Wer bezahlt die Ambulanz in der Schweiz?
Schweizer Patienten müssen Ambulanzfahrten meist aus der eigenen Tasche bezahlen – und das kann teuer werden. Nun wird diskutiert, ob solch lebensrettende Fahrten über die Grundversicherung abgerechnet werden sollten.
Georges Vittoz erinnert sich noch gut an die 1990er-Jahre, als eine Ambulanzfahrt einen Patienten 200 Franken kostete. Heutzutage kann die Rechnung für einen medizinischen Transport schnell einmal ein Mehrfaches betragen. Und der grösste Teil davon muss aus der eigenen Tasche berappt werden. Einige Patienten bezahlen deshalb ihre Ambulanzrechnungen in Monatsraten. Andere verzichten ganz einfach auf einen Transport.
Vittoz war damals Vorsteher der Ambulanzdienste für den französischsprachigen Kanton Waadt. Als Beispiel nennt er Patienten mit chronischen Erkrankungen, die regelmässige medizinische Transfers benötigen.
An die Substanz
«Die erste Rechnung wird zu 50% von der Grundversicherung übernommen. Aber falls jemand keine Zusatzversicherung hat, müssen die nächsten Rechnungen vollständig selber übernommen werden», sagt er. «Also rufen sie die 144 (Sanitätsnotruf) nicht mehr an.»
Für den Hobbytaucher Alfred Suter, der nach einem Seetauchgang im Kanton St. Gallen per Ambulanz ins Spital transportiert werden musste, kostete die Fahrt mehr als 2400 Franken, die Hälfte seines Monatseinkommens, wie der dem Schweizer Fernsehen SRFExterner Link erzählte. Er stottert die Kosten jetzt in monatlichen Raten ab.
Laut einer Untersuchung von 2014Externer Link kostet eine einzige Ambulanzfahrt mit einem behandelnden Arzt im Fahrzeug in der Schweiz je nach Kanton zwischen 850 und 1900 Franken. Zwar übernimmt die Grundversicherung die Hälfte der Kosten einer Ambulanzfahrt, aber nur bis zu 500 Franken pro Jahr. Der Grund: Das Krankenversicherungs-Gesetz stellt Rettung und Transport nicht auf eine Stufe mit ambulanten Diensten wie Arztbesuchen.
Gesetz hinkt Praxis hinterher
Für den Rest müssen die Patienten selber aufkommen, was sich schnell summieren kann, wenn sie im Laufe eines Jahres mehrere Ambulanzfahrten benötigen. Derweil kosten Luftrettungen in den Alpen durch die Rettungsgesellschaft Rega lediglich 30 Franken pro Jahr (siehe Kasten).
«Wir retten Leben, aber das Gesetz anerkennt unsere Arbeit nicht als solche an.»
Georges Vittoz
Der Transport per Ambulanz «ist einer der wenigen Sektoren des Schweizer Gesundheitssystems, wo der Zugang zur Gesundheitsversorgung stark behindert wird», sagt Vittoz. «Wir retten Leben, aber das Gesetz anerkennt unsere Arbeit nicht als solche an.»
Nun verlangen Vittoz und seine Kollegen vom Interverband für RettungswesenExterner Link (IVR), der Dachorganisation der Rettungsdienste, Änderungen in den 20 Jahre alten gesetzlichen Bestimmungen. Ihrer Meinung nach haben diese nicht mit der Entwicklung der Soforthilfe Schritt gehalten – oder mit der Inflation.
Wer sich bei einer Wanderung in den Alpen verletzt und Such- und Rettungskräfte beansprucht, erhält von der Grundversicherung die gleiche Kostendeckung wie bei einem Ambulanztransport: 500 Franken pro Jahr oder bis zu 5000 Franken für eine Notfallrettung, falls das Leben in Gefahr ist.
Weil aber die Luftrettung sehr teuer werden kann, zahlen rund 3,2 Millionen Menschen in der Schweiz einen jährlichen Gönnerbeitrag an die Schweizerische RettungsflugwachtExterner Link (Rega). Für einen Mindestbeitrag von 30 Franken pro Person und Jahr verzichtet die Rega bei einer Notfallrettung auf Gebühren, die nicht von Gesundheits- oder Unfallversicherungen gedeckt werden.
Eine Rettung in gebirgigen oder abgelegenen Gebieten kommt häufig vor: 2017 wurde die Rega durchschnittlich alle 33 Minuten zu einem Einsatz gerufen. Glücklicherweise können auch ausländische Gäste, die Wandern oder Skifahren gehen möchten, Gönner der RegaExterner Link werden, um für eine mögliche Rettung innerhalb der Landesgrenzen abgesichert zu sein.
Gesetz weit weg von der Realität
Carlo Casso ist Vorstandsmitglied des IVR. Für ihn liegt das Problem in der Gesetzgebung zur Grundversicherung, die vor über zwei Jahrzehnten erlassen wurde.
Damals galten Ambulanzfahrten eher als Transportdienste mit minimalem Versicherungsschutz statt als medizinische Notwendigkeit. In letzteren Fällen aber werden die Kosten in erster Linie von der obligatorischen Grundversicherung getragen.
Laut Casso hat sich die Situation stark verändert, angefangen mit der Professionalisierung der Rettungsdienste. Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter müssen nun 5800 Stunden Ausbildung absolvieren und in der Lage sein, den Patienten eine ambulante Versorgung anzubieten. Zudem sind sie verpflichtet, in 90% der Fälle innerhalb von 15 Minuten zu reagieren.
«Sie arbeiten in Notfall-Situationen, wo Qualität und Geschwindigkeit entscheidend sind, um Menschen am Leben zu erhalten oder sie wiederzubeleben», sagt Casso. «Dennoch gelten Rettungssanitäter nicht als medizinische Fachkräfte.»
Eine weitere Entwicklung war die Schaffung einer zentralisierten Nummer für den Sanitätsnotruf (144), die eine angemessene Einschätzung durch geschultes Personal sicherstellt, so dass Ambulanzen nur dann eingesetzt werden, wenn dies für notwendig erachtet wird.
Die grössten Änderungen allerdings gingen zu Lasten der Patienten: Die Obergrenze von 500 Franken für medizinische Transporte (oder 5000 Franken für Notfall-Transporte) wurde 1995 festgeschrieben. Diese Zahl hat wenig Ähnlichkeit mit den realen Kosten von heute.
«Die derzeitigen gesetzlichen Bestimmungen sind völlig überholt», sagt Vittoz. «Wenn man das Gesetz interpretiert, bedeutet das, dass die Krankenkassen im Vorteil sind.»
Mehr
Versicherungen
Vittoz und Casso anerkennen, dass ein qualitativ hochstehendes Rettungssystem, das zu jeder Tages- und Nachtzeit schnell vor Ort ist, Geld kostet. Doch sie glauben nicht, dass die Patientinnen und Patienten den Grossteil der finanziellen Last tragen sollten.
«Die Kantone und Gemeinden sollten die Betriebskosten für diese Rettungsdienste decken, wie sie es bei Polizei und Feuerwehr auch tun», sagt Casso. «Patienten sollten nur die Kosten tragen müssen, die während einer Intervention entstehen.»
«Rettung» in Sicht?
Seit der Schweizer PreisüberwacherExterner Link 2014 in einer Analyse zeigte, wie hoch und unterschiedlich die Kosten für medizinische Transporte im Land sind, wurden die Forderungen nach Veränderung lauter.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erklärte, es habe mehrere Treffen mit Gesundheitsexperten und Versicherungsgesellschaften zur Diskussion möglicher neuer Massnahmen gegeben.
«Ein besonderes Thema ist, wie wir Daten über Kosten und Dienstleistungen sammeln können, damit wir eine korrekte Einschätzung der Beiträge [von Patienten und der Grundversicherung] machen können», sagt BAG-Sprecher Grégoire Gogniat.
Kantönligeist
Die Aufgabe wird durch das föderalistische System der Schweiz erschwert. Den Kantonen steht gegenwärtig frei, wie sie ihre Rettungsdienst-Transporte und die Gebühren dafür strukturieren.
Deshalb bestimmen unterschiedliche Gebührenmodelle die Endkosten für die Patienten in der Schweiz. So können vorbestellte Ambulanzen in einigen Landesteilen bis zu drei Mal teurer sein als in anderen, wie die Studie von 2014 zeigte. Für viele muss diese Diskrepanz ein Ende haben.
Mehr
Der Mann, der die Schweiz billiger machen will
«Wir sollten im ganzen Land ein einheitliches System zur Gebührenberechnung haben, damit der Preis nicht davon abhängt, wo jemand lebt», sagt Preisüberwacher Stefan Meierhans.
Ein einheitliches Gebührenmodell würde zu mehr Transparenz führen und sicherstellen, dass die Gebühren auf die gleiche Art abgerechnet werden.
Sowohl die Rettungsdienste wie auch die Versicherungsgruppen stimmen zu, dass dies wünschenswert wäre. Doch sie bleiben betreffend anderer Massnahmen uneinig.
Der Interverband für Rettungswesen setzt sich für Gesetzesänderungen ein, damit der medizinische Transport und der Einsatz von Rettungskräften ähnlich wie ambulante Dienste behandelt werden.
In die Grundversicherung
Das würde bedeuten, dass die meisten Kosten nicht mehr vom Patienten, sondern von der Grundversicherung übernommen würden. Der Verband legte den Bundesbehörden kürzlich einen konkreten Vorschlag zur Gesetzesänderung vor.
Die Branchenorganisation der Schweizer Krankenversicherer, SantésuisseExterner Link, hingegen konzentriert sich auf die Preise. So sollen die gleichen Arten von Dienstleistungen von medizinischen Transportanbietern im ganzen Land auf der Grundlage von Gebühren abgerechnet werden, die näher am nationalen Durchschnitt liegen.
«Wir erachten es als effizienter, die Preise der Dienstleitungen an sich anzupassen, statt die Kostendeckung vom Patienten zur Versicherungsgesellschaft überzuwälzen, weil letzteres einen Einfluss auf die Prämien haben würde», sagt Santésuisse-Mediensprecher Christophe Kaempf.
Der Preisüberwacher seinerseits hat die kantonalen Behörden und Verbände angesprochen und ein einheitliches Gebührenberechnungs-System vorgeschlagen. Meierhans ist optimistisch, dass «Rettung» für die Patienten naht. «Ich hoffe, dass wir bis Ende dieses Jahrzehnts, bis spätestens 2020, einen Schritt weiter sein werden», sagt er. «Aber in der Schweiz braucht alles seine Zeit.»
96 – Rettungsdienste
2500 – Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter
1200 – Einsätze pro Tag, im Durchschnitt
70 – Prozentsatz der Notfalleinsätze
80 – Durchschnittliche Dauer eines Einsatzes, in Minuten
33 – Durchschnittlich zurückgelegte Distanz, in Kilometern
50 – Prozentsatz der Klientinnen und Klienten über 65 Jahre
20 – Prozentsatz der Gesamtbevölkerung über 65 Jahre
(Quelle: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium, 2016Externer Link)
(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch