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«Ich konnte soviel essen wie ich wollte»

Alter Mann lächelnd mit Schwarzweiss-Foto von sich als Bub
​​​​​​​Nach seiner Zeit in der Schweiz sah der vorher unterernährte junge Gunter Wieden richtig gesund aus. swissinfo.ch

Er war damals ein acht Jahre alter, unterernährter Berliner Junge. Dann durfte sich Gunter Wieden im Jahr 1948 drei Monate lang in der Schweiz bei einer Gastfamilie richtig sattessen und vom Krieg erholen. Geblieben ist eine lebenslange Verbundenheit zur Schweiz.

«Das Land, wo Milch und Honig fliessen, so hat meine Mutter damals die Schweiz beschrieben», erinnert sich der heutige Rentner an den Sommer vor 70 Jahren. Auf der Terrasse seines Hauses unweit Berlins hat er Fotos, Bücher und Erinnerungen bereitgelegt. Sie zeugen von einer Kindheit in Berliner Kriegstrümmern und davon, wie viel gesünder der junge Gunter nach seiner Zeit in der Schweiz aussah. «Da habe ich ordentlich zugenommen», bestätigt er.

Drei Jahre nach Kriegsende lag die deutsche Hauptstadt in Trümmern, die Versorgungslage war weiterhin angespannt. Die sechsköpfige Familie Wieden lebte im britischen Sektor im vierten Stock eines halb zerbombten Hauses unter einer Art Notdach. Den Ofen hatte der Vater selbst gebaut. Lebensmittel waren streng rationiert.

Kinderzüge

44’000 unterernährte und kranke deutsche Kinder reisten zwischen 1946 und 1956 auf Einladung des Schweizerischen Roten Kreuzes zu einem dreimonatigen Erholungsaufenthalt in die Schweiz. Insgesamt kamen fast 180’000 Kinder aus ganz Europa.

Bei der Auswahl der Kinder wurden in erster Linie medizinische Kriterien berücksichtigt. Die deutschen Kinder sollten nicht älter als zehn Jahre sein, so die Vorgabe der Schweizer. Bei den Älteren befürchtete man, sie könnten von nationalsozialistischem Gedankengut beeinflusst worden sein.

Hunderte freiwillige Helfer begleiteten die Kinder von ihren Wohnorten zu ihren Gastfamilien und zurück.

Literatur: «Kinderzüge in die Schweiz. Die Deutschlandhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes 1946–1956″Externer Link, Aschendorff, Münster 2007

«Ich war völlig unterernährt», erinnert sich Gunter Wieden. Als seine Mutter dann erfuhr, dass Schweizer Familien sich auf Betreiben des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) bereit erklärt hatten, deutsche Kinder für eine Zeitlang aufzunehmen, meldete sie flugs ihren Sohn Gunter und dessen Schwester an.

Strenger Auswahlprozess

10’000 Kinder bewarben sich in Berlin, nur 450 konnten schliesslich fahren. Der Auswahlprozess war streng, aber die beiden Wieden-Kinder schafften es nach ärztlicher Begutachtung auf die begehrten Plätze.

Am 11. Juni 1948 begann für Gunter Wieden und seine kleine Schwester dann das Abenteuer Schweiz. Zwei Tage und eine Nacht lang waren die Kinder mit einem Sonderzug unterwegs, gemeinsam mit Betreuerinnen des SRK und einer freiwilligen Küchenmannschaft, die in einem Packwagen Mahlzeiten für die Kinder zubereiteten. Die Kinder schliefen auf den Sitzen. «Für mich war das wie ein Abenteuer», erinnert sich Wieden.

Als der Zug dann in Basel einfuhr, staunte er. Da waren zum einen die sauberen E-Loks, die nicht wie die Dampfungetüme in Deutschland die Luft verpesteten und ihren Russ überall hinterliessen. Viel wichtiger: Es gab genug zu essen. Nach einer Nacht auf Feldbetten im Badischen Bahnhof und einem üppigen Frühstück wurden die Kinder untersucht, desinfiziert und auf ihre Gastfamilien verteilt.

Seine Schwester wurde in Baden bei Zürich untergebracht, von dort fuhr Gunter allein mit dem Zug über Olten nach Herzogenbuchsee weiter. Seine Gastfamilie, ein Unternehmerpaar, holte ihn in einem Pontiac am Zielbahnhof ab.

«Da habe ich das erste Mal in meinem Leben in einem privaten PKW gesessen», sagt Wieden. Wenig später ass er die erste Orange seines Lebens. Ein eigenes kleines Zimmer, Käseplatten zur Nachspeise, Orangen und Äpfel, essen soviel er mochte. Der Achtjährige genoss die Fülle, die sich ihm bot.

Sparen für die Mutter

Gunter Wieden war in einer kriegszerstörten Stadt von einem halb zerbombten Bahnhof aus losgefahren und landete in einer heilen Welt. «Es war alles so sauber in der Schweiz», erinnert er sich.

Alter Mann mit Fotoalbum
Gunter Wieden mit dem Familienalbum. Aus der entbehrungsreichen Nachkriegszeit hat er leider keine Fotos. swissinfo.ch

Doch seine Gastmutter war auch streng und versuchte dem deutschen Jungen einige Tugenden mit auf den Weg zu geben. Als er die 50 Rappen, die er jeden Tag erhielt, in so lange entbehrte Schokolade investierte, rügte die Geschäftsfrau ihn: Das Geld solle er besser ansparen, um dann seiner Mutter etwas Schönes zu kaufen. «Das habe ich dann fortan auch gemacht», sagt Wieden und lacht. Von dem Ersparten brachte er seiner Mutter Stoff für eine Kittelschürze und zwei Glühbirnen zurück nach Berlin.

Heimweh hatte er nicht. «Mir ging es ja gut, und ich wusste, dass ich nur für Zeit dort in der Schweiz war.» Doch dann spitzte sich die politische Lage in Berlin dramatisch zu. Am 24. Juni 1948 begann die Berlin-Blockade, 14 Tage, nachdem er Berlin und seine Familie verlassen hatte. Die Heimfahrt schien versperrt.

Berlin-Blockade

Berlin war wie das gesamte Deutschland nach dem Krieg durch die alliierten Siegermächte in vier Sektoren aufgeteilt worden.

1948 planten die USA, Grossbritannien und Frankreich in ihren drei Zonen die Bildung eines demokratischen Staates. Sie führten eine neue Währung ein, die auch in ihren Sektoren in Berlin gelten sollte.

Daraufhin blockierte die Sowjetunion alle Zufahrts- und Versorgungswege von und nach Westberlin, die sämtlich durch die sowjetische Zone führten. West-Berlin war isoliert.

Als Reaktion starteten die Westalliierten die sogenannte Luftbrücke und versorgten die 2,2 Millionen Einwohner Westberlins über fast ein Jahr lang aus der Luft mit Lebensmitteln, Kohle und anderen Gütern. Am 12. Mai 1949 wurde die Blockade aufgehoben.

Nun sass der mittlerweile neun Jahre alte Gunter in der Schweiz fest. Keiner wusste, für wie lange, also wurde er dort erst einmal zur Schule geschickt. Erst nach Verhandlungen mit dem Internationalen Roten Kreuz in Genf durften die Kinderzüge wenige Wochen später wieder in die Heimat zurückkehren und zurück gen Süden sogar wieder Kinder mitnehmen.

Sein Leben lang präsent

Gunter Wieden kehrte am 22. September von der Schweizer Idylle in ein höchst angespanntes Berlin zurück. Lebensmittel waren knapp. Statt Ovomaltine und Milch gab es mit Wasser angerührtes Milchpulver. Und dann war da noch der für Berliner so seltsam klingende Akzent, den er sich in der Schweiz rasch angewöhnt hatte. «Was sprichst Du für eine komische Sprache», schalt ihn eine seiner Schwestern.

Auch wenn die Verbindung zu seinen Gasteltern abriss, ist Wieden bis heute dankbar für deren Grosszügigkeit. Ihm ist eine enge innere Verbundenheit zur Schweiz geblieben. 1991 reiste er allein zur 700-Jahr-Feier nach Brunnen, weil er diesen besonderen Moment miterleben wollte – und war dann ganz überrascht, wie zurückhaltend die Eidgenossen das grosse Jubiläum feierten.

Ein anderes Mal klingelte er auf der Rückreise von Italien an der Tür des ihm noch vertrauten Hauses. Doch da wohnten bereits neue Besitzer. Immer wieder fuhr er mit seiner Frau durch das Land.

2009 startete er einen neuen Anlauf und machte den Nachfolger jenes Bauunternehmens ausfindig, das seine Gasteltern damals geführt hatten. Er erhielt eine Antwort und eine Einladung. Also stellte Wieden einen kleinen Power-Point-Vortrag zusammen, fuhr nach Herzogenbuchsee und berichtete dem Altmännerverein von seinen Erlebnissen  «Ich wollte meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen», sagt er. Denn die ist auch 70 Jahre später noch gross.

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