Krankenkasse: Die Schweizer wollen keinen Systemwechsel
Das Schweizer Stimmvolk hat der Initiative zur Schaffung einer Einheitskrankenkasse mit knapp 62% Stimmen eine deutliche Abfuhr erteilt. Lediglich vier Westschweizer Kantone hiessen die Initiative gut.
932’177 der Stimmenden stimmten für die von linken Parteien sowie von Patienten- und Konsumentenverbänden lancierte Initiative. 1’512’496 lehnten sie ab. Alle Deutschschweizer Kantone und das Tessin stimmten Nein. Angenommen wurde die Initiative lediglich in den Westschweizer Kantonen Genf, Waadt, Neuenburg und Jura.
Das Volksbegehren schnitt am Abstimmungssonntag schlechter ab als in der letzten SRG-Umfrage. Dass Gesundheitsminister Alain Berset kurz vor der Abstimmung den Prämienanstieg für das kommende Jahr bekannt gab, scheint der Initiative also keinen Auftrieb verliehen zu haben.
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Die Initiative «für eine öffentliche Krankenkasse» schnitt aber besser ab als die Initiative «für eine soziale Einheitskrankenkasse», die das Volk 2007 mit 71,2% abgelehnt hatte. Diese und frühere Einheitskassen-Initiativen gingen allerdings weiter als die aktuelle Vorlage. Sie sahen neben einer Einheitskasse einkommens- und vermögensabhängige Prämien oder eine Finanzierung mit Steuern und Lohnabzügen vor.
Keine radikalen Änderungen
Diesmal hatten die Stimmberechtigten nur darüber zu befinden, ob für die Grundversicherung eine öffentlich-rechtliche Krankenkasse mit kantonalen Agenturen eingerichtet werden soll. Bei einem Ja hätte es in jedem Kanton einheitliche Prämien gegeben, die sich nach den Kosten im jeweiligen Kanton gerichtet hätten.
Zufrieden über den Ausgang der Abstimmung zeigte sich Gesundheitsminister Berset. Das Nein zu einer Einheitskasse wertete er als Unterstützung für seine Reformpolitik.
Das Stimmvolk habe zum Ausdruck gebracht, dass es das Gesundheitssystem reformieren, nicht aber radikal ändern wolle, sagte Berset vor den Medien in Bern. Es gelte, den Weg der Reformen weiter zu verfolgen.
Ob er nach dem Ja in vier Westschweizer Kantonen Einheitskassen in einzelnen Kantonen befürworten würde, liess Berset offen. Es sei an den betroffenen Kantonen, die Initiative zu ergreifen, wenn sie dies wünschten. Allerdings würde dies eine Revision des Krankenversicherungsgesetzes bedingen, und dafür brauche es eine Mehrheit im Parlament.
«Zwängerei muss aufhören»
Das überparteiliche Komitee «Nein zur Einheitskasse“ ist erfreut über das Abstimmungsergebnis. Das Schweizer Stimmvolk habe mit dem erneuten Nein zur Einheitskasse ein starkes Zeichen für die Wahlfreiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Versicherten im Land gesetzt: «Die Einheitskassen-Zwängerei der Linken hat zum dritten Mal Schiffbruch erlitten und muss nun endlich aufhören. Ohnehin sind ihre wahren Ziele die Verstaatlichung des Gesundheitswesens und einkommensabhängige Prämien.»
Krankenkassen-Aufsichtsgesetz
Nur wenige Tage vor der Abstimmung über eine Einheitskrankenkasse hat das Parlament die Aufsicht über die Krankenkassen verschärft.
Die wichtigste Neuerung: Das Bundesamt für Gesundheit als Aufsichtsbehörde erhält neue Eingriffsmöglichkeiten, darunter eine griffige Handhabe gegen zu hoch oder zu tief angesetzte Prämien.
Die Genehmigung kann beispielsweise verweigert werden, wenn die Prämien die Kosten nicht decken, unangemessen darüber liegen oder zur Bildung hoher Reserven führen. Das Gesetz definiert auch das Vorgehen für den Fall, dass eine Versicherung zu viel erhobene Prämien zurückerstatten will.
Das Problem der lästigen Werbeanrufe soll die Branche nach dem Willen des Parlaments selber lösen. Dazu erhält sie die Möglichkeit, eine Branchenvereinbarung abzuschliessen.
Neu sollen die obersten Manager einer Krankenkasse gewisse beruflichen Fähigkeiten mitbringen müssen. Die Vorschriften zur Offenlegung des Entschädigungssystems wurden im Zug der parlamentarischen Auseinandersetzung abgeschwächt: Zwar soll der Gesamtbetrag der Entschädigungen von Verwaltungsrat und Geschäftsleitung bekannt gegeben werden, ebenso der höchste auf ein einzelnes Mitglied entfallende Betrag. Namen müssen aber keine genannt werden.
Die vom Bundesrat vorgeschlagene Aufsicht über Versicherungsgruppen setzte sich nicht durch. Künftig soll die Aufsichtsbehörde aber Einblick bekommen in Transaktionen zwischen Grundversicherern und anderen Unternehmen.
Die Vorlage war lange Zeit umstritten und wurde zwischen den beiden Ratskammern hin und hergereicht. In der Herbstsession wurde sie nun buchstäblich durchs Parlament gepeitscht, um sie noch vor der Abstimmung unter Dach und Fach zu bringen.
Noch nicht vom Tisch
Für die sozialdemokratische Nationalrätin Jacqueline Fehr ist die Idee einer Einheitskrankenkasse mit dem Nein noch nicht definitiv gestorben. Eine öffentliche Krankenkasse erübrige sich erst, wenn die «Sieger ihre Versprechen wahr machen».
Die Krankenkassen müssten der Jagd auf gesunde Versicherte nun einen Riegel schieben, sagte Fehr der Schweizerischen Depeschenagentur. Dass das Parlament den Risikoausgleich Ende 2013 verfeinert habe, sei ein «wichtiger Schritt», aber noch nicht genug, um die Fehler des heutigen Systems zu beheben.
Sowohl der verfeinerte Risikoausgleich als auch das vor wenigen Tagen vom Parlament beschlossene Krankenkassen-Aufsichtsgesetz seien aber «reale Verbesserungen» – und nur dank des Drucks durch die Einheitskassen-Initiative möglich geworden. Fehr sprach deshalb von einer «erfolgreichen Kampagne».
Dass das Ja-Lager gegenüber der letzten Abstimmung über eine Einheitskasse im Jahr 2007 angewachsen ist, wertet Fehr zudem als Zeichen für einen «Vertrauensverlust der Krankenkassen in der Bevölkerung». «Die heutige Abstimmung ist alles andere als ein Erfolg für die Krankenversicherer.»
Misstrauen in der Westschweiz
Für den Waadtländer Gesundheitsdirektor Pierre-Yves Maillard hat die Westschweiz am Sonntag ihr Misstrauen gegenüber dem heutigen Gesundheitssystem ausgedrückt. Die Zustimmung zur Einheitskasse im Kanton Waadt und anderen Westschweizer Kantonen dürfe «nicht ignoriert werden».
Die Einführung von öffentlichen Krankenkassen in einzelnen Kantonen hält Maillard allerdings für wenig realistisch: «Dazu bräuchte es eine Gesetzesänderung auf nationaler Ebene – die Idee ist deshalb chancenlos.»
Allerdings ist für ihn die Idee einer nationalen Einheitskasse auch nach dem erneuten Volks-Nein noch nicht beerdigt: «Ich will den Kampf fortsetzen.» Zuerst gelte es nun allerdings, «den obszönen Lobbyismus im Parlament zu beenden», sagte der sozialdemokratische Politiker.
«Sozialistische Träume
Erfreut zeigt sich hingegen die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) über das Nein Damit habe «sich das Volk für private Krankenkassen, freie Wahl für die Versicherten und Wettbewerb ausgesprochen».
Der Souverän habe die «falschen, auf sozialistische Träume gebauten Versprechen der Initianten klar durchschaut. Mit seinem Nein bezeugt er, dass er den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen wünscht und sein Vertrauen in freiheitliche Lösungen und nicht noch mehr Staat setzt», schreibt die Partei in einer Mitteilung.
Freiheitliche Lösung
Der Verband der öffentlichen und privaten Spitäler der Schweiz (H+) begrüsst den Entscheid des Stimmvolks: Der Verband trete für freiheitliche Lösungen im Gesundheitswesen und möglichst viel Handlungsspielraum für alle Akteure ein, schreibt er in einer Mitteilung. «Das Abstimmungsergebnis zeigt, dass der Bevölkerung die Wahlfreiheit im Gesundheitswesen wichtig ist und dass sie keine weiteren Einschränkungen durch den Staat wünscht.»
Sparpotential?
Die Volksinitiative hatte zum Ziel, den jährlichen Anstieg der Krankenkassenkosten abzufedern. Die Initiative verlangte, dass die 61 privaten Krankenkassen im Land durch eine öffentlich-rechtliche Einheitskrankenkasse ersetzt werden.
Mit der Einführung einer einzigen Krankenkasse könnten rund 10% der Kosten eingespart werden, argumentierten die Befürworter der Initiative. Namentlich nannten sie die Ausgaben für die Werbung und Administration. Zusätzlich könnten durch koordinierte Versorgungsprogramme und mehr Prävention mittel- und langfristig rund zwei Milliarden Franken pro Jahr eingespart werden.
Falsche Lösung?
Die Gegner des Systemwechsels – die Regierung und die bürgerliche Mehrheit des Parlaments – bezeichneten eine Einheitskasse als falsche Lösung. Aus ihrer Sicht wirkt der Wettbewerb zwischen den Kassen dämpfend auf den jährlichen Prämienanstieg. Zudem würde eine Einheitskasse zum Ende der freien Arztwahl und zu einer zentralisierten und schwerfälligen Bürokratie führen.
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