Stillen in der Schweiz: Mythos und Realität
95% der Mütter stillen ihre Neugeborenen. Doch das Stillen ist von zahlreichen Vorurteilen behaftet: "Du hast nicht genügend Milch" und "das Stillen wird Deine Brüste ruinieren" oder auch, "eine gute Mutter stillt ihr Kind", hört man etwa. swissinfo.ch hat mit zwei Expertinnen über das Stillen in der Schweiz gesprochen.
Katrin Berger und Margrit Hagen sind zertifizierte StillberaterinnenExterner Link und arbeiten in der Frauenklinik des Universitätsspitals BernExterner Link (Inselspital). Die beiden sind zudem Hebammen mit über 30 Jahren Berufserfahrung. Sie kennen die Gefühle, Überlegungen und Sorgen der Mütter bei der Ernährung ihrer Neugeborenen aus erster Hand.
Ihre Erfahrung diente ihnen auch in ihrer Tätigkeit als Auditorinnen zur Vergabe des Labels «Babyfreundliche SpitälernExterner Link«. Es steht für von der Weltgesundheitsorganisation (WHOExterner Link) und dem Kinderhilfswerk (UNICEFExterner Link) festgelegte Qualitätskriterien, denen in der Schweiz heute 27 Spitäler entsprechen.
swissinfo.ch: Wie kommt die Schweiz den UNO-Empfehlungen zur Förderung des Stillens nach?
Katrin Berger: 95% der Mütter stillen ihr Kind in den ersten LebenstagenExterner Link. 1992 haben UNICEF und die WHO die Zertifizierung «Babyfreundliche Spitäler» eingeführt. Diese stiess in der Schweiz auf offene Ohren.
Zwar haben nicht alle Wöchnerinnenstationen das Ziel, die Zertifizierung zu erhalten – vor allem wegen der Kosten (rund 10’000 Schweizer Franken). Doch folgen die meisten den «Zehn Schritten zum erfolgreichen Stillen» der UNO. Darüber hinaus übernimmt die obligatorische Krankenversicherung die Kosten für drei Stillberatungen. Das wirkt sich auch auf positiv auf das Stillen aus.
swissinfo.ch: Wie lange stillen Mütter in der Schweiz im Durchschnitt?
Margrit Hagen: Laut einer 2014 veröffentlichten StudieExterner Link 31 Wochen. In der Schweiz wie auch in anderen Industrieländern stillen Mütter mit höherem Bildungsniveau ihre Kinder länger. In den Entwicklungsländern passiert das Gegenteil.
swissinfo.ch: Warum braucht es in der Schweiz eine Stillberatung?
K.B.: Die Gesellschaft hat sich verändert. Früher wurde das Wissen über das Stillen in der Familie weitergegeben, unter Schwestern. Die Unterschiede zwischen den Generationen waren nicht so ausgeprägt.
Heute sind wir eher Einzelgänger. An öffentlichen Orten sieht man weniger stillende Mütter. Mütter suchen professionellen Rat. Das Stillen ist ein Lernprozess, der Zeit braucht.
swissinfo.ch: Gibt es Themen in der Stillberatung, die immer wieder auftauchen?
M.H.: Zu den wiederkehrenden Themen gehören Schmerzen beim Stillen, wunde Brustwarzen, Milchstau, Brustentzündung, Angst vor zu viel oder zu wenig Milch, Teilstillen, Abstillen, Still-Rhythmus, manuelles oder maschinelles Abpumpen.
«Eine gute Beraterin unterstützt eine Mutter, die nicht stillen will.»
Katrin Berger, Stillberaterin
swissinfo.ch: In sozialen Netzwerken fragen Mütter nach einer «guten» Stillberaterin. Wonach suchen sie konkret?
K.B.: Mütter suchen nach Antworten auf ihre individuellen Bedürfnisse und vor allem, dass man sie nicht zum Stillen zwingt. Eine gute Beraterin unterstützt eine Mutter, die nicht stillen will.
Unsere Begleitung besteht im Wesentlichen darin, den Willen der Frau und die Bedürfnisse des Babys zu unterstützen, ihre Beziehung zu stärken und ihr Wohlbefinden zu fördern. Wir weisen auch darauf hin, dass es keine «schwarzen oder weissen» Lösungen gibt, sondern Zwischenoptionen.
Es geht um die Übermittlung korrekter Informationen für jeden einzelnen Fall. Auf diese Weise kann jede Mutter eine fundierte Entscheidung treffen, frei von Mythen.
swissinfo.ch: Es gibt also in der Schweiz noch Mythen über das Stillen?
M.H.: Ja, in gewissen familiären Umfeldern kommt es noch zu Bemerkungen, welche die Mutter verunsichern können. Zum Beispiel, dass ihre Milch nicht gut sei, dass das Baby an Gewicht verliere und die Mutter ihm besser Milchpulver geben solle. Oder, dass die Mutter durch das Stillen ihre Brüste ruinieren werde.
Auch glauben viele Mütter, dass das Stillen eine vererbte Fähigkeit sei. Sie sagen: «Meine Mutter konnte nicht stillen, deshalb kann ich das auch nicht.» Eine bestimmte Anatomie kann ein Hindernis sein, aber es gibt Lösungen. Einige Frauen glauben auch, dass sie bei einer Brustinfektion oder bei der Einnahme eines Medikaments abstillen müssen. Das stimmt nicht.
«Auf dem Papier existiert die Möglichkeit des Stillens während der Arbeitszeit. Aber in der Praxis steckt die Schweiz noch in den Kinderschuhen.»
Margrit Hagen, Stillberaterin
swissinfo.ch: Interessieren sich Wissenschaft und Gesellschaft fürs Stillen?
K.B.: Früher interessierte sich die Wissenschaft nicht dafür. Die ersten Erkenntnisse über das Stillen kamen aus der Veterinärmedizin. Zum Beispiel, wie man eine Brustinfektion behandelt. So verfügten wir über erste Erkenntnisse, die sich auf den Menschen übertragen liessen.
Heute gibt es Forschung und Ausbildung, aber es fehlt an grösserem Interesse in Teilen der Gesellschaft, um das Stillen als sozialen Beitrag und nicht als Belastung anzusehen.
swissinfo.ch: Seit 2014 gibt es in der Schweiz ein Gesetz, welches das Stillen während der Arbeitszeit erlaubt.
M.H.: Ja, auf dem Papier existiert diese Möglichkeit, aber in der Praxis steckt die Schweiz noch in den Kinderschuhen. Auch das Stillen an öffentlichen Orten wurde vergessen.
Heute sind immer noch die Bilder von unbedeckten Brüsten als sexuelles Symbol vorherrschend, nicht aber als Lebensquelle, als Nahrung. Und in einer Gesellschaft, deren Mitglieder eine unflexible Struktur und Unabhängigkeit verteidigen, kommt es oft schnell zum Abstillen.
Im Allgemeinen kann sich eine Frau nicht vorstellen, ihre Milch auf der Arbeit abzupumpen und sie später ihrem Kind zu geben oder mit ihren Vorgesetzten über das Stillen nach der Rückkehr zur Arbeit zu sprechen.
swissinfo.ch: Haben wir die Ernährungsfunktion der Brust vergessen?
K.B.: Stillen war schon immer eine intime Angelegenheit, obwohl wir der Meinung sind, dass sich die Rolle der Frau im öffentlichen Leben verändert hat. Welchen Wert hat das Stillen eines Babys in der Gesellschaft? Das Stillen wird nicht mehr als ein Akt im Einklang mit unserer Spezies angesehen.
Wir glauben, dass etwas im kollektiven Bild der menschlichen Brust verloren gegangen ist. Unser Wunsch ist, dass sich die Menschen wieder bewusst werden, dass Muttermilch die erste Nahrung des Menschen ist. Und dass Frauen mehr Zeit mit ihren Babys verbringen können, nicht nur in den ersten 14 Wochen des Mutterschaftsurlaubs.
Die seit 2014 geltende GesetzgebungExterner Link, die in Wirtschaftskreisen heftig diskutiert wird, legt das Recht auf Stillen während der Arbeitszeit fest, bis das Kind ein Jahr alt wird.
Die Mutter kann ihre Milch abpumpen oder ihr Baby am Arbeitsplatz oder draussen, zu Hause oder in der Kindertagesstätte stillen.
Die bezahlten Stillpausen sind entsprechend der Dauer des Arbeitstags begrenzt:
≤ 4 Arbeitsstunden: 30 Minuten
> 4 Arbeitsstunden: 60 Minuten
> 7 Arbeitsstunden: 90 Minuten
(Übertragung aus dem Spanischen: Kathrin Ammann)
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