Krebs: Neue Zahlen, übliche Bekämpfung
In der Schweiz fordert Krebs trotz grossen medizinischen Anstrengungen weiterhin viele Opfer. Einige Tumorarten sind laut der neuesten Statistik sogar häufiger als der europäische Durchschnitt. swissinfo.ch hat mit einem Experten gesprochen.
Krebs ist in der Schweiz – nach Herz-Kreislauf-Krankheiten – die zweithäufigste Todesursache: Bei den Männern sterben 30%, bei den Frauen 23% daran. Dies sind Ergebnisse aus der vom Bundesamt für Statistik (BFS), dem Nationalen Institut für Krebsepidemiologie und Registrierung (NICER) und dem Schweizer Kinderkrebsregister (SKKR) herausgegebenen Publikation über Krebs in der Schweiz.
swissinfo.ch hat mit Giorgio Noseda, Ex-Präsident der Krebsliga Schweiz und Mitglied des NICER, gesprochen.
swissinfo.ch: Im Vergleich mit 40 europäischen Ländern liegt die Schweiz beim Auftreten neuer Krebserkrankungen im oberen Mittelfeld, insbesondere bei Hautmelanomen, Brustkrebs und Prostatakarzinomen. Wie ist das zu erklären?
Giorgio Noseda: Zur Zeit gibt es dazu keine Erklärung. Wir können nur Hypothesen formulieren. Zum Beispiel hängt die grössere Anzahl von Prostatakarzinomen vermutlich mit der Tatsache zusammen, dass es in der Schweiz wegen der hohen Qualität des Gesundheitssystems im Vergleich zu anderen Ländern eine Art «Überdiagnosen» gibt. Im übrigen sind viele Menschen alt, denen diese Krankheit diagnostiziert wird, und sie sterben aus anderen Gründen.
Beim Hautmelanom erklärt sich das vermutlich damit, dass Schweizer einen vermehrten Hang haben, sich ohne den nötigen Schutz der Sonne auszusetzen. Beim Brustkrebs könnte der Grund eine höhere Zahl von Hormontherapien in der Menopause als in anderen Ländern sein.
swissinfo.ch: In welchen Bereichen der Krebsbekämpfung wurden in den letzten Jahren die grössten Anstrengungen auf der Ebene der Prävention und der Heilung unternommen?
G.N.: Auf Präventionsebene hat man sich auf die allgemeinen Empfehlungen der Krebsliga Schweiz gestützt: Das Rauchen aufgeben, weniger Alkohol und rotes Fleisch konsumieren, mehr Früchte und Gemüse essen, physische Aktivität.
In der Schweiz hat man im weiteren viel in die Früherkennungsmethoden investiert. Ein Beispiel: Alle zwei Jahre die Mammografie für alle Frauen über 50 Jahren. Dies erlaubt, Tumorformen in einem früheren Stadium zu erfassen und diese auch besser heilen zu können. Dazu ist zu sagen, dass Brustkrebs in der Schweiz zugenommen, die Sterblichkeit daran aber gleichzeitig abgenommen hat.
Ein weiteres Beispiel ist Gebärmutterhalstumor: Dank Früherkennungsmethoden kann zum richtigen Zeitpunkt eingegriffen und eine Weiterentwicklung des Tumors verhindert werden. Dasselbe gilt für Darmkrebs: Dank vermehrter Darmspiegelungen wird der Tumor früh erkannt. So kann ein chirurgischer Eingriff mit grösseren Erfolgschancen gemacht werden.
swissinfo.ch: Sie haben die hohe Qualität des Schweizer Gesundheitssystems erwähnt. Was bedeutet das konkret bei der Krebsbekämpfung?
G.N.: In der Schweiz gibt es keine anderen Heilungsmethoden als in anderen Ländern. Der Heilungsstandard ist auf internationaler Ebene überall derselbe: Operation, Radiotherapie, Chemotherapie oder eine Kombination der drei Methoden.
In der Schweiz werden diese Standards jedoch minuziöser, flächendeckender angewendet, und die Resultate sind erfolgreicher als jene in Osteuropa, aber auch jene in den Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Italien.
In der Schweiz gibt es nicht nur ein nationales Krebsforschungszentrum, wie das der Fall ist in anderen Ländern. Neben den Universitätsspitälern gibt es bei uns auch verschiedene kantonale Kompetenzzentren für bestimmte Tumorarten. Es existieren also hochqualitative Spitäler in allen Regionen des Landes, was den Zutritt für Patienten erleichtert.
swissinfo.ch: Welches ist in den nächsten Jahren die wichtigste «Baustelle», die es in der Krebsbekämpfung zu überwinden gilt?
G.N.: In der Schweiz erkranken jedes Jahr vier von zehn Personen an Krebs. Rund 16’000 sterben. Deshalb konzentrieren sich alle Akteure in diesem Bereich auf die Schaffung eines nationalen Krebsbekämpfungs-Programms.
Grundpfeiler dieses Programms, das kommenden März oder April veröffentlicht werden soll, ist die Epidemiologie. In anderen Worten: Es braucht ein detailliertes Bild der «Realität Krebs», um dessen Ursachen und Präventivmassnahmen zu verstehen und die wirksamsten Therapien zu definieren.
Der 1938 geborene Giorgio Noseda studierte an der Universität Bern und spezialisierte sich auf Kardiologie und Innere Medizin. Er war Chefarzt des Regionalspitals Beata Vergine in Mendrisio und danach des Spitals Civico in Lugano. Noseda war auch Medizinprofessor an der Universität Bern.
Der Tessiner Arzt war auch Präsident der Krebsliga Schweiz (1989-1992), der Stiftung Krebsforschung Schweiz KFS (1990-2006) und von Oncosuisse (1999-2006). Seit 2000 ist er Präsident des Forschungsinstituts für Biomedizin in Bellinzona.
Noseda ist ferner an der Gründung des Nationalen epidemiologischen Forschungsinstituts für Krebs beteiligt. Das Institut soll die Risikofaktoren und Auswirkungen der Tumore in der Schweiz erforschen. Auch bei der Biobank Suisse ist er engagiert, eine Stiftung zur Förderung der Forschung und zur Schaffung eines Daten- und Materialstudienarchivs für Humanmedizin.
In der Schweiz erkranken im Vergleich zum Ausland relativ viele Personen an bestimmten Krebsarten – so etwa an Brust-, Hoden- und Prostatakrebs oder an einem Hautmelanom. Bei den anderen Krebsarten liegt die Schweiz im europäischen Mittel.
Die Sterblichkeit liegt beim Prostatakrebs und dem Hautmelanom leicht über dem europäischen Durchschnitt. Tiefe Sterblichkeitsraten sind im europäischen Vergleich beim Gebärmutterhals- und dem Magenkrebs zu verzeichnen.
Die Überlebensrate von Krebskranken ist in der Schweiz aber deutlich höher als in den anderen europäischen Ländern.
In der Schweiz bestehen punkto Krebshäufigkeit einige regionale Unterschiede. Lungenkrebs und Hals-Nasen-Ohren-Krebs, die mit Tabak- und Alkoholkonsum in Zusammenhang stehen, sind in der Westschweiz und im Tessin häufiger.
Auch die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken, ist in der lateinischen Schweiz höher. Das Risiko, daran zu sterben, ist hingegen in der Deutschschweiz höher. Hodenkrebsinzidenz ist besonders in der Region Basel überdurchschnittlich hoch.
(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)
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