO von 2012 sind Schweizer Jugendliche gesünder und mit dem Leben zufriedener als ihre Altersgenossen im übrigen Europa sowie in Nordamerika.
Befragt worden waren jungen Menschen im Alter von 11, 13 und 15 Jahren in 39 Ländern und Regionen Europas und Nordamerikas. Dabei ging es um Fragen im Zusammenhang mit ihrem Gesundheitsverhalten.
Dabei stellte sich heraus, dass die Schweizer am wenigsten Probleme haben bezüglich ihrem Gewicht. Lediglich 5% der 11-Jährigen waren übergewichtig – im Vergleich zu 30% in den USA und 20% in Portugal.
Und sie schauen in der Freizeit weniger Fernsehen als Gleichaltrige im übrigen Europa: nur rund ein Viertel verbringt mehr als 2 Stunden pro Tag vor dem TV. Sie verbringen abends aber auch weniger Zeit mit ihren Freunden als die meisten ihrer Altersgenossen.
Die Studie kam auch zum Schluss, dass die Schweizer Jugendlichen ihre Schulkameraden zwar mögen – 80% bezeichneten sie als hilfsbereit – aber nur ein Drittel der Schweizer Kinder gerne zur Schule gehen.
swissinfo.ch: Kritisiert wird etwa auch, bei Kinder-Spielplätzen handle es sich um künstliche Inseln in kinderfeindlichen Städten. Stimmt das?
F.H.: Kinderspielplätze sind wie Indianerreservate. Kleine Kinder sind von der Erwachsenenwelt ausgeschlossen und spazieren nicht frei herum. Gleichzeitig werden alle Kinder relativ schnell in die Welt der Erwachsenen integriert, nicht sozial, aber durch die Kommunikationsmedien. Zehnjährige schauen die gleichen Filme wie die Erwachsenen. Im Internet haben sie Zugang zu Sexualität.
swissinfo.ch: Welche Bedeutung hat das Kinder haben für die Eltern?
F.H.: Kinder werden noch immer als ein wichtiger Bestandteil im Leben betrachtet. Frauen und Männer realisieren aber auch, dass das Aufziehen von Kindern in einem 90-jährigen Leben nur eine kurze Phase ausmacht. Aktive Mutter- oder Vaterschaft ist ein kleiner Teil des Lebens. Die Zeit danach ist länger als die Elternphase.
Der Wert von Kindern ist heute hochgradig emotional. Früher ging es um soziale Sicherheit, das Fortbestehen der Familie und um Tradition. Jetzt nimmt die gefühlsmässige Bedeutung von Kindern zu, während ihr wirtschaftlicher und ihr sozialer Wert sinkt. Ein Trend, der in China begann. Gute emotionale Beziehungen basieren auf Gleichheit, nicht auf Hierarchien. Es sind Beziehungen zwischen Gleichgestellten. Das bedeutet, dass Eltern von ihren Kindern lernen – neue Dinge, neue Lebenswege, Verantwortung.
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)
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